Gesundheit und Psychologie

ADHS bei Erwachsenen: Prädestiniert zum Burnout?

Experten schätzen, dass zwei bis fünf Prozent der Erwachsenen von ADHS betroffen sind. Ihre Sinnes- und Reizoffenheit ist Fluch und Segen zugleich.

Die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) beginnt laut Definition immer in der Kindheit. Eine veränderte Signalübertragung im Hirn bewirkt, dass äussere Reize ungenügend gefiltert werden. Noch bis vor einigen Jahren gingen Fachleute davon aus, dass sich die Störung mit Erreichen des Erwachsenenalters auswächst. Bei ca. 50 Prozent der Betroffenen bleibt sie jedoch bis ins Erwachsenenalter bestehen, wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung und oft mit anderem Erscheinungsbild. So nimmt die motorische Hyperaktivität tendenziell ab.

Typische Symptome von ADHS sind Unaufmerksamkeit, Impulsivität sowie Schwierigkeiten mit Planen, Organisieren und Strukturieren. Schätzungsweise zwei bis fünf Prozent der Erwachsenen in der Schweiz sind von ADHS betroffen.

Sprunghafte Genies und kreative Chaoten

Eine ADHS hat auch positive Seiten. Menschen mit ADHS sind oftmals sehr kreativ, begeisterungsfähig, einfühlsam und humorvoll. Ihr neugieriger Geist interessiert sich für viele verschiedene Dinge. Darum kann es Menschen ohne ADHS bisweilen schwer fallen, mit dem sprunghaften Genie oder der kreativen Chaotin mitzuhalten.

Durch Hyperfokussierung auf eine für sie spannende Aufgabe können ADHS-Betroffene Höchstleistungen erbringen. ADHS wird oft mit überdurchschnittlicher Intelligenz oder gar Hochbegabung in Verbindung gebracht. Die genauen Zusammenhänge zwischen ADHS und besonderen Begabungen sind jedoch wenig erforscht. Heiner Lachenmeier, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie: «Manchmal scheint es in den Praxen, dass ADHS-ler im Schnitt intelligenter als der Durchschnitt seien. Das kommt davon, dass sich intelligente ADHS-ler häufiger in Behandlung begeben als die weniger intelligenten.» Also ein klassischer «Bias». Tatsächlich sei die Intelligenzverteilung bei ADHS gleich wie bei nicht-ADHS: Nicht jeder Mensch mit ADHS ist ein Einstein, selbst wenn Einstein vermutlich eine ADHS-Disposition aufwies!

Referat und Podium: «ADHS bewegt und fordert heraus!»

Gastgeber: adhs 20+
Datum: Dienstag, 1. November 2016
Zeit: 19.30 Uhr
Ort: Zentrum Karl der Grosse, Zürich
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Energieraubende Anpassungsleistung

Das «Anderssein» mit ADHS verlangt von den Betroffenen, sich ständig an die Welt der «Normalen» anzupassen. Betroffene entwickeln Kompensationsmechanismen, um ihre Defizite zu überdecken: «Ich bin nicht vergesslich, ich muss nur alles aufschreiben.» Das kostet auf Dauer viel Energie. In 80 Prozent der Fälle leiden Erwachsene mit ADHS an einer psychischen Begleit- oder Folgeerkrankung. Depressionen, Angststörungen oder Burn-out führen nicht selten dazu, dass Erwachsene erstmals mit der Diagnose ADHS konfrontiert werden.
Trotzdem bleiben bei Erwachsenen 9 von 10 ADHS-Fällen unerkannt. Selbst Fachleute kennen die Symptome teilweise noch zu wenig. Nicht selten behandeln sie darum die Begleiterkrankungen anstatt die ursächliche ADHS.

4 Fragen an Heiner Lachenmeier, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie

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Sind Menschen mit ADHS durch ihre ständigen Anpassungsleistungen zum Burnout prädestiniert?

