Sibylle Jäger, die an der Kantonalen Berufsschule für Erwachsenenbildung Zürich Arbeitstechnikkurse anbietet, glaubt sogar, dass manche Menschen in chaotischen Umständen kreativer sind: «Was zählt, ist, was der jeweilige Mensch empfindet, der an diesem Pult arbeitet», erläutert sie. Kommen Gefühle der Hilflosigkeit ins Spiel, sei jedoch eine Änderung angezeigt, sind sich Christa Beer und Sibylle Jäger einig. Ein latentes Unwohlsein und die Frage «Schaffe ich das alles noch?» seien erste Anzeichen für eine Überforderung, die im schlimmsten Fall sogar in Handlungsunfähigkeit münde.
Meist seien es veränderte Arbeitsbedingungen, die vom geordneten Chaos zur Orientierungslosigkeit führten, sagt Sibylle Jäger: Wenn sich zum Beispiel das Berufsbild des Betroffenen sehr stark verändert und die eingeschliffenen Arbeitsstrategien nicht mehr greifen, kann schon die Einführung eines neuen Computerprogramms ein jahrelang funktionierendes Ordnungssystem über den Haufen werfen. Viele Mitarbeitende übernähmen aber auch einfach die Ablageordnung ihres Vorgängers oder fänden sich mit Unternehmensprozessen ab, die in sich nicht stimmig sind.
Sichtbar werde eine Überforderung spätestens dann, wenn sich Arbeitsvorgänge ohne jede Systematik kreuz und quer auf dem Pult abbilden, Informationen auf Vorrat gehortet werden und nicht mehr zwischen «wichtig» und «unwichtig» unterschieden wird, sagen die drei Aufräumexperten übereinstimmend. Am Ende fehlt dann meist sogar die Zeit, um die Papierstapel nach benötigten Dokumenten zu durchforsten, wie es das Beispiel des IT-Projektleiters veranschaulicht. Was aber tun in einer solchen Situation?
Mut zur Lücke
Das A und O einer guten Struktur liegt in der Kunst des Wegwerfens, so die einhellige Expertenmeinung. Ist die Übersicht verloren, gilt es sich zu fragen: Brauche ich das noch oder könnte ich es gebrauchen? Geschieht ein Unglück, wenn ich diese Information nicht mehr habe? «Was tatsächlich noch gebraucht wird, sollte sofort abgelegt werden. Alles andere kann ruhigen Gewissens weggeworfen werden», rät Christa Beer. Dabei sei allerdings auch der Mut zur Lücke gefragt. Eine ähnliche Meinung vertritt Willy Knüsel: «Wenn Sie den Nutzen eines Dokuments nicht glasklar sehen, werfen Sie es ganz einfach weg und hören Sie auf zu sammeln.» Im Zeitalter von Google & Co. suche man sowieso immer zuerst im Web und könne sich viele Informationen wieder beschaffen.
Wer dieses Vorgehen für zu radikal hält, solle sich einen «Vorpapierkorb» schaffen, mildert Knüsel seine radikale Forderung nach einer blanken Schreibtischfläche ab. Ein «Vorpapierkorb» ist ein Platz, wohin alle Dokumente wandern, die der Kategorie «Vielleicht könnte ich es einmal brauchen» zugeordnet werden. Einmal pro Jahr wird die untere Hälfte des Stapels weggeworfen. Auch Christa Beers «Rote-Punkte-Methode» funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip: Die fraglichen Dokumente werden mit einem roten Punkt versehen und in Mappen abgelegt. Sind sie nach drei Wochen immer noch nicht abgearbeitet, werden sie ganz einfach ausgemustert.
Wer effizienter arbeiten will, ordnet «Gleiches zu Gleichem». Zu erledigende Telefonanrufe werden in einer Mappe gesammelt und E-Mails blockweise abgearbeitet. Was nur wenige Minuten in Anspruch nimmt, wird sofort erledigt und kein Dokument ein zweites Mal in die Hand genommen: «Schon beim Lesen einer E-Mail muss ich mich entscheiden, ob ich sie brauche oder nicht. Im Posteingang befinden sich nur noch jene E-Mails, die noch nicht erledigt sind», empfehlen Sibylle Jäger und Willy Knüsel übereinstimmend.
