Personalabbau ohne Entlassungen: Verunsicherung als Strategie?

Stehen Veränderungen an, verlassen verunsicherte Mitarbeitende ihr Unternehmen oft reihenweise, selbst wenn dieses keine Kündigungen ausspricht. Auch bei Tamedia verunsichert eine grössere Reorganisation die Belegschaft – obwohl es keine Entlassungen geben soll. Gehören bewusst gesteuerte Unsicherheiten während Veränderungen zum Kalkül der Unternehmen? HR-Fachleute nehmen Stellung.

Ende August hat das Zürcher Medienunternehmen Tamedia eine grössere Reorganisation seiner Tageszeitungen angekündigt, bei der auch Stellen wegfallen werden. Kündigungen seien allerdings keine vorgesehen. «Wir haben uns entschieden, auf Entlassungen zu verzichten und zu versuchen, Anpassungen, die notwendig werden, über die natürliche Fluktuation vorzunehmen», sagte Tamedia-Präsident Pietro Supino gegenüber dem «Schweizer Journalist» in dessen jüngsten Ausgabe.

Vorwurf der «Vertreibungspolitik»

Die anonymen Betreiber des Twitter-Accounts «Inside Tamedia» warfen dem Unternehmen Ende August vor, beim Personal gezielt Unsicherheit zu schüren und so die besten Leute zu vertreiben. Auf Anfrage sagte Tamedia-Sprecher Christoph Zimmer gegenüber dem Medien-Fachmagazin «Medienwoche»: «Wir haben ein Interesse an motivierten und engagierten Mitarbeitenden.» Erhärten lässt sich der Vorwurf der «Vertreibungspolitik» von aussen nicht.

Nicht bestreiten lässt sich dagegen, dass namhafte und langjährige Mitarbeitende Tamedia verlassen haben – nicht erst seit dem angekündigten Umbau der Tageszeitungen. Um einige Beispiele zu nennen: Ende 2016 verliess Constantin Seibt, ein Aushängeschild des «Tages Anzeiger», seinen Arbeitgeber, um die «Republik» zu gründen. Daniel Binswanger hat per Anfang Dezember 2017 nach rund neun Jahren seine Stelle beim «Magazin» gekündigt, um ebenfalls bei der «Republik» anzufangen. Ende Juli 2017 verliess Kulturredaktor Christian Hubschmid die «Sonntagszeitung» nach 16 Jahren. Zu seiner Entscheidung habe auch die Unsicherheit in der Branche ihren Teil beigetragen, wie er gegenüber persoenlich.com sagte. Auch Wirtschaftsredaktor Stefan Eiselin nannte als Grund für seinen Abgang beim Tages Anzeiger unter anderem die Veränderungen im Bereich der Redaktionen.

Auch nicht bestreiten lässt sich, dass die Veränderungen bei Tamedia zu Unsicherheiten in der Belegschaft führen. «Die Stimmung auf unserer Redaktion ist miserabel. Wir alle sind überzeugt, dass 2018 eine Entlassungswelle ansteht und Tamedia spätestens 2020 oder 2021 eine der zwei Berner Tageszeitungen schliesst», wird etwa ein Journalist des «Bund» von der «Aargauer Zeitung» zitiert.

Verunsicherung unvermeidbar

«Dass eine solche Veränderung auch zu Verunsicherung führt, lässt sich nicht vermeiden», sagt Zimmer. Was tut Tamedia, um ihre Leute trotz Unsicherheiten im Unternehmen zu behalten? «Wir informieren aktiv über unsere Strategie, bieten allen Mitarbeitenden einen Arbeitsplatz in der neuen Organisation an und erarbeiten in einem Projekt neue Karrierepfade für Journalistinnen und Journalisten, um neben Aufstiegsmöglichkeiten in der Hierarchie auch Spezialisierung zu ermöglichen.»

Laut Zimmer sieht Tamedia grossen Wert in ihren Mitarbeitenden: «Gute Medien sind nur mit guten und engagierten Mitarbeitenden möglich.» Im Organigramm spiegelt sich das Bewusstsein über den Wert der personellen Ressourcen weniger: Der Head of Human Resources, Peter Mantsch, hat keinen Einsitz in der Geschäftsleitung. Zimmer entgegnet darauf: «Der Leiter Finanzen & Personal (Sandro Macciacchini, Anm. d. R.) vertritt HR in der Unternehmensleitung. Bei Themen, die die Mitarbeitenden direkt betreffen, sind zudem immer weitere Vertreter von HR mit am Tisch.»

Die neue Organisation hätten auch die Chefredaktorinnen und Chefredaktoren wesentlich mitgestaltet. Vom HR hätten diese Unterstützung erhalten – etwa für die Kommunikation mit ihren Mitarbeitenden: «Unser HR bereitet die Gespräche, in denen die Mitarbeitenden über die neuen Ressortstrukturen und ihre zukünftige Aufgabe informiert werden, in regelmässigen Workshops mit den Chefredaktorinnen und Chefredaktoren vor, unterstützt die Führungskräfte mit Merkblättern, steht ihnen bei Fragen zur Seite und nimmt bei Bedarf auch selbst an Gesprächen teil.»