Bei Menschen mit ADHS werden Informationen weniger automatisch gefiltert. Das heisst, ihr Gehirn muss mehr Denkarbeit leisten, um zu einem Schluss zu kommen. Und sie brauchen mehr Zeit. Dazu kommt, dass das Übermass an Informationen eine gefühlsmässige Unsicherheit auslösen kann, die sehr energiezehrend ist. Viele Menschen mit ADHS versuchen daher kompensatorisch perfektionistisch zu sein – ADHS heisst lange nicht immer Chaos! Dazu kommen durch Missverständnisse weitere Hindernisse dazu. Alles in allem erhöht sich das Risiko für das, was gemeinhin Burnout genannt wird, erheblich. Andererseits gibt es auch gegenläufige Kräfte. Die erhöhte Begeisterungsfähigkeit und in gewissem Sinne die erhöhte Ablenkbarkeit können bei Menschen mit ADHS auch dazu führen, dass sie schwierige Situationen leichter wegstecken, und bis zu einer gewissen Limite regelrechte Stehaufmännchen sind.

Was ist mit anderen Begleit- und Folgeerkrankungen?

Selbst wenn man um seine ADHS weiss und gut damit umgehen kann, sind einige Dinge im Leben schwieriger als für andere Menschen. Mit einer unerkannten ADHS aufzuwachsen und als Erwachsener zu leben kann sehr belastend und frustrierend sein. Man stösst immer wieder an Grenzen, die man ohne Kenntnis über ADHS nicht verstehen kann. Das kann zu verschiedenen psychischen Folgekrankheiten wie Depressionen, Angststörungen oder Substanzmissbrauch führen.

In den letzten Jahren hört man den Begriff ADHS immer häufiger. Ist ADHS eine Modeerscheinung?

ADHS ist keine Modeerscheinung, sondern eine genetische Kondition. Diese kommt nicht häufiger vor, wird aber häufiger erkannt, also häufiger diagnostiziert. Wie jede andere medizinische Diagnose kann sie gelegentlich auch falsch gestellt werden. Es ist ein bekanntes Problem in der Psychiatrie, dass Diagnosen nur oberflächlich und anhand der Symptome gestellt werden: Man schaut nicht den Motor des Autos an, sondern nur, ob die Karosserie rostig ist. ADHS ist kein milieubedingtes Phänomen, sondern tritt quer durch alle Kulturen und gesellschaftlichen Schichten auf. Warum wird ADHS in einigen Teilen der Schweiz häufiger diagnostiziert als in anderen? Die Häufigkeit der Diagnosestellung hängt von mehreren Faktoren ab. Zum Beispiel vom Bildungsstand der Fachpersonen, und andererseits davon, wie sehr ADHS-Symptome im jeweiligen Umfeld auffallen. Im Tessin ist die Diagnose ADHS beispielsweise noch weniger anerkannt und auch weniger akzeptiert als in der Deutschschweiz. Oftmals werden nur die Folgeerscheinungen bemerkt, die ADHS selbst aber übersehen. (af)

Dr. med. Heiner Lachenmeier ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Er führt eine Praxis mit dem Schwerpunkt ADHS von Erwachsenen sowie Coaching für Führungspersonen mit ADHS und ist daneben als Botschafter für adhs 20+ tätig.

Welche Probleme kann es für Unternehmen und Vorgesetzte mit sich bringen, wenn Mitarbeitende von ADHS betroffen sind? Wie kann ein Lob als Kritik missverstanden werden? Was und wie viel dürfen HR-Verantwortliche oder Führungspersonen von Menschen mit ADHS fordern? Ein ausführliches Interview mit Heiner Lachenmeier erscheint im November.

Quellen

  • P. Baud et al. (2007) Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter. Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy 158(5):217-224.
  • T. Beck & L. Falcato (2009) ADHS bei Erwachsenen: häufig – gut therapierbar – oft verkannt. Sucht Magazin 6:36-41.
  • C. Kaufmann (2011) ADHS bei Erwachsenen: eine Herausforderung für die Gesundheitsversorgung. Schweizerische Ärztezeitung 92(20):761-763.
  • J. Krause & D. Ryffel-Rawak (2000) Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung im Erwachsenenalter. Psycho 26(4):209-219.
  • H. Lachenmeier (2014) Selbstwertwahrnehmung bei ADHS Erwachsener. Swiss Archives of Neurology, Psychiatry and Psychotherapy 165(2):47-53.
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Sandra Ammann ist Präsidentin von adhs 20+, der Schweizerischen Informations- und Beratungsstelle für Erwachsene mit ADHS. www.adhs.plus

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