Vertrauen

Arbeitszeiterfassung: Völlig 
überholt oder nötiger denn je?

Vertrauensarbeitszeit ist ein weit verbreitetes Modell. Doch die Meinungen darüber 
gehen auseinander. Nicht zuletzt stellt sich die Frage: Wer vertraut hier eigentlich wem?

Von Vertrauensarbeitszeit spricht man, wenn gearbeitet, aber die Arbeitszeit nicht erfasst wird. Wieweit hat das nun wirklich mit Vertrauen zu tun? In vielen Köpfen wird diese Art zu arbeiten gleichgesetzt mit der Vorstellung «Der Arbeitgeber vertraut dem Arbeitnehmer, dass er genug arbeitet». Allerdings haben die Arbeitgeber auch ohne Stempeluhr eine gewisse Kontrolle: Mittels Leistungszielen können sie absichern, dass die Angestellten sich angemessen engagieren.  

«Arbeitgeber vergessen allerdings oft, Ziele so zu definieren, dass sie machbar sind», sagt Barbara Gisi, stellvertretende Generalsekretärin und Leiterin Angestelltenpolitik der Berufsorganisation KV Schweiz. Zu hohe Ziele führen nicht selten zur «interessierten Selbstgefährdung»: Man nimmt Mehrarbeit in Kauf, weil man beim Arbeitgeber in einem guten Licht dastehen will, und riskiert dadurch im Extremfall, krank zu werden.

Deshalb gibt es eine zweite Interpretation des Vertrauensbegriffs: Die Arbeitnehmer haben ohne Arbeitszeiterfassung nichts mehr in der Hand, um zu beweisen, dass sie allenfalls zu viel für ihr Unternehmen tun müssen – deshalb müssen sie darauf vertrauen, dass der Arbeitgeber ihnen faire Ziele steckt und ihnen nicht zu viel Arbeit zumutet.

Das Gesetz gibt klare Regeln vor,
die aber nicht mehr überall passen

Sowohl auf Seiten der Arbeitgeber wie auch Arbeitnehmer gibt es – wie immer, wenn es um Vertrauen geht – ein gewisses Missbrauchspotenzial. Um dieses einzuschränken, fordern verschiedene Seiten, unter anderem manche Gewerkschaften und kantonale Kontrollorgane, dass man die Arbeitszeit genau erfasst – wie es das Gesetz ja auch vorschreibt: Arbeitsanfang und -ende sowie Pausen von 30 Minuten und mehr müssen täglich dokumentiert und die Zahlen vom Unternehmen fünf Jahre aufbewahrt werden.

Damit kann Balz Stückelberger, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands der Banken in der Schweiz (AGV Banken), gar nichts anfangen: «Wir leben in einer Zeit, in der die Arbeitnehmer grosse individuelle Freiheiten haben. Viele empfinden es als Privileg, ihren Tag selbst strukturieren zu können und zu entscheiden, wie sie ihre Ziele erreichen. Da kann es doch nicht sein, dass alle ‹minütelen› müssen.» Nach dem Feierabend noch kurz eine dringende Anfrage zu bearbeiten sei für viele schliesslich kein Problem, weil sie zum Beispiel untertags auch mal eine halbe Stunde privat im Netz gesurft seien oder am nächsten Morgen dafür etwas später an der Arbeit erscheinen dürfen, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen. Balz Stückelberger plädiert deshalb für Freiwilligkeit: «Alle, 
die ihre Arbeitszeit erfassen wollen, sollen dies tun können, die anderen sollen darauf verzichten dürfen.»

Das Missbrauchspotenzial sieht jedoch auch er. Deswegen brauche es flankierende Massnahmen wie etwa Gespräche mit den Vorgesetzten oder Eskalationsrichtlinien: «Es kann natürlich nicht sein, dass Leute täglich zehn bis zwölf Stunden arbeiten. Diese Fälle gilt es herauszupicken. Es ist die Verantwortung des Unternehmens, die Arbeit auf ein vernünftiges Mass herunterzubringen.»