Medienbranche unter Druck

Tamedia ist nicht das einzige Medienunternehmen, bei dem sich das Personal durch Veränderungen unter Druck gesetzt sieht. Auch die NZZ stand in den vergangenen Wochen im Rampenlicht – hier scheint der Druck vor allem politischer Natur zu sein. Die Wochenzeitung «WOZ» stellte etwa in ihrer Ausgabe vom 12. Oktober fest, dass in nur zweieinhalb Jahren rund die Hälfte der Inlandredaktion die Zeitung verlassen hat, das Gleiche gelte für das Feuilleton. «Bei einigen Personalwechseln handelt es sich um Pensionierungen, bei der Grosszahl aber um Entlassungen oder Kündigungen durch die MitarbeiterInnen», schrieb die «WOZ» weiter.

Ringier hat Ende August 2017 ein «grösseres Sparprogramm» kommuniziert, wie in einem Bericht von «Watson» zu lesen ist. Ringier bestätigte gegenüber «Watson», dass der Newsroom der «Blick»-Gruppe für 2018 in seinem Budget Einsparungen plant: «Wir haben unter anderem in den letzten Monaten verstärkt an unseren Strukturen gearbeitet und sie verschlankt, sowie neue Programme eingeführt, die das Arbeiten effizienter gestalten.»

Der Umbau bei Tamedia ist also nicht ungewöhnlich. Nicht für die Medienbranche und nicht für die Wirtschaft. Aufgrund von Digitalisierung, Kostendruck und Fusionen organisieren sich Unternehmen neu und meist fallen den Reorganisationen auch Stellen zum Opfer.

Mitarbeiter gehen aus Unsicherheit

Manche Unternehmen wollen trotz Stellenabbau keine Kündigungen aussprechen und den Abbau über die natürliche Fluktuation regeln. Vereinfacht gesagt: Wer geht, wird nicht ersetzt. Stehen die Reorganisationsabsichten jedoch erst einmal im Raum, erhöht sich die natürliche Fluktuation oft wie von selbst: Mitarbeitende verlassen das Unternehmen aus Unsicherheit.

Kalkulieren Unternehmen damit bewusst? Nach dem Motto: Wer mit der Unsicherheit nicht umgehen kann, soll ruhig gehen? Brigitte Kraus, die Unternehmen in Veränderungsprozessen kommunikativ und rechtlich berät, kann darob nur den Kopf schütteln. «So eine Strategie würde genau das Gegenteil bewirken. Die Veränderungsfähigen und die Guten sind die Ersten, die in einer solchen Situation gehen – denn sie haben Optionen.»

Matthias Mölleney, ehemaliger Personalchef der Swissair und heute Mitinhaber einer HR-Beratungsfirma für Personalmanagement, bestätigt Kraus’ Aussage und führt aus: «Die guten Leute sind meist auch diejenigen, die sich bisher interne Entwicklungsmöglichkeiten erhofft hatten. Sobald jedoch ein Stellenabbau über die natürliche Fluktuation erfolgen soll, sehen sie diese bedroht.»

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Reinen Wein einschenken

Wie schaffen es Unternehmen, ihre Leute trotz Reorganisation und Unsicherheiten zu behalten? Laut Kraus ist es essentiell, den Mitarbeitenden möglichst früh reinen Wein einzuschenken. Oft würden Unternehmen damit zu lange warten – auch, weil ihnen ihre Anwälte zu Verschwiegenheit raten. «Unternehmen müssen den Mitarbeitenden Perspektiven aufzeigen. Auch wenn diese Perspektiven nicht unbedingt rosig sind», sagt sie. «Die Mitarbeitenden sind bereit, vieles mitzumachen – aber nur, wenn sie gut und ehrlich informiert werden.»

Die Schwierigkeit dabei: Die Verantwortlichen haben vor und im Veränderungsprozess oft selbst mit Unsicherheiten zu kämpfen. Auch das sei ein Grund, warum sie sich über die Zukunft der Organisation oft ausschweigen würden, sagt Marcel Oertig, der als Berater unter anderem Change- und Transformationsprojekte begleitet. «Besser als zu schweigen ist es allerdings, zu kommunizieren, dass man auf gewisse Fragen selbst noch keine Antwort hat.» Noch besser sei es, wenn Unternehmen in dieser Situation eine Art «Fahrplan» aufzeigen und angeben können, wann sie welche Informationen bekanntgeben könnten.

Keine falschen Versprechen

Oertig betont die Wichtigkeit, auf keinen Fall falsche Versprechen abzugeben. «Wenn Unternehmen vor einer Reorganisation versprechen, dass es keine Kündigungen gibt und der Abbau ausschliesslich über die natürliche Fluktuation erfolgt, finde ich das sehr gefährlich», warnt er. Ein Abbau über die natürliche Fluktuation könne zwar funktionieren, wenn man genügend Zeit habe – aber: «Während einer Reorganisation verändert sich vieles und nicht alles geht so auf, wie man sich das am Anfang vorgestellt hat.» Hinzu komme: «Unternehmen müssen die Reorganisation auch steuern können. Die natürliche Fluktuation ist sehr zufällig – es gehen ja nicht nur die, die man nicht mehr braucht.» Kraus und Oertig sind sich einig: Ein Versprechen, das ein Unternehmen nicht mit hundertprozentiger Sicherheit einhalten kann, schadet Glaubwürdigkeit, Reputation und Image.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen bei medienwoche.ch.

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