Das Böse ist immer und überall
«Rekordschaden durch Wirtschaftskriminalität», titelte der Blick, «Chefs unter Generalverdacht» die NZZ. Wirtschaftsdelikte scheinen sich zu häufen. Topmanager verschiedener namhafter Unternehmen sorgten für Aufsehen. Übertrieben? Nicht, wenn man einen Blick auf die Zahlen wirft.
«Wer nicht auf der Hochschule des Betrugs war, merkt nicht, dass er an der Nase herumgeführt wird.» (Bild: iStock)
Wirtschaftsdelikte verursachen immense Schäden. Das ist dem aktuellen KPMG Forensic Fraud Barometer zu entnehmen. Allein 2017 belief sich die Deliktsumme gesamthaft auf 460 Millionen Franken oder pro Fall auf etwa 20 Millionen Franken. Meist seien Kadermitglieder für Veruntreuungen verantwortlich. Meist handelten die Täter allein und meist verwendeten sie die ertrogenen Gelder, um einen aufwendigen Lebensstil zu finanzieren oder Schulden zu tilgen.
Die Skandale wiederholen sich. So gab in jüngster Zeit ein südkoreanischer Manager zu reden, der bei einem Industriekonzern 100 Millionen Dollar veruntreut hatte. Eine Bergbahn, von deren Firmenkonto mehrere Millionen verschwunden waren. Eine Managerin, die mit einem gefälschten Lebenslauf in eine Spitzenposition gelangte und 25 Millionen Franken von den Geschäftskonten eines flugnahen Betriebs abzweigte. Ein Aktienhändler, der sich verspekulierte und einer Grossbank einen Verlust von zwei Milliarden US Dollar bescherte.
Vielfach gelangen Betrugsdelikte erst an die Öffentlichkeit, wenn sie einen so grossen Schaden verursacht haben, dass darüber nicht länger hinwegzusehen ist. Der Grund: Viele Täter werden aus Furcht vor einem Reputationsschaden nicht angezeigt. «Täter nutzen dies aus, weil sie wissen, dass ein Unternehmen nicht in einem schlechten Licht dastehen will und deshalb keine Anzeige erstattet», sagt Profilerin Suzanne Grieger-Langer. Das Schweigen und Wegsehen der Firmen spielt Betrügern in die Hände.
Zu viel Vertrauen ins Topmanagement
Doch wie lässt sich das Schweigen, Wegsehen und Nicht-Wahrhaben-Wollen erklären? «Das Böse ist immer und überall», sagt Patrick Boss, Berater und Dozent im Zentrum Diagnostik, Verkehrs- und Sicherheitspsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Und: «Es gibt immer Schlupflöcher.» Kein System sei so perfekt, dass man es nicht untergraben könne. «Wer nicht auf der Hochschule des Betrugs war», so Profilerin Suzanne Grieger-Langer etwas ironisch, «merkt häufig nicht, dass er an der Nase herumgeführt wird.» Denn ein geübter Betrüger verschleiere seine Taten häufig erfolgreich: etwa, indem er mit seinen Worten eine Denkrichtung vorgebe und damit sein Gegenüber manipuliere. Der Manipulierte erkenne dies häufig nicht und vertraue seinem Gegenüber blind. Das sei besonders verhängnisvoll, wenn es sich bei den Manipulierenden um Top-Kader-Mitglieder handle.
Dass diesen zu sehr vertraut wird, findet auch Patrick Boss. Daneben ortet er auf Kaderstufe aber auch Sicherheitslücken: «Kontrollen werden dort häufig nicht durchgeführt oder greifen nicht.» Eine Fahrlässigkeit, findet Suzanne Grieger-Langer: «Sie würden auch nicht in ein Auto steigen, das keinen Blinker, keine Bremse und keinen Airbag hat.» Da sei es egal, wie gut der Fahrer sei. Es genüge nicht zu sagen, dass man immer unfallfrei gefahren sei. «Es kann immer einen unverschuldeten Auffahrunfall geben.»
Ein typischer Betrüger ist gemäss Patrick Boss männlich, seit vier bis sechs Jahren im Unternehmen tätig, bekleidet eine verantwortungsvolle Position und gilt als vertrauenswürdig und pflichtbewusst. Er stehe aber auch unter einem finanziellen, emotionalen oder leistungsbezogenen Druck, habe die Möglichkeit, einen Betrug zu begehen und finde Gründe, die Tat zu rechtfertigen. Warnsignale sind für Boss, wenn sich Mitarbeitende in einer schwierigen privaten Situation befinden. Etwa, wenn sie Schulden haben, ausserehelichen Beziehungen nachgehen, an Spielsucht leiden, Drogen oder übermässig viel Alkohol konsumieren oder ihren Lebensstil plötzlich verändern. Etwa, indem sie teure Autos, Kleidung, Schmuck und Uhren kaufen oder luxuriöse Ferien buchen. Auch auffällig lange Arbeitszeiten seien ein Betrugsindikator: «Um den Betrug zu verschleiern, wollen Täter oft alles selbst erledigen oder verzichten gar auf Ferien.»
