«Mädchen fehlen Vorbilder»
Noch immer wählen Jungen und Mädchen stereotype Berufe, statt abseits vorgespurter Berufspfade ihren Interessen zu folgen. Dadurch zementiert sich auch der Fachkräftemangel. Der Zukunftstag, der am 8. November zum 18. Mal schweizweit stattfindet, will es richten. Geschäftsführerin Isabelle Santamaria im Gespräch.
«Es geht nicht an, dass Frauen automatisch in die Rolle der Kinderbetreuerin gedrängt werden», sagt Isabelle Santamaria, Geschäftsführerin des Zukunftstags. (Bild: zVg)
Frau Santamaria, die Hälfte der jungen Frauen und Männer in der Schweiz entscheidet sich immer noch für einen typischen Frauen- oder Männerberuf. Warum?
Isabelle Santamaria: Junge Menschen lassen sich oft von traditionellen Vorstellungen leiten, statt ihren Vorlieben, Interessen und Stärken zu folgen. Die gesellschaftlichen Rollenvorstellungen beeinflussen die Wahl immer noch sehr stark. Frauen wählen Berufe im Sozial- und Gesundheitsbereich, während Männer mehrheitlich in industriellen und technischen Berufen tätig sind. Entscheiden sich junge Männer und Frauen für einen «untypischen» Beruf, brauchen sie überdurchschnittlich viel Ausdauer, Mut und Zuversicht, um ihren Wunsch zu verwirklichen.
Besonders den Mädchen fehlen Vorbilder. Etwa in universitären Studiengängen, in denen Frauen unterrepräsentiert sind. Sie sind zudem häufiger mit Vorurteilen konfrontiert. Zum Beispiel, dass Mädchen weniger mathematisch begabt seien als ihre Kommilitonen. Und genau diese Klischees führen dann dazu, dass Frauen in standardisierten Leistungstests tatsächlich schlechter abschneiden als Männer.
Warum interessieren sich Jugendliche immer weniger für handwerkliche Berufe?
Die Jugendlichen kennen viele Berufe nicht, weil diese nicht mehr genügend sichtbar sind. Früher ging man auf dem Nachhauseweg an einem Handwerksbetrieb vorbei, heute befinden sich solche Unternehmen hauptsächlich im Industriegebiet. Wir haben keine Berührungspunkte mehr. Das trifft besonders auf Berufe zu wie Konstrukteurin oder Polymechanikerin. Oft entdecken Jugendliche diese Berufe fast zufälligerweise, etwa, wenn Firmen eine Schule besuchen und dort ihre Berufsgruppen vorstellen. Dass Jugendliche sich nicht für «untypische» Berufe begeistern können, stimmt nicht.
Ich erhalte jedenfalls gegenteiliges Feedback von Projektverantwortlichen des Zukunftstags. Etwa, dass Schülerinnen mit Begeisterung eine Mauer gebaut oder Schüler in einem Pflegeheim mit älteren Menschen geturnt hätten. Teilweise ist eher das Berufsimage ein Problem. Bei den Malern zeichnet sich interessanterweise ein Wandel ab. Mittlerweile bewerben sich mehr junge Frauen auf diese Lehrstellen, weil Malen mit Kreativität in Verbindung gebracht wird. Das ist für Mädchen interessant.
Wie wichtig ist die Bezahlung bei der Berufswahl? Typische Frauenberufe werden meist schlecht entlohnt – schreckt das junge Männer nicht ab?
Für junge Berufstätige kommt der Verdienst nicht mehr an erster Stelle. Viel wichtiger ist für sie, selbstbestimmt arbeiten zu können und etwas Sinnvolles zu tun. Ich bin zudem davon überzeugt, dass auch die Löhne steigen, wenn der Männeranteil in einer Berufsgruppe zunimmt und sich das Image positiv verändert.
Den Zukunftstag gibt es schon seit 18 Jahren. Heisst das nun, dass das Programm keine Wirkung zeigt – angesichts der hartnäckigen Stereotype?
Der Zukunftstag ist nur eine von vielen Massnahmen, um Stereotype aufzuweichen. Denn die Berufswahl wird durch viele Faktoren beeinflusst: zum Beispiel durch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Sozialisierung in der Familie oder im näheren Umfeld.
Wie fördert man Berufslaufbahnen abseits der Norm?
Eltern rate ich, die Kinder darin zu unterstützen, sich bei der Berufswahl an ihren Wünschen und Talenten zu orientieren. Sie sollten die Kinder in ihrer Wahl bestärken und ermutigen. Etwa, wenn ein Mädchen Kranführerin oder ein Junge Fachmann Gesundheit werden will. Das gilt übrigens genauso, wenn die Tochter einen Berufswunsch als Kleinkinderzieherin anbringt und oder der Sohn Profifussball-Ambitionen verfolgt.
