Burnout bei zu langen Arbeitszeiten – tragen Arbeitgeber die Verantwortung?
Über vielen gut qualifizierten und hochmotivierten Arbeitnehmern schwebt bedrohlich das Damoklesschwert des Burnout-Syndroms. Gehört es zur gesetzlichen Fürsorgepflicht des Arbeitgebers, seine Mitarbeitenden zu bremsen, sie vor Überarbeitung und Ausbrennen zu schützen? Und haftet er, wenn seine Mitarbeitenden zu hohe Arbeitszeiten aufweisen?
Das Bundesgericht hatte vor Jahren über eine Beschwerde von Ärzten öffentlicher Spitäler zu befinden. Diese machten geltend, sie würden durchschnittlich über 60 Stunden in der Woche arbeiten, bei Spitzen zwischen 80 und 100 Stunden. Dies führe zu chronischer Übermüdung und mit der Zeit zu schweren Gesundheitsschädigungen, weshalb die Verhältnisse mit den Gesundheitsschutzbestimmungen des Arbeitsgesetzes nicht vereinbar seien. Doch das Bundesgericht winkte ab. Wohl begrenze das Arbeitsgesetz die wöchentliche Arbeitszeit je nach Branche auf 45 bzw. 50 Stunden. Aber diese Beschränkung beruhe nicht allein auf Überlegungen des Gesundheitsschutzes, sondern berücksichtige allgemeine sozial- und kulturpolitische Aspekte. Eine gesundheitsrelevante übermässige Arbeitsbelastung würde «deutlich» über 50 bzw. 55 Stunden pro Woche liegen, «je nach Art der Tätigkeit, beruflichem Umfeld und Konstitution des Betroffenen». Arbeitspensen von gegen 100 Stunden pro Woche würden klar gegen die Gesundheitsschutzbestimmungen verstossen (Urteil 2A.407/2001). Zur Veranschaulichung: 100 Arbeitsstunden pro Woche entsprechen über 16,5 Stunden pro Werktag, bei 6 Werktagen die Woche.
Eine Strafnorm ohne jede Wirkung
Das Urteil widerspiegelt den fehlenden politischen Willen, die Arbeitszeitgrenzen des Arbeitsgesetzes durchzusetzen. Praktiken haben sich eingebürgert, die von vielen Unternehmen als legitime Umgehung der gesetzlichen Arbeitszeitlimiten verstanden werden: So gelten die Arbeitszeitbestimmungen beispielsweise nicht für «höhere, leitende» Angestellte, also Kadermitarbeiter. Viele Arbeitgeber erheben deshalb qualifizierte Mitarbeiter kraft Arbeitsvertrag formal zu «Kadermitarbeitern», ohne dass die entsprechenden, vom Bundesgericht definierten Kriterien einer Führungsposition nur ansatzweise gegeben wären (BGE 126 III 337).
Ebenso steht die verbreitete «Vertrauensarbeitszeit» weniger für Vertrauen als vielmehr schlicht für die Abschaffung der Arbeitszeiterfassung. Das Dokumentieren der «geleisteten (täglichen und wöchentlichen) Arbeitszeit inkl. Ausgleichs- und Überzeitarbeit sowie ihre Lage» ist aber absolut zwingende Arbeitgeberpflicht (Art. 73 Abs. 1 lit. c der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz). Dies scheint nicht allen HR-Verantwortlichen bekannt zu sein, ebensowenig wie die Tatsache, dass die Widerhandlung gegen die Arbeits- und Ruhezeitvorschriften mit Strafe bedroht wird (Gefängnis bis sechs Monate oder Busse; Art. 59 Arbeitsgesetz). Diese Strafnorm wird aber nicht respektiert und die Umgehung der Vorschriften durch die Untätigkeit der kantonalen Arbeitsinspektorate geschützt. Deren Kontrollen konzentrieren sich auf den (physischen) Gesundheitsschutz.
Vor diesem Hintergrund wäre es unaufrichtig, die Arbeitgeber pauschal für das sich epidemisch ausbreitende Burnout-Syndrom verantwortlich zu machen. Ohnehin haben betroffene Arbeitnehmer bei Beschreiten des Rechtsweges hohe beweisrechtliche Hürden zu bewältigen, welche die Arbeitgeber gegenüber Verantwortlichkeitsansprüchen abschirmen. Dazu vier konkrete Beispiele.
Es gibt keine medizinische Diagnose
1) Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD) führt in ihrer aktuellen Version das Burnout-Syndrom zwar unter Z73 als Einflussfaktor, aber nicht als eigenständige Krankheit. In rechtlicher Hinsicht stellt Burnout demnach keine medizinische Diagnose dar. Betroffene, die sich in der schwierigen Zeit von Psychotherapeuten unterstützen lassen, sollten zudem der Versuchung widerstehen, sich von diesen krankschreiben zu lassen. Denn vor Gericht gelten nur Diagnosen zugelassener Ärzte als beweisbildend. Insgesamt ist Betroffenen deshalb zu raten, sich rechtzeitig in ärztliche Behandlung zu begeben. Andernfalls könnten sie bei Fragen der Lohnfortzahlungspflicht oder bei Leistungen der Sozialversicherungen mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben.
2) Das Unterlassen präventiver Massnahmen kann Arbeitgebern nur vorgeworfen werden, wenn sie über die Gefährdungslage rechtzeitig informiert wurden. Burnout aber trifft oft die hochmotivierten und leistungsbereiten Arbeitnehmer, die Loyalen und Gewissenhaften, die sich nicht über Herausforderungen beschweren wollen. Dem eigentlichen Zusammenbruch geht zwar stets eine monatelange Leidenszeit voraus, aber die hohen Ansprüche an sich selbst verdrängen bei den Betroffenen das Problembewusstsein. Oft bemerken sie selber als Letzte, dass sie Fehler machen, übermässig gereizt reagieren, überfordert sind. Daher ersuchen sie ihren Arbeitgeber erst (zu) spät um Unterstützung. Der nicht informierte Arbeitgeber aber kann seiner Fürsorgepflicht nicht nachleben.
Anfälligkeit ist persönlichkeitsbedingt
3) Die Fürsorgepflicht von Arbeitgebern wird in Art. 2 der Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz konkretisiert. Diese Bestimmung verlangt, dass Arbeitgeber nicht nur die physische, sondern auch die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter zu schützen haben. In einer Wegleitung zu dieser Rechtsnorm weist das SECO aber darauf hin, dass Menschen, in Abhängigkeit von ihrer Persönlichkeit, unter Zeitdruck entweder eine höhere Arbeitsleistung oder ein Burnout-Syndrom entwickeln können. Diese für manche ernüchternde Analyse erwächst naturgemäss zum starken Argument für Arbeitgeber.
4) Eine Betrachtungsweise, die sich nur auf die Belastungen der modernen Arbeitswelt fokussiert, wird dem Burnout-Syndrom nicht gerecht. Andere Einflussfaktoren wie etwa familiäre, gesundheitliche oder finanzielle Belastungen könnten sich als ebenso wichtig erweisen. Zudem entsteht arbeitsbedingtes Burnout nicht nur infolge zu hoher Arbeitszeiten. Nicht zweckmässig organisierter Mitarbeitereinsatz oder übermässiger Arbeits- und Leistungsdruck vermögen Gerichte durchaus dazu zu bewegen, Arbeitgeber zu Wiedergutmachung zu verurteilen. Auch wenn solche Prozesse häufig unter den Titeln «Mobbing» oder «missbräuchliche Kündigung» geführt werden.