Ähnliche Aufgaben «en bloc» abzuarbeiten lohnt sich auch betriebswirtschaftlich, denn wer dauernd zwischen verschiedenen Aufgaben wechselt oder sich unterbrechen lässt, braucht viel länger, um eine Aufgabe zu Ende zu bringen. «Störungen gehören zwar zum Arbeitsalltag», meint Willy Knüsel, «der Umgang mit ihnen will aber gelernt sein». Es gelte zwischen Aufgaben zu unterscheiden, die eine Unterbrechung erlaubten und solchen, die eine länger andauernde Konzentration erforderten. So habe beispielsweise der besagte IT-Leiter angefangen, zwischen sieben und neun Uhr Projektaufgaben zu erledigen und seine Termine zu organisieren. Freitag nachmittags habe er seine Projektkonzepte im Home Office ungestört vorangetrieben. Damit blieb tagsüber wieder Zeit, um seine Führungsaufgaben wahrzunehmen, die unter seiner allgemeinen Überlastung zunehmend gelitten hatten.
«Jedes Ding an seinen Platz» lautet ein anderes Ordnungsmotto, das in der Fachwelt unumstritten zu sein scheint: So plädieren alle drei Experten dafür, Akten, Ordner und Arbeitswerkzeuge an einem festen Ablageort zu verstauen und zwar immer am selben. «Damit entlastet man sein Hirn und erspart sich viel Stress», sagt Sibylle Jäger.
«Viele Leute sind andauernd damit beschäftigt, sich in Erinnerung zu rufen, wo sich welche Sachen befinden, anstatt sich mit den anstehenden Aufgaben auseinanderzusetzen.»
Eine einmalige Aufräumaktion zu starten oder dauerhaft Ordnung zu schaffen, ist nicht dasselbe: Die Tücken liegen in den sich ansammelnden Papierbergen. Deshalb gilt es, die Papierstapel immer im Auge zu behalten und mindestens einmal im Jahr gründlich aufzuräumen: «Für jedes Neue muss etwas Altes verschwinden», sagt Christa Beer. Es gelte, den Status Quo aufrecht zu erhalten. «Am Schluss dürfen keine unbearbeiteten Dinge mehr herumliegen, sonst funktioniert das Ordnungssystem langfristig nicht.» Für Willy Knüsel hingegen ist die Papiersammelgrenze spätestens dann erreicht, wenn sowieso keine Zeit da ist, um das angestaute Lesematerial durchzuarbeiten.
Für welche Methode man sich auch entscheidet: Das System muss zum Menschen passen, akzeptiert und machbar sein: «Wie viel Freiheit ein Mitarbeitender bei der Arbeitsplatzgestaltung hat, hängt sehr stark von der Unternehmenskultur und von den Rahmenbedingungen ab», sagt Sibylle Jäger. Dass aber viel mehr veränderbar ist, als man anfänglich glaubt, bestätigt auch das Happy End der Geschichte des IT-Projektleiters, der in wenigen Schritten seine Arbeitsorganisation umgekrempelt hat.
Buchtipp
Christa Beer: Bermuda-Dreieck Schreibtisch, Südwest Verlag, 2005, 128 Seiten.
Der Schreibtisch ist ein Bermuda-Dreieck, ein geheimnisvolles Gebiet, in dem Schriftstücke und anderes auf unerklärliche Weise verschwinden. Gerade waren sie noch da, schon sind sie von der Arbeitsfläche verschluckt. Das Buch Bermuda-Dreieck Schreibtisch hilft, Verschwundenes wieder sichtbar zu machen und zeigt mit zahlreichen Checklisten Wege aus dem Chaos auf.