Wichtig ist, dass die Wünsche und Neigungen des Nachwuchses unabhängig von Rollenbildern gefördert werden. Beispielsweise, indem die Eltern ihnen Kontakte vermitteln, Informationen beschaffen, mit ihnen Gespräche führen oder mit ihnen gemeinsam Berufsveranstaltungen besuchen.
Viele verbinden den Zukunftstag damit, dass Väter ihre Töchter an den Arbeitsplatz mitnehmen. Seit 2010 adressieren Sie Jungen und Mädchen gleichermassen. Weshalb dieser Richtungswechsel?
Wir wollten das Programm für beide Geschlechter öffnen und Jungen wie auch Mädchen ermöglichen, ihr eigenes Lebensmodell zu wählen. Es geht nicht an, dass Frauen automatisch in die Rolle der Kinderbetreuerin gedrängt werden, ohne dies zu wollen, und dass Männer sich nicht in der Familie einbringen können.
Deshalb haben wir das Programm mit dem Aspekt der offenen Lebensperspektiven und Laufbahnen ergänzt. Mädchen und Jungen sollen am Zukunftstag einen ersten, möglichst vorurteilslosen Einblick in die Arbeitswelt bekommen. Dass der Zukunftstag mittlerweile weit mehr als ein Programm ist, an das Eltern ihre Kinder mitnehmen, ist tatsächlich noch nicht überall durchgedrungen.
Am 8. November können Jugendliche an einem Seitenwechsel teilnehmen. Was beinhaltet das?
Jungen können aus zehn und Mädchen aus neun verschiedenen Spezialprojekten auswählen und untypische Berufslaufbahnen sowie Lebensentwürfe während eines Tages hautnah erleben. Mit dem Programm «ein Tag als Chefin» begleiten Mädchen eine hochrangige weibliche Führungskraft und erleben beispielsweise bei der Swissrail, wie eine Frau einen Kongress leitet, oder blicken in Begleitung von Simonetta Sommaruga hinter die Kulissen des Bundesrats.
Dieses Programm führen wir zum ersten Mal durch und bieten damit rund 500 Mädchen die Gelegenheit zu erfahren, was es heisst, Führung zu übernehmen. Die Bereitschaft von Firmen, Organisationen und Politikerinnen, mitzuwirken, war überwältigend.
Der Anlass ist aber kein Tag der offenen Tür ...
Es geht darum, den Beruf für Jugendliche erlebbar zu machen und nicht nur einen Tag anzubieten, an dem sich Schülerinnen und Schüler über ein Berufsbild informieren, ein Unternehmensvideo anschauen, einer Präsentation beiwohnen und dann Mittagessen gehen. Die Jugendlichen sollen etwas erleben, mithelfen und anpacken und nicht nur über die Schultern eines Erwachsenen schauen. So schweissen Mädchen einen Kerzenständer zum Mitnehmen und Jungs messen unter Anleitung eines Pflegefachmanns den Blutdruck oder Zuckerspiegel einer Patientin.
Für Unternehmen bedeutet eine Beteiligung viel Aufwand. Weshalb machen Firmen mit?
Talentierte Nachwuchskräfte stünden bereit, wenn die Jugendlichen einen Beruf ohne Rollendruck wählen könnten. Unternehmen, die Männern und Frauen attraktive Berufs- und Laufbahnperspektiven bieten, gewinnen geeignete Fachkräfte und stärken ihr Ansehen in der Öffentlichkeit. Zudem profitieren sie davon, dass gemischte Teams kreativer und erfolgreicher sind.
Zukunftstag
Am 8. November 2018 können Jugendliche erneut die Vielfalt des Berufslebens entdecken. Mit dem Seitenwechsel begleiten Schülerinnen und Schüler ihre Eltern in den Betrieb oder nehmen an einem Spezialprojekt teil. Der Zukunftstag richtet sich an Schülerinnen und Schüler der 5. bis 7. Schulklasse.
Sie sollen sich ihrer beruflichen Möglichkeiten bewusst werden und der Zukunftstag soll sie ermutigen, weitverbreitete Vorstellungen und Rollenbilder zu hinterfragen. Mit einem speziellen Programm können Jugendliche geschlechtsuntypische Berufe erkunden.
So setzen sich Mädchen beispielsweise mit Technik-, Informatik-, Bau-, Schreiner- und Waldberufen auseinander oder begleiten eine weibliche Führungskraft während eines Tages. Buben agieren dagegen als Pflegefachmann, Sozialpädagoge, Tierarzt, Ergotherapeut, Podologe oder Florist. Insgesamt bietet das diesjährige Programm 6400 Projektplätze für Mädchen und Jungen.