Der erschöpfte Mensch

Ein Geldtopf für schnelle Hilfe

Erkrankte Mitarbeiter rasch wieder in den 
Arbeitsprozess integrieren und Anzeichen von 
psychischen oder körperlichen Problemen 
rechtzeitig erkennen – das will das Pilotprojekt 
FER. Sechs Firmen haben sich daran beteiligt, 
darunter die Stämpfli AG. Sie glaubt an die 
Zukunft des Projekts. Als besonders hilfreich 
hat sich der Finanzierungspool erwiesen, 
der Sofortmassnahmen ermöglicht.

Seit einem Bandscheibenvorfall vor zwanzig Jahren hat Herr X Rückenschmerzen. Mal mehr, mal weniger. Nachdem er seiner Tochter bei einem Umzug geholfen hatte, wurde das Sitzen fast unerträglich. Sein Arbeitgeber, die Firma Stämpfli AG, suchte nach Lösungen, um ihm dabei zu helfen, den Büroalltag möglichst schmerzfrei zu meistern.

Ein Stehpult hätte Herrn X entlastet, doch die Abklärungen mit den Versicherungen dauerten. Da die Stämpfli AG am Pilotprojekt FER beteiligt ist, konnte sie auf dessen Finanzierungspool zurückgreifen. FER steht für Früherfassung und Reintegration. Die Idee ist, krankheitsgefährdete Mitarbeiter – mit psychischen oder körperliche Leiden – frühzeitig zu erkennen und bereits erkrankte oder verunfallte Angestellte rasch in den Arbeitsprozess zu reintegrieren (vgl. Kasten). Dafür haben sich mehrere Arbeitgeber und Versicherungsträger vernetzt. Involviert sind die Krankentaggeldversicherer, Unfallversicherer, die IV sowie die Pensionskasse des Unternehmens. Die Versicherungspartner sowie der Arbeitgeber haben eine Zusammenarbeits-Vereinbarung getroffen und zahlen gemeinsam in einen Finanzierungspool ein. Dieser wird vom Arbeitgeber verwaltet.

Mit Geld aus diesem Pool wurde Herrn X das Stehpult gekauft. Seither kann er wieder 100 Prozent arbeiten. «Mit dem FER-Projekt habe ich gemerkt: Schnelle Hilfe ist möglich. Vielfach ist es auch genau das, was nötig ist. Es bringe nämlich nichts, zu warten, bis jemand gar nicht mehr kann», sagt der betroffene Mann in einem Interview gegenüber Compasso, dem Publikationsorgan des FER-Projekts (vgl. auch Kasten).

Compasso

Compasso.ch ist eine nationale Plattform für Arbeitgeber. Unternehmen finden hier Infos und Angebote zur beruflichen Eingliederung von Arbeitnehmern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Auch die Erkenntnisse aus dem FER-Pilotprojekt sowie konkrete Fallbeispiele werden auf der Plattform publiziert. HR-Verantwortliche können sich unverbindlich zum Thema Früherkennung und Integration informieren. Sie sehen, wer was macht und wie Probleme gelöst werden.

www.compasso.ch

Massnahmen schnell umsetzen

Dank des Finanzierungspools können Firmen Massnahmen ergreifen, die entweder rasch benötigt werden oder die von den Versicherungen nicht sofort übernommen werden – wie das Stehpult von Herrn X. «Der Pool gibt uns die Möglichkeit, kleinere und grössere Massnahmen, die uns sinnvoll erscheinen, schnell umzusetzen», sagt Margret Kämpf, Leiterin Personal und Dienste bei Stämpfli.

Aus dem Topf hat das Unternehmen in der zweijährigen Projektphase (Dezember 2010 bis Oktober 2012) nicht nur Stehpulte finanziert: Ein Arbeitnehmer hatte sich den Arm gebrochen und konnte weder seine Körperpflege noch den Haushalt erledigen. Die Unfallversicherung übernahm die Spitexkosten nicht. Sie wurden deshalb unmittelbar nach dem Spitalaustritt im Rahmen von FER finanziert.

In einem anderen Fall empfahl ein Arzt einem Angestellten ein Fitness-Abo. Da er die Kosten dafür nicht selber tragen konnte, zahlte die Stämpfli AG einen Teil. Zudem hat das 300 Mitarbeiter zählende KMU eine Gesundheitsgruppe, die immer wieder Präventions-Aktionen durchführt. Einzelne Aktionen wurden aus dem Pool finanziert.

Auffallende Kurzabsenzen

Am FER-Pilotprojekt haben sechs Unternehmen teilgenommen, darunter die Stämpfli AG mit Hauptsitz in Bern. 
Die Arbeitgeber haben sich verpflichtet, verunfallte und erkrankte Mitarbeiter aktiv zu unterstützen und Präventionsmassnahmen für die Gesundheit zu ergreifen. Im Idealfall verkürzen sich die Genesungszeiten, so dass die Mitarbeiter schneller wieder zurück an ihren Arbeitsplatz können.

