Neurobiologie im HR

Den Knoten im Kopf lösen

Die moderne Hirnforschung zeigt, wie Menschen 
ihre Potenziale optimal entfalten können und über sich selbst hinauswachsen. Dank 
diesem Wissen können Vorgesetzte die Rollen und Aufgaben ihrer Mitarbeitenden klarer definieren – und mit gesundem Feedback zum Erfolg führen.

Beginnen wir mit einem Experiment: Stellen Sie sich vor, Sie würden Ihre Unterschrift mehrfach hintereinander auf ein Blatt Papier zeichnen. Achten Sie darauf, wie Sie in Ihrer Vorstellung den Stift schwingen und welche Geräusche bei der Unterschrift entstehen. Jetzt wiederholen Sie den Vorgang in Gedanken – mit dem Unterschied, dass Sie nun die andere Hand verwenden.

Ihnen wird auffallen, dass es Ihnen sogar in der Vorstellung schwer fällt, mit der ungewohnten Hand normal zu unterschreiben. Der Grund: Ihnen fehlen die hierfür nötigen neuronalen Netzwerke. Sie müssen die ungewohnte Bewegung auch gedanklich erst einmal üben, bevor sie Ihnen gelingt.

Genau wie in diesem Beispiel geht es Ihren Mitarbeitenden, wenn sie sich neuen Herausforderungen stellen; wenn sich wirtschaftliche Rahmenbedingungen im Unternehmen verändern, die Geschäftsziele ambitionierter werden, Aufgabenbereiche sich erweitern oder neue Absatzkanäle gefunden werden müssen. Zu Beginn sind die Netzwerke zur Lösungsfindung im Kopf eines Mitarbeiters noch nicht stabil ausgebildet.

Doch was macht den Unterschied, dass es manchen Mitarbeitenden gelingt, sich bei neuen Herausforderungen optimal einzubringen, während es für andere Mitarbeitende eher mühsam wird?

Neuroplastizität: Das Gehirn kann sich bis ins hohe Alter verändern

Bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts waren viele Wissenschaftler davon überzeugt, dass ein Gehirn – ähnlich wie eine Hand oder ein Fuss – bei einem erwachsenen Menschen irgendwann fertig ausgebildet ist. Diese Überzeugung änderte sich, als in der Forschung bildgebende Verfahren eingesetzt wurden. Mit Magnetresonanz-Tomografen konnten Forscher kurz vor der Jahrtausendwende in das lebende Gehirn eines Menschen schauen.

Die wichtigste neue Erkenntnis der Hirnforscher ist ermutigend: Das Gehirn kann sich ein Leben lang, bis ins hohe Alter hinein verändern und Nervenzellen neu miteinander verbinden. Das Zauberwort für diese Fähigkeit heisst «Neuroplastizität».

Eine Studie unter Londoner Taxifahrern zeigt diese Fähigkeit, neue Netzwerke auszubilden, sehr eindrucksvoll. Um eine Taxilizenz zu erhalten, müssen die Fahrer in der Lage sein, alle 25 000 Strassen in London abzufahren und dabei die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu nennen.  Wissenschaftler haben die Hirnaktivität einiger dieser Fahrer verfolgt und herausgefunden, dass die untersuchten Gehirne einen überdurchschnittlich ausgeprägten Hippocampus haben – das ist der Teil des Gehirns, der eine zentrale Rolle beim Abspeichern von Informationen einnimmt.

Wo Kreativität, Impulskontrolle und Handlungsplanung herkommen

Das, was den Londoner Taxifahrern gelingt, können auch Sie und Ihre Mitarbeitenden. Unser Gehirn besteht aus 100 Milliarden Nervenzellen, die wiederum 100 Billionen Verbindungen miteinander eingehen. Besonders wichtig für Führungskräfte sind die Funktionen des so genannten präfrontalen Kortex. In diesem hochpotenten Bereich bilden sich all die Eigenschaften heraus, die einen guten Mitarbeiter oder eine gute Mitarbeiterin ausmachen: die Fähigkeit zu Empathie, Kreativität, Impulskontrolle, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können, vorausschauende Handlungsplanung oder auch der Gerechtigkeitssinn.

Damit Mitarbeitende die Netzwerke im präfrontalen Kortex optimal nutzen und verbessern können, benötigt ihr Gehirn neuroplastische Botenstoffe. Diese Botenstoffe werden im Mittelhirn ausgeschüttet und ergiessen sich bis in den präfrontalen Kortex hinein. Dort geschehen dann zwei Dinge. Erstens wird die Kommunikation der Nervenzellen untereinander aktiver. Zweitens werden neue Verbindungen geknüpft und bestehende Verbindungen verfestigen sich. Im Ergebnis beginnen sich ungenutzte Potenziale des Gehirns zu entfalten.

Die Rahmenbedingungen für 
Potenzialentfaltung

Wie können Sie jedoch die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Mitarbeitende mehr dieser neuroplastischen Botenstoffe ausschütten? Die Schlüssel hierfür sind Verbundenheit, Wachstum und Gestaltbarkeit.

Ein kindliches Gehirn schüttet pro Tag vielfach neuroplastische Botenstoffe aus. Diese Botenstoffe sorgen dafür, dass sich ständig neue Netzwerke im Gehirn herausbilden können – wie eine Giesskanne, die im Gehirn Dünger für Wachstum liefert. Dadurch wächst ein Kind jeden Tag etwas mehr über sich hinaus.