Doch was ist ein vernünftiges Mass, wo liegt da die Grenze? «Diese ist gesetzlich gegeben», präzisiert Stückelberger, «mit der Überzeitgrenze von 45 Wochenstunden.» Wer 47 Stunden gearbeitet habe, melde dann halt an, dass er in der Folgewoche entsprechend kompensieren werde.

Um zu wissen, dass man zu viel gearbeitet hat, braucht es aber eine minimale Zeiterfassung. Balz Stückelberger könnte sich zum Beispiel einen wöchentlichen Check vorstellen: «Es braucht nicht eine tägliche Kontrolle, es reicht auch, wenn ich am Ende der Woche in mein Outlook schaue und anhand der Einträge in etwa überschlage, wie viel ich gearbeitet habe.»

Balz Stückelberger war involviert ins Projekt «Arbeitszeiterfassung im Bankensektor», das eine erleichterte Zeiterfassung testete. Aufgrund des Projekts hat das Staatssekretariat für Wirtschaft SECO die Anhörung zu einer neuen Bestimmung betreffend Arbeitsgesetz eröffnet. Der Vorschlag sieht vor, «dass Arbeitnehmende mit einem jährlichen Bruttoerwerbseinkommen von mehr als 175 000 Franken sowie im Handelsregister eingetragene zeichnungsberechtigte Angestellte auf die Arbeitszeiterfassung verzichten können.»

Auch wenn sich die Arbeitgeberseite dafür einsetzen wird, die Lohngrenze von 175 000 auf 126 000 Franken zu senken, so ist doch absehbar, dass der per Ende Jahr zu erwartende Bundesratsentscheid für grosse Teile der Berufstätigen keine neue Lösung bringt.

Balz Stückelbergers Wunsch nach Freiwilligkeit wird sich also vorderhand nicht erfüllen. Im Gegenteil, der Baselbieter FDP-Landrat ist skeptisch bezüglich der Zukunft: «Wird der Vorschlag angenommen, so ist das ein offizielles Ja zur strengen Arbeitszeiterfassung, die Kontrollen der kantonalen Vollzugsstellen werden verschärft, und die Firmen müssen das Stempeln wieder einführen – ein Riesenrückschritt, der einen Grossteil der Arbeitnehmenden vor den Kopf stossen wird.»

Auch Barbara Gisi von KV Schweiz, die ebenfalls ins Bankenprojekt involviert war, ist über den Vorschlag nicht glücklich. «Die Arbeitnehmenden in unserer Branche wollen nicht back to the Roots und jede Minute aufschreiben müssen. Sie wollen eine Arbeitszeit-erfassung, welche die heutigen Arbeitsbedingungen berücksichtigt, also eine etwas grosszügigere Erfassung.» Mit anderen Worten: Arbeitszeit erfassen ja, aber mit Knautschzone. Die Knacknuss ist, wie das funktionieren kann. Denn: «Eine wirklich schlaue Idee gibt es bisher nicht», bedauert Barbara Gisi.  

Ganz auf die Arbeitszeiterfassung zu verzichten, kommt für die Arbeitnehmer-Vertreterin der kaufmännischen Branche nicht in Frage, auch wenn sie oft das Argument höre: «Wenn man flexible Arbeitszeiten will, dann ist die Erfassung unmöglich.» Das ist für Barbara Gisi eine Schutzbehauptung gewisser Arbeitgeber: «Man kann durchaus auch einmal von zu Hause oder unterwegs arbeiten und diese Zeit trotzdem erfassen.»

Eigenkontrolle für den Fall, dass
 die Arbeit ausufert

Barbara Gisi kennt viele Leute, die ihre Arbeitszeit für sich selbst erfassen, auch wenn in ihren Betrieben die Vertrauensarbeitszeit gelte. Einfach darum, weil sie die Kontrolle haben wollen, für den Fall, dass die Arbeit ausufere. Denn: «Die Gefahr der Selbstausbeutung besteht. Wer Angst um seinen Job hat, versucht, auch zu hohe Anforderungen des Arbeitgebers zu erfüllen. Da in unserer heutigen Arbeitswelt viele Menschen so funktionieren, schraubt sich die Spirale hinauf, die Anforderungen werden immer grösser und die Leistungsziele immer höher gesteckt.»

