HR Today 12/2015: Porträt

Kämpfernatur

Die karitativen Sozialwerke von Pfarrer Ernst Sieber erhalten gerade in der Weihnachtszeit erhöhte Aufmerksamkeit. Doch wer führt eigentlich das Personalwesen der 180-köpfigen Organisation? Marianne Mathyer heisst die Frau, die über verschiedene HR-Stationen und nach einer Lebenskrise auf der Sinnsuche zu den Sozialwerken Pfarrer Sieber gestossen ist. Seit einem Jahr ist die mehrfache Grossmutter «halbpensioniert» und baut nun ihre Nachfolge auf.

Wer den Namen Pfarrer Sieber hört, verbindet damit das Bild des umtriebigen Kirchenmannes, der sich höchstpersönlich um alle Obdachlosen der Stadt Zürich kümmert und ihnen im Winter einen warmen Platz im Pfuusbus anbietet. Ein Stiftungsmythos, der sich in den Köpfen festgesetzt hat. «Es ist tatsächlich nicht einfach zu vermitteln, dass Pfarrer Sieber nicht die allein treibende Kraft der Sozialwerke Pfarrer Sieber ist», erklärt denn auch Marianne Mathyer, HR-Leiterin der gleichnamigen Stiftung, gleich zur Begrüssung an der Rezeption des Sozialwerks.

Karitative Holdingstrukturen

Dass sich hinter den Stiftungswerken mehr verbirgt als bloss der Pfuusbus, verraten die zahlreichen Flyer und Broschüren, die im Empfangssaal der Stiftung aufliegen. Die Institutionen der Pfarrer-Sieber-Stiftung tragen alle freundliche Namen wie «Sunestube», «Ur-Dörfli» oder «Brot-Egge», sind aber Orte, an denen man durchaus auch befremdlichen Situationen ausgesetzt ist. Auch am Tag unseres Besuchs: Noch während wir im Parterre die Räume erkunden, um den idealen Ort fürs Fotoshooting zu finden, deponiert jemand vor der Eingangstür kommentarlos eine grosse weisse Matratze, mit der im ersten Moment niemand so recht etwas anzufangen weiss: «Eine Sachspende», erklärt Marianne Mathyer.

Nichts Ungewöhnliches, es komme öfters vor, dass vor der Eingangstür irgendwelche Gegenstände abgestellt würden. Eine relativ harmlose Episode, im Gegensatz zu den täglichen Gegebenheiten, mit denen sich Sozialpädagogen, Seelsorger oder das Pflegepersonal auseinandersetzen: «Ich könnte nicht direkt an der Front arbeiten», gibt die HR-Leiterin auf Nachfrage unumwunden zu. «Wenn ich zum Sune-Egge gehe, wo ein Teil der Administration untergebracht ist, versuche ich, den Kontakt mit den Patienten zu meiden.» Es seien dort viele Menschen mit mehrfachen Gebrechen: «Das Leiden dieser Menschen geht mir einfach zu nahe.»

Traurig stimmen sie besonders die Momente, wo jemand schon den ersten Schritt zur Reintegration geschafft hat, selbständig wohnt und dann wieder abstürzt. Neben aller menschlichen Tragik gebe es jedoch immer wieder auch Lichtblicke und Erfolgsstorys, über die sich Marianne Mathyer umso mehr von Herzen freut: «An einer Weihnachtsfeier im Sunedörfli haben ‹Ehemalige› erzählt, wie sie den Ausstieg geschafft und ein neues Leben mit Job, Freundin und Familie aufgebaut haben.» Auch die beteiligten Sozialarbeiter und -pädagogen seien zu Wort gekommen. «Das waren wahre Weihnachten für mich», strahlt sie.

Auf Umwegen ins HR

Ihr Weg ins HR und zu den Sozialwerken Pfarrer Sieber führt über verschlungene Pfade: So arbeitet sie in den 80er- und 90er-Jahren in verschiedenen Branchen als Sekretärin, wo sie hauptsächlich «monotone Arbeiten» erledigt und nur wenig soziale Kontakte hat: «Das hat mich sehr gelangweilt.» Es folgen Auslandaufenthalte in Australien und Nigeria und nach ihrer Rückkehr in die Schweiz weitere temporäre Stellen.

Der radikale Wechsel ins HR gelingt ihr bei der Löpfe AG, einem Zulieferanten der Textilindustrie, wo sie «ohne irgendwelche HR-Erfahrung» als Personalverantwortliche eingestellt wird und nebst der Lohnverarbeitung, der Personaladministration und der Zeitkontrolle mit Rekrutierungsaufgaben betraut wird. Das Neuland, das sie damit betritt, wird sie nicht mehr verlassen: «Mir war klar, dass ich im HR bleiben und mich in diesem Bereich weiterentwickeln wollte. Ein besseres Dienstmädchen für irgendeinen Chef zu sein – das wollte ich nicht mehr.»

Zur Person

Marianne Mathyer (64) wächst in Stäfa auf, wo sie ihre Schulzeit verbringt und einen Handelsdiplomabschluss erlangt. 1973 wandert sie nach Australien aus und betreibt dort vier Jahre lang einen Delikatessenladen. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz arbeitet Marianne Mathyer temporär, heiratet und verlässt 1979 das Land erneut, um sich in Nigeria niederzulassen. In den folgenden sechs Jahren «pendelt» sie mit kaufmännischen Temporäreinsätzen in der Schweiz zwischen beiden Ländern, bis sie Nigeria 1984 den Rücken kehrt. Als mittlerweile alleinerziehende Mutter von drei Kindern arbeitet sie weitere zehn Jahre als Chefsekretärin, bevor ihr 1995 bei einem Zulieferer der Textilindustrie der Sprung ins HR gelingt.
 Es folgen HR-Stationen als Personalassistentin bei der Evangelisch-reformierten Kirche in Zug und als Personalleiterin bei einem Spin-off des Industrieunternehmens Zellweger Luwa sowie in einem weiteren Industriebetrieb. 2009 übernimmt sie die HR-Leitung der Stiftungswerke Pfarrer Sieber.

