«Eine Berufswahl wird nicht leichtfertig gefällt»
Seit Jahrzehnten rangiert die kaufmännische Lehre auf Platz eins der Berufsbildungswünsche. Doch ist sie für die kommenden Jahre gewappnet? Wir haben uns mit Christian Wölfle, Rektor der Wirtschaftsschule KV Zürich, unterhalten
«Wer eine KV-Lehre abgeschlossen hat, kann sich nicht einfach zurücklehnen», sagt Christian Wölfle, Rektor Wirtschaftsschule KV Zürich (Bild: zVg)
Der kaufmännischen Lehre haftet der Ruf an, sie sei eine dieser Lehren für Jugendliche, «die nicht wissen, was sie wollen». Was halten Sie von dieser Aussage?
Christian Wölfle: Das KV ist eine generalistische Ausbildung, bei der man sich in viele Richtungen entwickeln kann: etwa zum Buchhalter, zur Personalfachfrau oder zum Marketingleiter. Dank der Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems aber auch zum Dolmetscher, zur Lehrerin oder in einem akademischen Beruf. Es stehen viele Wege offen. Natürlich gibt es Jugendliche, die das KV nur machen, weil sie sich die Hände nicht in einer Werkstatt dreckig machen wollen.
Den Grossteil der Jugendlichen erlebe ich aber nicht so. Eine Berufswahl wird jedenfalls nicht leichtfertig gefällt, denn die Lehrstellensuche ist sehr aufwendig und wird sozusagen zum Familienprojekt. Ausserdem identifizieren sich die jungen Menschen mit dem Berufsweg, den sie eingeschlagen haben. Das erklärt auch ihren Berufsstolz. Wer die kaufmännische Lehre begonnen hat, beendet diese in der Regel. Es gibt nur wenige Lehrabbrüche.
Die Nachfrage ist jedenfalls nach wie vor ungebrochen. Rund ein Viertel aller angehenden Lernenden in der Schweiz entscheidet sich für eine KV-Lehre. Bei uns starten jedes Jahr über 50 neue KV-Klassen. Aktuell sind 4300 Lernende bei uns eingeschrieben, um die sich 200 Lehrpersonen kümmern.
Im Vergleich zu anderen Berufsgruppen ist die Arbeitslosenquote im kaufmännischen Bereich relativ hoch ...
Wer eine KV-Lehre abgeschlossen hat, kann sich nicht einfach zurücklehnen. Dessen muss sich jeder Lernende bewusst sein. Rund 70 Prozent der frischgebackenen Kaufleute wissen das und bilden sich unmittelbar nach ihrem Lehrabschluss weiter. Dass sie auf dem Markt begehrt sind, zeigt der relativ hohe durchschnittliche Einstiegslohn von etwa 4000 Franken. Ob und wie schnell jemand eine Anschlussbeschäftigung ans KV findet, hängt aber von vielen Faktoren ab, unter anderem von der geografischen Situation und der Mobilität.
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Es kommt darauf an, um welche Studien es sich handelt. Im angelsächsischen Raum etwa kennt man die duale Lehre zum Kaufmann beziehungsweise zur Kauffrau nicht. Dort gelten sie eher als angelernte Fachkräfte, die wenig qualifizierte Arbeit verrichten. Diese ist von der Automatisierung natürlich besonders betroffen. Dass die verbleibenden Arbeiten eine höhere Kompetenz erfordern, ist unbestritten.
Wie reagieren die Bildungsverantwortlichen auf diese Tendenzen?
Die Schweizerische Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen SKKAB hat kürzlich ein Projekt lanciert, das den kaufmännischen Beruf bis 2022 neu regelt. Mit der Reform sollen den Schülerinnen und Schülern vermehrt Handlungs- und Sozialkompetenzen wie vernetztes Denken, Kommunikation und Zusammenarbeit oder der Umgang mit Veränderungen vermittelt werden.
Dabei nimmt die Digitalisierung viel Platz ein, auch bei der Überlegung, wie der Unterricht künftig gestaltet wird. Ausserdem soll der Prüfungsdruck gegen Ende der Lehrzeit verringert werden und einzelne Prüfungen im Lehrbetrieb, an der Schule und bei CYP, dem Kompetenzzentrum für modernes Lernen der Schweizer Banken, sollen schon während der Lehre abgeschlossen werden.
Gefordert wird zudem, Inhalte zu entschlacken, weil der zu vermittelnde Stoff dichter geworden ist. Zeit, um beispielsweise im Rechtskundeunterricht einer Verhandlung am Gericht zu folgen, existiert beinahe nicht mehr. Wünschenswert ist auch eine bessere Abstimmung zwischen den Branchen, der Schule und den Betrieben.
Die Entwicklung schreitet voran. Sind die Bildungsinstitutionen nicht zu langsam?
