HR Today Nr. 10/2018: Arbeit und Recht

Reglemente zu Whistleblowing und internen Untersuchungen

«Compliance», «Corporate Governance», «Self Regulation», «Code of Conduct», «Whistleblowing» und «Interne Untersuchungen»: Der Zusammenhang lässt sich in einer Linie darstellen: vom Willen, ein Unternehmen gut und nachhaltig zu führen, über die Meldung von Missständen hin zu entsprechenden internen Untersuchungen. Die Befassung mit der reglementarischen Regelung dieses weiten Felds hält einige Überraschungen bereit.

«To comply» bedeutet, eine Vorgabe zu befolgen, sich an eine Regel zu halten. Dabei nur auf die Einhaltung der Gesetze zu achten («Legal Compliance»), genügt heute vielen Unternehmen und Unternehmern nicht mehr. Sie wollen sich umfassender auf Firmengrundsätze guter Unternehmensführung verpflichten. Die Leitideen von «Good Corporate Governance» orientieren sich über das Gesetz hinaus an nachhaltigem Wirtschaften und ethischen Vorgaben. Jetzt bedeutet «Compliance» also sowohl die Beachtung der Gesetze wie auch die Befolgung selbstauferlegter interner Vorgaben.

Eine Ausprägung dieser «Selbstregulation» («Self Regulation») sind Verhaltenskodizes («Codes of Conduct»). Ein Verhaltenskodex kann der proaktiven Verhinderung von Rassismus, sexueller Belästigung, Mobbing oder Korruption dienen, aber auch ganz branchentypische Risikozonen ansprechen. Aus meiner Anwaltspraxis empfehle ich KMU, Verhaltenskodizes kompakt zu halten und in ihnen auch ein Hinweisgebersystem bei Verstössen zu etablieren und Meldestellen zu bezeichnen.

Das Fehlen eines «Code of Conduct» (mit Hinweisgeberverfahren) kann je nach Rahmenbedingungen zum Vorwurf des «Organisationsverschuldens» führen. Das Strafgesetzbuch sieht zur Strafbarkeit von Unternehmen in Art. 102 Abs. 3 StGB ausdrücklich vor, das Gericht bemesse die Strafe auch nach «der Schwere des Organisationsmangels».¹

Schutz des Whistleblowers 

Angenommen, ein Untergebener beobachtet Fehlverhalten eines Vorgesetzten. Wenn er den Vorgesetzten jetzt «verpfeift» («to blow the whistle»), riskiert der Untergebene Konsequenzen. Soll das Whistleblowing-Reglement – abgekürzt: WB-Reglement – deswegen umfassend zusichern, die Identität des Anzeigeerstatters werde vertraulich behandelt? Stefan Rieder empfiehlt in diesem Zusammenhang folgende Formulierung für das WB-Reglement: «Wird durch eine Meldung ein Arbeitnehmer namentlich beschuldigt, ist diesem die Möglichkeit einer Stellungnahme einzuräumen [...]. Der beschuldigte Arbeitnehmer hat kein Recht auf Information über die Identität des meldenden Arbeitnehmers.»²

Die Notwendigkeit vertraulicher Behandlung von Arbeitnehmerhinweisen ergibt sich dem Grundsatz nach bereits aus der Fürsorgepflicht der Arbeitgeberin (Art. 328 OR). Diese ist für die Bearbeitung von Personendaten zusätzlich in Art. 328b OR konkretisiert.³ Auf der gleichen Fürsorgepflicht basiert allerdings auch die Arbeitgeberpflicht, in unserem Fall den Vorgesetzen vor falscher Anschuldigung zu schützen. Angenommen, unsere WB-Meldung führt zu einer internen Untersuchung. Der beschuldigte Vorgesetzte verlangt Einsicht in die Aktennotizen oder Befragungsprotokolle⁴ mit den Aussagen des Anzeigeerstatters. Denn der Vorgesetzte will im Einzelnen wissen, was ihm genau vorgeworfen wird. Das verweigert die Arbeitgeberin, weil (auch bei Namensabdeckung) Rückschlüsse auf die Identität des Anzeigeerstatters gezogen werden könnten. Trotzdem kündigt die Arbeitgeberin, denn für sie ist der Fall klar. Der gekündigte Vorgesetzte klagt.

Vertraulichkeit eingeschränkt versprechen

Zu genau so einem Konfliktfall hat das Obergericht Zürich ausdrücklich entschieden, wenn die Arbeitgeberin für WB-Meldungen zu viel Vertraulichkeit zusichere, könne dies «nicht zulasten der ‹Verteidigungsrechte›» des Beschuldigten gehen. «Etwaige mit solchen Versprechen einhergehende Verluste ihrer Glaubwürdigkeit und damit verbunden eine Erschütterung ihres Whistleblower-Systems als solches hat [...] [die Arbeitgeberin] selbst verschuldet.»⁵ Ich halte die Zusicherung umfassenden Informantenschutzes deswegen generell für riskant, auch wenn diese Frage in der juristischen Literatur kontrovers diskutiert wird. Das Problem wird entschärft, wenn man Vertraulichkeit nur soweit möglich zusichert. Selbst wenn Unternehmen dann tendenziell weniger Informationen über interne Missstände zugehen. Für WB-Regelungen mit limitiertem Informantenschutz halte ich Formulierungen für denkbar, die vom Ansatz her in folgende Richtung gehen könnten:

