Wenn Arbeit süchtig macht

«Ein Workaholic ruiniert jedes Team»

Dr. Stefan Poppelreuter 
ist Diplom-Psychologe und unter anderem spezialisiert auf das Thema Arbeitssucht. Er ist Leiter des Bereichs HR Development Service bei der TÜV Rheinland Personal GmbH.

Herr Poppelreuter, wann ist jemand arbeitssüchtig?

Stefan Poppelreuter: Das ist schwierig zu definieren. Weil die Sucht nicht stoffgebunden ist, fehlen uns quantitative Messwerte. Es hat sich bewährt, auf generelle Suchtmerkmale im Verhalten zu achten.

Wie sehen die aus?

Schlüsselindikatoren sind ein zunehmender Verfall an die Arbeit, also wenn das gesamte Denken und Handeln sich nur noch um die Arbeit dreht. Damit einher geht die Vernachlässigung anderer Themenfelder wie Partnerschaft, Familie, Hobbies, der fehlende Kontakt zu den Kindern, ungesunde Ernährung, Schlafmangel und der Verlust der Kontrolle: Es ist nicht mehr möglich, beispielsweise wegen Krankheit oder familiären Verpflichtungen, bei der Arbeit zu fehlen.

Treten Entzugserscheinungen auf?

Ja, durchaus. Emotionale Symptome sind Rastlosigkeit, Nervosität, Aggressivität oder depressive Verstimmungen. Körperlich können zum Beispiel Kopf- oder Bauchschmerzen auftreten.

Ist Arbeitssucht ein Resultat von hohem wirtschaftlichem Druck?

Menschen, die zur Existenzsicherung zwei Jobs machen müssen, reagieren auf den äusseren, wirtschaftlichen Druck. Arbeitssüchtige hingegen werden von einem inneren Antrieb gesteuert. Beide Typen sind burnoutgefährdet, ihre Motivation für das viele Arbeiten ist aber nicht die gleiche.

Stichwort Burnout: Man spricht von einer Volkskrankheit. Tritt auch Arbeitssucht vermehrt auf?

In den vergangenen 20 Jahren ist Arbeitssucht definitiv mehr zum Thema geworden. Aber es gibt keine aussagekräftigen Zahlen. Einerseits ist sicher: Der Effizienzdruck hat im Rahmen der Globalisierung zugenommen. Das hat Folgen. Man muss eine Kuh auch füttern, die man melken will, sonst gibt sie keine Milch mehr. Das Bild verdeutlicht, was im Moment passiert. Die Zunahme an psychischen Krankheiten ist ernst zu nehmen. Andererseits ist mit den medialen Veränderungen auch eine Sensibilität für Abnormalität und Auffälligkeit entstanden. Wenn marktschreierisch über Burnout berichtet wird, gibt es jede Menge Menschen, die nicken werden und sagen: Genau das hab ich. Da muss man vorsichtig sein und differenzialdiagnostisch herangehen, um Aussagen zu machen. Belegt ist, dass sich die Arbeitsstrukturen verändert haben. Das kann Arbeitssucht fördern.

Was treibt Menschen in eine Arbeitssucht?

Das ist ähnlich wie bei anderen Süchten.  Entweder wird versucht, durch die Sucht positive Gefühle auszulösen wie beispielsweise das Hochgefühl, eine Herausforderung gemeistert, ein Problem gelöst, ein Ziel erreicht zu haben. Oder die Sucht dient zur Ablenkung von negativen Gefühlen wie der Angst zu versagen, nicht anerkannt zu werden, Liebe und Zuneigung zu verlieren.

Warum sollte ich keinen Workaholic anstellen? Es ist doch super, topmotivierte Leute im Team zu haben.

Erstens sind aufgrund von Erschöpfung und Überlastung früher oder später Qualitätseinbussen und Fehler vorprogrammiert. Später kommen oft Absenzen wegen psychischer Probleme dazu. Zweitens ruiniert ein Workaholic jedes Team. Er stresst, mischt sich überall ein, ist überheblich, hält sich nicht an Arbeitsteilungen und Zuständigkeiten und setzt mit seinem Arbeitsverhalten falsche Benchmarks. Es braucht Expertise, um einen High Potential von einem Süchtigen zu unterscheiden oder ihn so zu verändern, dass er gesund bleibt.

Wie merke ich in einem Vorstellungsgespräch, ob jemand gefährdet ist?

Bei irren Erfolgen im Lebenslauf müssen Sie Fragen nach dem Ausgleich zum Job stellen. Wird als Hobby zum Beispiel noch das Laufen von Marathons angegeben, muss die Leistungsorientierung definitiv hinterfragt werden. Befragen Sie den Kandidaten zu Themen, die mit dem Job nichts zu tun haben. Es geht nicht um Inaktivität, sondern um Ausgewogenheit. Sie ist der Schlüssel. Es ist wie in der Musik, die Pause ist da, damit die Note besser wirken kann.

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