Recruiting

Das Phantom im (elektronischen) 
Briefkasten beschäftigt die Arbeitswelt

Anonyme Bewerbungen, die in den USA schon lange gang und gäbe sind, beginnen nun auch in EU-Ländern Fuss zu 
fassen. Trotz einiger Pilotversuche in der Schweiz können hierzulande die wenigsten Firmen und HR-Fachleute etwas 
damit anfangen. Zu zeitaufwändig, täuschend und mehr Skepsis als Neugier weckend – so lauten die Urteile.

Die Personalwelt in Deutschland steht Kopf. Der Grund: Deutsche Post, Telekom, L’Oréal, Procter & Gamble sowie Mydays akzeptieren anonyme Bewerbungen. Ab sofort suchen sie gesichtlose Bewerbende ohne Name, Adresse, Geburtsdatum oder andere private Informationen. Denn, was wünscht sich ein guter Personalrekrutierer? Motivierte Kandidaten mit passenden Qualifikationen und Leistungsausweis. Das ist nicht etwa Wunschdenken, 
sondern die Aussage des französischen Arbeitsministers Xavier Darcos, eines grossen Befürworters von anonymen Bewerbungen. In Frankreich läuft seit knapp einem Jahr bei 50 grösseren Unternehmen ein Versuch mit «neutralisierten» Lebensläufen von Bewerbenden.

Sinnvoll für die Besetzung von 
Lehrstellen – und für die anderen?

Dass neben den USA und Frankreich nun auch in Deutschland auf anonyme Stellenbewerbungen gesetzt wird, ist einer Initiative der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) sowie dem deutschen Bundesfamilienministerium zu verdanken. Diese Stellen sind der Meinung, dadurch werde die Chancengleichheit erhöht. Die ADS-Leiterin Christine Lüders ist gar überzeugt «dass wir mit den Ergebnissen unseres Pilotversuchs weitere Unternehmen von den Vorteilen der Vielfalt und Diskriminierungsfreiheit überzeugen können». Dezidiert anders sieht dies der Bundesverband der Personalmanager, der sich klar gegen diese Initiative ausspricht. Ein Zwang zu anonymisierten Bewerbungen 
verhindere Diskriminierung lediglich sym
bolisch und verteuere und verzögere die Personalgewinnung.

Zu einem ähnlichen Schluss kam auch die Migros Genf, die bereits im Frühling 2006 ein Pilotprojekt «Anonyme Bewerbungen» durchgeführt hat. Gemäss dem Projekt-Schlussbericht sind anonyme Dossiers in der Bearbeitung viel zeitaufwändiger und der Mehrwert gering. Dies obwohl das Auswahlverfahren strenger und objektiver ist. Für Hans-Rudolf Castell, Leiter HR-Management bei der Migros, steht fest: «Anonyme Bewerbungen machen keinen Sinn.» Für die grösste Schweizer Arbeitgeberin sei es ausschlaggebend für eine Anstellung, dass eine Person die Ausbildung sowie die Erfahrung für eine ausgeschriebene Stelle mitbringe. «Aufgrund dieser Politik ist es für uns unabdingbar, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat die Identität offenlegt.» Diskriminierungen von Personen, so Castell, seien im Rahmen der Personalpolitik sowieso nicht gestattet.

Allerdings wurden in der Schweiz auch schon positive Erfahrungen mit anonymen Bewerbungsprozessen gemacht. So konnte der Kaufmännische Verband Schweiz (KV Schweiz) 2008 nachweisen, dass ausländische Jugendliche deutlich höhere Chancen auf eine Lehrstelle haben, wenn sie sich anonym präsentieren können. Dennoch hat das Projekt bis heute keine Nachahmer gefunden. Die Website für anonyme Bewerbungen im kaufmännischen Bereich existiert zwar weiterhin, wird aber nicht mehr bewirtschaftet.

Bei der Besetzung von Lehrstellen seien anonymisierte Bewerbungen durchaus sinnvoll, sagt Ruth Derrer Balladore, Geschäftsleitungsmitglied des Arbeitgeberverbands. «Das gilt aber nicht für erfahrene Berufsleute, da täuscht die anonyme Bewerbung etwas vor.»

Etwas positiver eingestellt ist Martina Zölch, stellvertretende Leiterin des Instituts für Personalmanagement und Organisation an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). «Ich finde es richtig, dass sich Unternehmen grundsätzlich mit anonymisierten Bewerbungen auseinandersetzen.» Sie spricht von einer guten Lernerfahrung, bei der die Firmen ihre eigene Unternehmens- und Rekrutierungskultur besser kennenlernen. «Allerdings», so Zölch, «haben diese Versuche wohl eher experimentellen Charakter.» Und sie ergänzt: «Anonyme Bewerbungen könnten ein gutes Mittel sein, um der immer offensichtlicher werdenden Personalknappheit zu begegnen.» Dies deshalb, weil dadurch die Wahrscheinlichkeit einer zu homogenen Bewerbergruppe gesenkt werden könne. «Denn die Dossierauswahl stellt hier tatsächlich ein Nadelöhr dar».

Trotzdem zeigen auch global tätige Schweizer Unternehmen wie Nestlé keinerlei Interesse an anonymisierten Bewerbungsdossiers. «Diese erachten wir weder als notwendig noch als wünschenswert. Alle Bewerber werden gleich behandelt, was zählt, ist die Person und deren Eignung für die Stelle», sagt Pressesprecher Philippe Oertlé. «Nichtdiskriminierung ist ein wichtiger Wert für Nestlé, der sich in unserer Firmenpolitik und den Reglementen niederschlägt.» Die HR-Mitarbeitenden seien die Botschafter dieser Werte und seien ausgewählt und ausgebildet in Bezug auf Integrität und absolut nichtdiskriminierendes Verhalten und Handeln.

Einsatz für die Verschiedenheit der Menschen in den Unternehmen

Dass die anonyme Bewerbung hierzulande wohl kaum ernsthaft Fuss fassen wird, hat gemäss Fachleuten zwei Gründe. «Anonyme Schreiben wecken bei uns eher Skepsis denn Neugier», erklärt Martina Zoelch. «Die Schweizer Bewerbungskultur räumt dem Informationsbedürfnis der Beteiligten grosse Bedeutung ein».

Eine noch wichtigere Rolle dürfte die gesetzliche Lage spielen. «Die Schweiz kennt kein Antidiskriminierungsgesetz», betont Ruth Derrer Balladore vom Arbeitgeberverband. Und weil ein solches zum Beispiel in Deutschland existiert, bieten anonyme Bewerbungen Unternehmen auch einen gewissen Schutz vor Klagen. Trotz geringem Interesse könnten die Versuche in Frankreich und Deutschland aber auch auf die Schweizer Arbeitswelt Einfluss nehmen. Dies insofern, als dass sich die Arbeitgeber vor allem auch im Zuge der demografischen Entwicklung des Problems möglicher Diskriminierung bei der Stellensuche bewusst werden und sich so für die Verschiedenheit im Unternehmen und die daraus resultierenden wirtschaftlichen und menschlichen Vorteile einsetzen.

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Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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