«Die Identität von Hinweisgebern wird soweit möglich vertraulich behandelt. Höher zu gewichtende Interessen oder gesetzliche Vorgaben können dem Informantenschutz aber entgegenstehen. Beispiele: Zunächst kann die Weitergabe einer Meldung, inklusive der Identität der meldenden Person, erforderlich werden im Kontext weiterer Ermittlungen oder nachfolgender Gerichtsverfahren (beispielsweise Straf- und/oder Zivilverfahren). Aber bereits aus dem Wesen der Beschwerde, das dem Beschuldigten offenzulegen ist (Recht auf Rechtliches Gehör), können möglicherweise Rückschlüsse auf die Identität der Anzeigeerstatter gezogen werden.»⁶

Geht die Arbeitgeberin aufgrund einer WB-Meldung von einer Verdachtslage aus, kann sie eine interne Untersuchung einleiten – je nach Sachlage muss sie es sogar.⁷ Gemäss Bundesgericht soll ein Verwaltungsrat für interne Untersuchungen externe Spezialisten (beispielsweise Anwälte⁸) beiziehen, wenn das für die Durchführung der internen Untersuchung nötige Wissen fehlt.⁹

Jedenfalls sind interne Stellen, und dabei spezifisch HR-Mitarbeiter, keine Staatsanwälte. Und Informationsgewinn im strukturierten Gespräch will – glauben Sie es mir – gelernt sein.¹⁰ Zuhören ist beispielsweise besser, als sich selber durch raffinierte Fragen profilieren zu wollen.

Der freie Bericht der Befragten ist einem einengenden Fragenkorsett vorzuziehen, auch wenn man sich noch so gut vorbereitet hat. Ungeübte «Einvernehmende» geben gegenüber dem Beschuldigten praktisch immer mehr Informationen preis, als für den Informationsgewinn nötig gewesen wären. Mutmasslichen Tätern wird so ermöglicht, mit Blick auf eine mögliche spätere Strafuntersuchung Vorkehren zu treffen und Beweise zu vernichten. Last but not least wird auch die Gerüchteküche im Unternehmen durch allzu mitteilungsfreudige Interviewer befeuert, selbst wenn die Vertraulichkeitspflicht den Befragten ausdrücklich überbunden wird, was faktisch kaum durchgesetzt werden kann. Nicht selten wäre eine zeitnahe Strafanzeige an die Staatsanwaltschaft besser als eine ausgedehnte interne Untersuchung.

Zeugenrechte

In der staatlichen Strafuntersuchung sieht die Strafprozessordnung für Beschuldigte und Zeugen klar definierte Aussageverweigerungsrechte vor.¹¹ Darüber müssen Staatsanwälte vor Befragungen «belehren». Ohne Belehrung kann sich die Aussage im Strafprozess als vollkommen unverwertbar erweisen (Beweisverwertungsverbot).¹² Jetzt stellt sich die Frage: Kann ein Staatsanwalt vor Gericht die Aussagen einer unternehmensinternen Untersuchung verwenden, wenn Zeugen und Beschuldigte in der internen Untersuchung vor Befragungen nicht «belehrt» oder unterschwellig unter Druck gesetzt wurden?¹³

Sicher: Die strafuntersuchungsrechtlichen Aussageverweigerungsrechte gelten für die private interne Untersuchung an sich nicht. Und man kann auch argumentieren, die arbeitsrechtliche Treuepflicht (Art. 321a OR) verpflichte dem Grundsatz nach zur wahrheitsgemässen Aussage – selbst wenn diese wohl nicht in einer Selbstanzeigepflicht gipfeln dürfte.¹⁴

Trotzdem richtig scheint mir folgender Hinweis des Staatsanwalts Olivier Thormann: «Aufgrund der in der Doktrin kontrovers geführten Diskussion wird der [Staatsanwalt] [...] gut beraten sein, jeweils auch die Umstände und Vorgehensweisen der [...] intern Untersuchenden abzuklären. Konkret sollte in Erfahrung gebracht werden, welche Belehrungen vor allfälligen Einvernahmen oder schriftlichen Eingaben stattgefunden haben und welche Konsequenzen für eine Nichtkollaboration in Aussicht gestellt worden sind.»¹⁵

Vor diesem Hintergrund sollten sich Verantwortliche überlegen, ob und welche «Belehrungen» im Reglement «Interne Untersuchungen» für Befragungen vorgegeben werden. In grober und sehr freier Anlehnung an die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren¹⁶ könnte der (moderate) Versuch einer korrespondierenden reglementarischen Klausel beispielsweise wie folgt lauten:

«Befragte Mitarbeitende sind aus arbeitsrechtlichen Gründen grundsätzlich dazu verpflichtet, an der Befragung mitzuwirken und wahrheitsgemäss Auskunft zu erteilen. Beschuldigte und Zeugen können die Aussage verweigern, wenn sie damit sich selber oder familiär Nahestehende belasten würden – sei dies in strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Hinsicht, namentlich wenn sie arbeitsrechtliche Konsequenzen befürchten. Beschuldigte und Zeugen können jederzeit die Vertagung der Befragung verlangen, um auf eigene Kosten einen Rechtsanwalt zu konsultieren, wenn sie dies für erforderlich erachten.»