Fehlt ein Angestellter mehr als sieben Tage, führen der Vorgesetzte und ein Personalverantwortlicher ein Gespräch mit ihm. Ein spezielles Augenmerk legt die Stämpfli AG auch auf jene Mitarbeitenden, die durch mehrere Kurzabsenzen auffallen. «Mit ihnen nehmen wir ebenfalls Kontakt auf», sagt Margret Kämpf. Das neue Konzept bringt deshalb auch mehr Arbeit für den Personaldienst mit sich: Die Mitarbeitenden werden noch intensiver betreut als vor FER. «Wir sind disziplinierter daran, mit Mitarbeitenden, bei denen wir gewisse Auffälligkeiten feststellen, früh Kontakt aufzunehmen», sagt Margret Kämpf. So kann die Firma erkennen, wo Angestellte Probleme bekommen könnten, und entsprechend reagieren.

«Übergeordnetes Ziel des Projekts ist es, Versicherungsleistungen wie Krankentaggelder oder Renten zu reduzieren und Doppelspurigkeiten bei Abklärungen zu verhindern», erklärt Margret Kämpf. Durch eine rasche und gute Unterstützung soll verhindert werden, dass ein Mitarbeiter aus dem Arbeitsmarkt ausscheidet oder invalid wird.

FER-Pilotprojekt

Das Zielmodell FER für eine koordinierte gesundheitliche Früherfassung und die berufliche Reintegration von kranken Mitarbeitern wurde im Rahmen des Think Tank FER entwickelt. Patronatgeber ist der Schweizerische Arbeitgeber-Verband. Die Projektleitung obliegt der Firma Mind Step AG.

Ziel ist es, durch eine systematische Frühabklärung und eine verbindliche Kooperation zwischen Arbeitgeber und den (Sozial-)Versicherungspartnern Intervention und Unterstützungsmassnahmen für erkrankte oder verunfallte Mitarbeitende aufzugleisen. Um das Modell zu testen, wurde ein Pilotprojekt mit sechs Unternehmen durchgeführt. Darunter die Stämpfli AG, die sich von Dezember 2010 bis Oktober 2012 am Projekt beteiligte. Bei den sechs Unternehmen handelt es sich um KMU, die rund 150 bis 450 Mitarbeitende zählen. «Wir haben die Pilotphase des Projekts Ende 2012 abgeschlossen. Alle sechs Unternehmen führen es aber nun eigenständig weiter», sagt Ueli Streit, Projektleiter bei der Mind Step AG. Seit vergangenem Herbst hätten sich zudem drei weitere Unternehmen dazu entschlossen, das FER-Zielmodell einzuführen. «Der Vorteil von FER ist, dass die Arbeitgeber nicht allein sind, wenn ihre Mitarbeitenden gesundheitlich angeschlagen sind», sagt Streit. 
Firmen erhalten Unterstützung, auch finanziell.

FER steht allen Unternehmen offen, kleinen wie Grossunternehmen. Interessierte Firmen melden sich bei Ueli Streit und Ernst Meier, Tel. 031 381 71 68, Mail ueli.streit@mind-step.ch.

www.mind-step.ch

Nicht zu viel erwarten

Ein wichtiger Vorteil ist, dass die Arbeitgeber bei den Versicherern direkte Ansprechpersonen haben. «Die Wege sind kürzer und direkter geworden», sagt Margret Kämpf. Auch dank des direkten Kontakts kann die Stämpfli AG schneller reagieren und beispielsweise eine Arbeitsplatzabklärung machen. Denn je früher ein Zustand verbessert wird, umso weniger Langzeitschäden gibt es – die Arbeitnehmer fehlen weniger oder erholen sich rascher.

Zentral sei aber auch der Einbezug der Führungskräfte: «Wichtig und unabdingbar ist, dass die Geschäftsleitung dahintersteht», sagt Margret Kämpf. Denn bisher waren Arbeitgeber bei den Früherfassungs- und Integrationsmassnahmen zu wenig eingebunden und nahmen ihre Verantwortung nur ungenügend wahr.

Auch wenn viel für die Prävention und die Betreuung kranker Mitarbeitender getan wird – zu viel dürfe man nicht erwarten, warnt Margret Kämpf: «Mit einer unmittelbaren Senkung von Fehlstunden dürfen wir nicht rechnen, das ist bei uns auch jetzt nicht der Fall. Wir haben nach wie vor Schwankungen. Die Anstrengungen sind in der Langzeitbetrachtung zu beurteilen.»

Margret Kämpf ist von dem Pilotprojekt dennoch überzeugt: «Für uns war bereits nach dem ersten Jahr klar, dass wir nach Ablauf der Projektphase mit FER weiterfahren wollen.»

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