Externe Kontrollinstanzen
Betrugsfälle zu verhindern, ist nicht einfach. Dennoch kann man sie erschweren. Etwa durch das Vier-Augen-Prinzip oder mit Doppelunterschriften bei Personen in Machtpositionen, findet Suzanne Grieger-Langer. «Meist handelt es sich bei Betrugsfällen ja um dumme Sachen. Beispielsweise, wenn jemand Geld von einem Geschäftskonto abzieht mit der Absicht, es später zurückzuüberweisen.» Zeitliche Verzögerungen bei der Überweisung steigerten zudem die Wahrscheinlichkeit, dass solche Unregelmässigkeiten auffielen.
Um Betrugsfälle zu vermeiden, hat Patrick Boss mit seinem Forschungsteam das sogenannte 4K-Modell entwickelt: Kontrolle, Köpfe, Klarheit und Kultur. Damit sind interne Compliance Checks gemeint, die Überprüfung von Handlungen, Backround-Checks, Codes of Conduct sowie Rules of Behaviour, die im Unternehmen ausnahmslos durchgesetzt werden. Ausserdem könne man weitere Massnahmen ergreifen: beispielsweise eine Whistleblowing-Hotline einrichten. Daneben sollten gemäss Patrick Boss Topmanager regelmässig von externen Kontrollinstanzen überprüft werden, insbesondere, «weil sich hochrangige Mitarbeitende oft nicht an den für die Mitarbeitenden geltenden Verhaltenskodex halten und sie über den internen Kontrollinstanzen stehen».
Als solche externe Kontrollinstanz agiert etwa die Firma Aequivalent, welche die Integrität von Arbeitnehmenden überprüft, indem sie Straf- und Betreibungsregisterauszüge einholt, die finanzielle Situation eines Mitarbeitenden überprüft oder Interessenskonflikte aufgedeckt. «Mit diesen Informationen ist das HR in der Lage, delikate Situationen anzusprechen und Hilfe anzubieten», sagt Aequivalent-Geschäftsführer Michael Platen, «bevor eine Situation eskaliert und sich damit zum nächsten Skandal auswächst.» Damit dies die Mitarbeitenden nicht als generelles Misstrauen interpretieren, müsse die Unternehmensleitung erklären, weshalb man das tue. Und aufzeigen, dass dies zur internen Kultur gehöre, der sich alle unterzuordnen haben. Auch die Geschäftsleitung.
Genau hinhören bei Andeutungen
Verdachtsmomente äussern sich anfänglich meist subtil. Etwa durch Andeutungen mehrerer Mitarbeiter. «Beim dritten Spruch sollte man dann schon genauer hinhören», meint Suzanne Grieger-Langer. Gehe man anonym oder offen gemeldeten Hinweisen nicht nach, schaffe man freie Bahn für Betrügereien. Und Gelegenheiten für Wiederholungstäter. Denn: «Wer keine Konsequenzen zu tragen hat, kann weiter betrügen – allenfalls an einem anderen Ort oder im grösseren Stil», konstatiert Michael Platen. «Mir sind mehrere Fälle von Tätern bekannt, die von einem anderen Unternehmen eingestellt wurden und dieselben Delikte nochmals begangen haben.»
Um solche Wiederholungen zu vermeiden, solle das Unternehmen entschieden handeln, empfiehlt Boss. «Eine Firma muss signalisieren, dass der Betrüger zur Verantwortung gezogen wird.» Dies gelte auch für vermeintliche Kavaliersdelikte: Etwa, wenn ich einen Anbieter bei einer Auftragserteilung begünstige oder Geschenke entgegennehme, die den erlaubten Rahmen sprengen. Soll eine besonders vertrauensvolle Position besetzt werden, lohne es sich, den Kandidaten zu durchleuchten, sagen Boss und Platen. Ob jemand zum Betrug neige, könne schon im Vorfeld erkannt werden. Etwa, wenn ein Arbeitgeber die Bewerbungsunterlagen genauer prüfe und ein gefälschtes Diplom zu Tage käme, ergänzt Platen. Solche Täuschungsabsichten verbergen für Patrick Boss und Suzanne Grieger-Langer eine kriminelle Energie, die grosse Zweifel an der Integrität des Bewerbers aufkommen lassen. Und Schlimmeres ist laut Suzanne Grieger-Langer zu erwarten: «Wer einmal seine innere Werteschranke überwunden hat, gleitet einen moralischen Abhang hinunter, wenn er nicht gestoppt wird».