Bei den meisten Erwachsenen ist diese «Giesskanne» deutlich seltener aktiv. Entsprechend langsam bilden sich neue tragfähige Netzwerke aus. Deshalb nutzen Erwachsene häufig alte, schon seit Jahren verwendete Netzwerke. So tun manche Mitarbeiter auch immer das Gleiche – selbst dann, wenn neues Handeln erforderlich wäre.

Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, wie die «Giesskanne» neuroplastischer Botenstoffe auch bei Erwachsenen wieder aktiver werden kann:

1. Verbundenheit

Jeder Mensch trägt ein tiefes Bedürfnis nach Verbundenheit in sich. Bereits im Mutterleib machen wir die Erfahrung, verbunden zu sein, und in den Jahren nach der Geburt ist für viele Monate und Jahre fast immer jemand in der Nähe. Diese ersten Lebenserfahrungen verankern sich tief in unseren neuronalen Netzwerken und werden dadurch zu einem Grundbedürfnis. Simuliert man die soziale Ausgrenzung einer Testperson – und somit den Verlust von Verbundenheit –, erkennt man, dass im Kopf die gleichen neuronalen Zentren aktiv werden, die auch für körperlichen Schmerz verantwortlich sind.

Zeitgleich können Wissenschaftler nachweisen, dass ein übererregtes, ängstliches Gehirn schnell in einen ruhigeren Zustand wechselt, wenn die Testperson Verbundenheit wahrnimmt. In diesem Zustand wird der Botenstoff Oxytocin ausgeschüttet, ein Botenstoff, der das Angstzentrum des Gehirns beruhigt. Anders ausgedrückt: Durch Verbundenheit löst sich die Handbremse im Kopf, die erfolgreiche Veränderung und neues Lernen blockiert.

2. Wachstum und Gestaltbarkeit

Ein junger Mensch erlebt vor und nach der Geburt für viele Jahre, dass er wächst. Sowohl körperlich als auch in seinen Fähigkeiten. Auch die Erfahrungen von Wachstum und Gestaltbarkeit schreiben sich deshalb in die ersten menschlichen neuronalen Netzwerke ein und werden zu einem lebenslangen Grundbedürfnis.

In einem Versuchsaufbau mit kleinen Kindern, bei dem sich die Kinder zwischen Schokolade oder dem Spielen mit Holzklötzen entscheiden können, wählen die meisten Kinder die Klötze – der Hunger nach Gestaltung ist grösser als die vermeintlich attraktive Schokolade.

Wenn ein Mensch beginnt, sich etwas «zu eigen» zu machen, gibt er seinem Handeln viel mehr Bedeutsamkeit. Dann schüttet das Mittelhirn neuroplastische Botenstoffe aus und der präfrontale Kortex beginnt, aktiver zu werden und sich neu zu vernetzen. Das ist der Zustand, in dem sich Potenziale entfalten können.

Für Führungskräfte heisst das: Wenn sie ihren Mitarbeitern die Möglichkeit der Mitgestaltung geben, können diese ihre Potenziale erheblich einfacher entfalten. So entsteht eine Grundlage für neuronales Wachstum – und damit die Basis, neue Herausforderungen zu meistern.

Ein wichtiger «Nebeneffekt» von Gestaltbarkeit: Der Mensch bleibt gesünder. So zeigt eine Untersuchung in einem Altersheim, dass die Sterblichkeitsrate um bis zu 50 Prozent sinkt, wenn die Bewohner nur etwas mehr Einfluss auf ihren Alltag nehmen können.

Eine echte Feedback-Kultur 
führt zu Höhenflügen

Erfolgreiche Unternehmen verfügen meist über eine gute Feedback-Kultur. Damit ist nicht ein jährliches oder pro Quartal stattfindendes Feedback-Gespräch gemeint, sondern eine Kultur, in der Mitarbeitende einander unmittelbar mitteilen, was sie wahrnehmen. Sowohl das Positive als auch das Verbesserungswürdige.

Durch echte Feedback-Kultur erfahren Mitarbeitende Verbundenheit, Gestaltbarkeit und Wachstum. Aus neurobiologischer Perspektive ist das beeindruckend. Zurückgehaltene Botschaften – insbesondere wenn sie emotional stark aufgeladen sind – führen zu einer Übererregung im präfrontalen Kortex. Das stört wiederum die Funktion und Ausbildung neuronaler Netze. Feedback führt dazu, dass das Gehirn sich wieder in einen ausgeglichenen Zustand versetzt – und verbessert unmittelbar das eigene Empfinden.

Der Feedback-Empfänger oder die Feedback-Empfängerin kann durch das Gehörte sein Verhalten ändern und wächst. Die Feedback-Geberin oder der Feedback-Geber kann durch das Gesagte das Umfeld mitgestalten. Durch den intensiven Austausch können beide die möglichen einschränkenden Vorannahmen über den anderen korrigieren – es entsteht deutlich mehr Verbundenheit. All das führt wiederum dazu, dass beide Gehirne mehr neuroplastische Botenstoffe ausschütten.

Das Einführen einer gelebten Feedback-Kultur kann ein erster greifbarer Schritt hin zu einer echten Potenzialentfaltungs-Kultur sein: ein Umfeld, in dem Einzelne, ganze Teams und letztlich auch das ganze Unternehmen (wieder) über sich hinaus wachsen können.

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Sebastian Purps-­Pardigol

Sebastian Purps-­Pardigol war weltweit leitende Führungskraft. Inzwischen berät er Firmen, die ihre eigene Unter­nehmenskultur ­verbessern wollen. Als Autor interessiert ihn, wie die Erkenntnisse der Hirnforschung im Unternehmen und im Privatleben zum Einsatz kommen können. Sein jüngstes Buch: «Leben mit Hirn» (Campus, 2022)

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