Das Bildungswesen und die Schulen sind behäbig. Allerdings besteht auch Spielraum, um Neues auszuprobieren. So haben wir schon vor zehn Jahren Schulklassen mit Laptops ausgestattet oder Bilingual-Klassen eingeführt, wo Sprachbegabte den Schulstoff in zwei Sprachen vermittelt bekommen.
Mit «KV Immersiv» gibt es ein Projekt, bei dem Lernende aus Zürich einige Wochen in der Filiale eines Lehrbetriebs in der Region Nyon arbeiten, dort in die Schule gehen und während dieser Zeit in einer Gastfamilie wohnen. Im Gegenzug betreut unsere Schule einige Lernende aus Nyon.
In anderen Klassen können ausgewählte Fünftsemester-Lernende während zehn Wochen nach Polen gehen, um dort Aufgaben kennenzulernen, welche die Bank dorthin ausgelagert hat. Während dieser Zeit absolviert der Lernende seine Prüfungen aus der Distanz und hält den Kontakt zum Lehrer via Skype oder E-Mail.
Ein neues Projekt ist der Berufsmaturität-Fokus-Lehrgang, den Sie zusammen mit der UBS und der Credit Suisse lancieren, wobei die Lernenden im ersten Berufsjahr ausschliesslich zur Schule gehen. Wozu?
Einfachere Einstiegstätigkeiten, wo man Lernende «einfach machen lassen» konnte, existieren im Bankbereich immer weniger. Die Veränderungen in der Bankbranche führen dazu, dass die UBS und die Credit Suisse neben dem klassischen Lehrmodell nächstes Jahr einen Pilotlehrgang starten, der ermöglicht, dass die Jugendlichen schon über erste grundlegende Berufskenntnisse verfügen, bevor sie in den Lehrbetrieb eintreten.
So erwerben sie sich im einjährigen Blockunterricht beispielsweise vertiefte Sprachkenntnisse mit Sprachaufenthalten in England und Frankreich. Das KV-Modell führt sie schrittweise an die Lehrorte im Betrieb, in der Berufsschule und bei CYP heran und ist somit ein einfacherer Übergang von der Sekundarschule in die Arbeitswelt: Bis zu ihrem Betriebseintritt im zweiten Lehrjahr sind die Banklernenden in ihrer Persönlichkeit gereift und fachlich ausgebildet, um komplexere Aufgaben zu übernehmen. Etwa bei Gesprächen mit fremdsprachigen Kunden.
Zudem können sie sich während vier Tagen in der Woche voll und ganz auf den Betrieb fokussieren. Der zu vermittelnde Stoff ist derselbe wie in anderen Berufsmaturitätsklassen. Die Lernenden schliessen beim Banklehrgang einzelne Fächer bereits am Ende des Blockunterrichtsjahrs ab, was den Druck auf die Lernenden am Ende der Lehre verringert. Derzeit werden die Lehrverträge für Herbst 2019 abgeschlossen. Dann werden 24 Lernende in diesem Pilotprojekt starten. Eine Fortsetzung ist bereits 2020 geplant.
Liesse sich dieses KV-Modell auch auf andere Branchen übertragen?
Ja natürlich. Wenn sich die Bildungspartner untereinander abstimmen, ist ein solches Modell in jeder Branche anwendbar. Es wird aber sicher nicht zum Regelfall.
KV Zürich
Die Wirtschaftsschule KV Zürich ist eine vom Kaufmännischen Verband Zürich getragene Berufsfachschule. Mit 4300 Lernenden und knapp 200 Lehrenden ist sie eine der grössten Schulen der Schweiz. Kaufmännische Lernende mit Lehrbetrieb im Einzugsgebiet Zürich und Umgebung verbringen ihre KV-Schulzeit am Escher-Wyss-Platz, am KV Zürich, der ehemaligen KV Zürich Business School. Christian Wölfle (50) ist seit August 2018 Rektor der Schule.
Blockunterricht «Berufsmaturität Fokus»
Zum Start des Schuljahrs 2019/2020 im August 2019 lanciert die Wirtschaftsschule KV Zürich den Pilotlehrgang «KV Berufsmaturität Fokus». Ein Modell, bei dem Lernende das erste Lehrjahr voll und ganz an der Berufsschule absolvieren und im zweiten und dritten Lehrjahr je einen Tag in der Schule beziehungsweise vier Tage in der Bank tätig sind.
Während die Jugendlichen im Betrieb ganzheitliche Aufgaben übernehmen, erwerben sie sich das bankfachliche Wissen bei CYP, dem Kompetenzzentrum der Schweizer Banken für modernes Lernen.
Hinzu kommen vertiefende Projektwochen, Phasen selbstorientierten Lernens sowie Sportcamps. Die erste Klasse startet mit Lernenden der UBS sowie der Credit Suisse. Entwickelt wurde der Bildungsgang für Schülerinnen und Schüler, welche die Berufsmaturität in einer dreijährigen Berufslehre in Kombination mit praxisnaher Arbeit und Lernen erwerben wollen.