Aufgrund von solchen Entwicklungen mögen manche Leute nicht mehr von Vertrauensarbeitszeit reden. Ivo Muri ist einer davon. Der Geschäftsführer der Zeit AG, welche unter anderem Zeiterfassungslösungen anbietet, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Phänomen (Arbeits-)Zeit. Er hat den Begriff in sein Gegenteil verkehrt und spricht von Misstrauensarbeitszeit: «Weil man kein Kontrollinstrument mehr hat, beginnen die Menschen, sich gegenseitig zu überwachen.» Das führe dazu, dass jene, die nicht in den Verdacht kommen wollten, zu wenig zu arbeiten, auch dann noch im Büro blieben, wenn sie ihr Zeitsoll erreicht hätten: «Aus Gruppendruck traut man sich dann zum Beispiel nicht mehr, am Freitag bereits um 16 Uhr zu gehen, obwohl man seine Wochenarbeitszeit bereits überschritten hat.»

Diese Skrupel würden besonders bei 
jenen vorkommen, die über ein hohes Arbeits-ethos verfügen. Gerade jene kämen durch die «Misstrauensarbeitszeit» noch stärker unter Druck, im Extremfall erlitten sie ein Burnout.

Das Problem sei ein grundsätzliches: «In einer Wirtschaft, deren Basis der Wettbewerb ist, müssen die Leute kämpfen», so Ivo Muri, «es geht um Konkurrenz und nicht mehr um Vertrauen. Vertrauen ist erst dann möglich, wenn Kooperation zur Basis eines Wirtschaftssystems wird.»

Als Vertrauensarbeitszeit definiert Ivo Muri, dass die Arbeitszeit erfasst wird, wobei der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer vertraut, dass dieser die Arbeitszeiten korrekt dokumentiert.

Neues Verständnis von Zeiterfassung bei der jungen Generation

Doch funktioniert das «Modell Arbeitszeiterfassung» auch noch für die junge Generation? Darüber gehen die Meinungen auseinander. «Ein 20-Jähriger versteht nicht mehr, was wir da machen», sagt Barbara Gisi. «Er stellt nach Feierabend ein Problem, das er im Büro hatte, auf ein Social-Media-Forum und kommt  am nächsten Tag mit einer – mal guten, mal weniger guten – Lösung ins Geschäft. Und er wird das nicht als Arbeitszeit sehen.» Ivo Muri dagegen betrachtet die Vermischung von 
Arbeit und Freizeit skeptisch: «Das entspricht nicht den Bedürfnissen des Menschen, es führt zu Überlastung. Auf lange Sicht werden auch junge Menschen so nicht arbeiten 
können.»

Fest steht letztlich vor allem eines: Die Arbeitswelt und ihre Gepflogenheiten wandeln sich schnell. «Neue Lösungen, allerdings im Interesse aller Beteiligten, zu finden, ist deshalb unumgänglich», so Barbara Gisi. 

Praxisbeispiel zum Thema Arbeitszeiterfassung:

«Wir haben einen Weg gewählt, der viel Freiheit, aber auch Controlling zulässt»

Service

  • Was das Gesetz zum Thema Arbeitserfassung vorschreibt: Art. 46 Arbeitsgesetz, Art. 73 Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz: www.admin.ch/ch/d/sr/822_111/a73.html
  • Bericht und Studien zum erwähnten Pilotprojekt: «Arbeitszeiterfassung im Bankensektor»: www.seco.admin.ch, im Suchfenster eingeben: Schlussbericht über das Pilotprojekt Vertrauensarbeitszeit bei Banken

 

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Franziska Meier ist Redaktorin und Produzentin mit langjähriger Erfahrung im Zeitungs- und Zeitschriftenbereich. Als Chefredaktorin des Magazins «fit im job» sowie als Fachredaktorin der Zeitschrift «HR Today» hat sie sich auf das Thema «Mensch, Arbeit & Gesundheit» spezialisiert. Zu ihren journalistischen Schwerpunkten gehören insbesondere Persönlichkeitsentwicklung, Coaching, Stressprävention und betriebliches Gesundheitsmanagement. Achtsamkeit praktiziert sie manchmal im Schneidersitz, öfter jedoch auf ihren Spaziergängen rund um den Türlersee.

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