Übrigens: Die Frage, ob man Mitarbeiter gestützt auf deren Treuepflicht auf absolute und wahrheitsgemässe Aussagepflicht «festnagelt» oder ob man ihnen Aussageverweigerungsrechte zugesteht, relativiert sich im Gesamten durch die Tatsache, dass Gedächtnislücken bekanntlich eine besondere Form des Schweigens sind.¹⁷

Rechtslage per Zeitpunkt der Publikation (Redaktionsschluss) sowie unter Voraussetzung der ausschliesslichen Anwendbarkeit des Obligationenrechts (OR) und des Arbeitsgesetzes (ArG), nebst speziell erwähnten weiteren Rechtsquellen. Eignung oder rechtliche Durchsetzbarkeit der präsentierten Vorgehensweisen im konkreten Einzelfall hängt zwingend von weitergehendem qualifiziertem Rechtsrat ab. Dies nicht nur, aber auch, weil der Umfang des vorliegenden Beitrags redaktionell eng 
limitiert und somit unvollständig ist.

Quellen:

  • ¹ Vgl. CHRISTIAN WIND, Leitfaden Compliance, 2018, S. 8 f.
  • ² STEFAN RIEDER, Whistleblowing als interne Risikokommunikation, Diss. 2013, S. 301. Der Autor differenziert die Frage der Vertraulichkeit aber in folgendem Aufsatz: STEFAN RIEDER, Whistleblowing aus arbeitsrechtlicher Sicht, in: Jusletter 22.12.2014, Rz. 39.
  • ³ Vgl. dazu auch die Botschaft vom 22.11.2013 zu einer neuen «Whistleblower»-Regelung im Arbeitsrecht (VE-Art. 321abis ff. OR), BBl 2013 9513.
  • ⁴ Vgl. zur Frage, ob über Befragungen besser Aktennotizen oder Protokolle angefertigt werden: ROMERIO/BAZZANI/GROTH, Interne und regulatorische Untersuchungen, in: Romerio / Bazzani (Hrsg.), Interne und regulatorische Untersuchungen, 2015 (nachfolgend «Interne Untersuchungen»), S. 9 ff. S. 133 f.
  • ⁵ OGer ZH 27.10.2015, Verf. RA150002, Erw. 8.3.
  • ⁶ Vgl. zu dieser Formulierung auch BARANOWSKI/GLASSL, Whistleblowing in Recht und Praxis, 2018, S. 273.
  • ⁷ Vgl. ROMERIO/BAZZANI/GROTH, Interne und regulatorische Untersuchungen, in: Interne Untersuchungen (Fn. 4) S. 9 ff.
  • ⁸ ROMERIO/BAZZANI/GROTH (Fn. 4), S. 63 ff.
  • ⁹ BGer vom 12.02.2007, 4C.358/2005, Erw. 5.2.1.
  • ¹⁰ Gute Tipps für Einvernahmen in internen Untersuchungen bietet CHRISTOPH ILL, Informationsgewinn im strukturierten Gespräch, in: Interne Untersuchungen (Fn. 4), S. 139 ff.
  • ¹¹ Zeugen: Art. 168 ff. StPO; Beschuldigte: Art. 113 StPO.
  • ¹² Vgl. für Zeugen: Art. 177 Abs. 3 StPO; für Beschuldigte: Art. 158 Abs. 2.
  • ¹³ Es gibt im Strafverfahren zwar keinen Numerus clausus der Beweismittel (Art. 139 StPO). Zum Problem des «verbrannten Zeugen» vgl. aber STEFAN HEIMGARTNER, Der Mythos des verbrannten Zeugen, in: Liber Amicorum für Ulrich Weder, 2016, S. 89 ff.
  • ¹⁴ OLIVIER THORMANN, Sicht der Strafverfolger, in: Interne Untersuchungen (Fn. 4), S. 91 ff., S. 111.
  • ¹ OLIVIER THORMANN (Fn. 14), S. 91 ff., S. 112.
  • ¹⁶ So unterscheidet nachfolgende Formulierung beispielsweise auch nicht zwischen Anzeigeerstatter, Beschuldigte, Auskunftspersonen und Zeugen, wie das die Strafprozessordnung vorsieht.
  • ¹⁷ Vgl. dazu auch ANDREAS D. LÄNZLINGER, Rechtliche Rahmenbedingungen und praktische Erfahrungen im Zusammenhang mit Mitarbeiterbefragungen, in: Interne Untersuchungen (Fn. 4), S. 107 ff., S. 133.
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Dr. Heinz Heller 
praktiziert als Fachanwalt SAV Arbeitsrecht. Er berät überwiegend Arbeitgeber und Manager.

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