Nach zwei Jahren folgt der Umzug von Uster nach Zug, wo sie mit ihrem neuen Lebenspartner und ihren Kindern einen Neustart wagt. In dieser Umbruchphase beschäftigt sie sich verstärkt mit Glaubensfragen und absolviert einen dreijährigen theologischen Kurs der reformierten Kirche: «Ich befand mich in einer Lebenskrise, hatte eine Scheidung hinter mir und habe einen Weg gesucht, wie ich mehr Halt finde.» Die Auseinandersetzung mit sich selbst und theologischen Fragen ebnen ihr den Weg als Personalassistentin und stellvertretende Kirchenschreiberin bei der Evangelischreformierten Kirche in Zug. Vier Jahre ist sie dort – und wäre wohl länger geblieben, wäre ihre Chefin nicht pensioniert worden und ihre Partnerschaft in die Brüche gegangen. Sie zieht zurück nach Niederuster, wo die Familie wieder näher zusammenrückt.

Personalwesen als Lebensschule

Eine neue Aufgabe findet Marianne Mathyer bei einem Ableger des Textilindustrieunternehmens Zellweger Luwain in Uster. Dort baut die damals 49-Jährige das HR von «null auf hundert» auf und betreut achtzig Mitarbeitende. Die Idylle hält nicht lange an, denn das Unternehmen wird an eine Investorengruppe verkauft und an der Börse kotiert. Strategie-Änderungen lassen nicht auf sich warten: Die Produktionsbereiche werden in Deutschland zusammengefasst und in der Schweiz aufgelöst. Es folgen Entlassungen und Betriebsschliessungen. Marianne Mathyer harrt bis zur letzten Stunde aus: «Ich half den Mitarbeitenden, Lebensläufe zu erstellen und Jobsuch-Strategien zu erarbeiten.» Das geht ihr nahe, denn «manche dieser Leute waren schon zwanzig Jahre mit dabei» und hätten mit diesen abrupten Veränderungen nicht umgehen können: «Es gab viele Krankheitsfälle.» Dennoch habe sie es gleichzeitig beeindruckt, wie unterschiedlich Menschen mit der selben Situation umgehen. Daraus habe sie gelernt, «wie wichtig es ist, die richtige Lebenseinstellung zu finden».

Ihre nächste Station ist wiederum ein Industriebetrieb, dieses Mal in Fällanden: Dort wird sie Nachfolgerin einer Personalleiterin, die diesen Posten mehr als zwanzig Jahre innehatte und pensioniert wurde. Während Marianne Mathyer noch damit beschäftigt ist, bei den Angestellten, die sich mit dem «Neuling» schwertun, Akzeptanz zu erlangen, ziehen im Unternehmensumfeld bereits wieder dunkle Gewitterwolken auf. Und zwar in Form eines Börsengangs und einer Reorganisation, in deren Folge ihr «Buchhalterkollege» zu ihrem Vorgesetzten wird. Eine ungute Konstellation, die sich mit der Kündigung auflöst.

HR-Chefin in «Halbpension»

Stellen abzubauen, Kündigungen auszustellen und sich mit den sozialen Auswirkungen konfrontiert zu sehen, davon hat Marianne Mathyer endgültig genug. Sie will sich fortan im Non-Profit-Bereich betätigen und bewirbt sich bei sozialen Institutionen. Sie erhält eine Zusage der Sozialwerke Pfarrer Sieber, wo sie sich nun seit über sechs Jahren für die 180 Mitarbeitenden einbringt. Das tut sie mittlerweile auch als «Halbpensionierte», denn die knapp 64-jährige hat ihr Arbeitspensum im vergangenen Jahr von 90 auf 50 Prozent reduziert und bezieht zusätzlich zu ihrem Lohn eine halbe Pension. Zeitgleich wurden zwei neue Mitarbeiterinnen eingestellt, die nun Mathyers HR-Aufgaben übernehmen.

Wann ist endgültig Schluss? «Vorläufig jedenfalls noch nicht», meint die mehrfache Grossmutter verschmitzt. Sie wolle weiterhin arbeiten, einfach nicht so viel wie bisher. So plant sie, ihr Pensum im kommenden Jahr auf 40 Prozent zu reduzieren – und wie lautet das Motto der lebenserfahrenen Personalfachfrau? «Ich kämpfe dagegen an, andere Menschen ständig zu verurteilen.» Besteige etwa ein etwas «schäbig» bekleideter Betrunkener den Bus Nr. 31, mit dem sie auf dem Arbeitsweg täglich das Zürcher Rotlichtviertel durchquert, merke sie oft, wie sie solche Menschen reflexartig verurteile. «Das Verurteilen von anderen ist sehr einfach.» Und davor sei leider niemand gefeit.

Die Stiftung

Die Stiftung Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber bietet in der Stadt Zürich mit der Gassenarbeit, den Anlaufstellen und den Notunterkünften niederschwellige Hilfsangebote für Menschen in Not an. Im stiftungseigenen Spital, den Suchthilfeeinrichtungen und den Notwohnsiedlungen finden Süchtige und Obdachlose Betreuung, während Betroffene im Therapiezentrum Sunedörfli und von den diakonischen Diensten bei der gesellschaftlichen Reintegration unterstützt werden.

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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