HR Today Nr. 9/2018: Debatte

Arbeiten trotz Krankschreibung?

Nicht jeder Mitarbeitende sei arbeitsunfähig, nur weil er krankgeschrieben ist. Dieser Meinung ist Kommunikationsspezialistin Jelena Martinelli und nennt als Beispiel einen verunfallten Kollegen, der seinem monotonen Krankenhausaufenthalt dank Arbeit am Krankenhausbett entkommt. Seminarleiterin Regina Gretener gibt indes zu bedenken: Eine frühzeitige Rückkehr an den Arbeitsplatz sei meist unfreiwillig. Viele Arbeitnehmende befürchten, dass sie ihren Job verlieren, wenn sie länger fehlen.

Jelena Martinelli: «Arbeitgeber dürfen kranke Mitarbeitende nicht zur Arbeit zwingen. Aber eine Krankschreibung ist kein Arbeitsverbot.»

Mein Kollege Kurt verunfallte während der Skiferien. Er musste im Spital zusammengeflickt werden und fiel mehrere Wochen aus. Mein damaliger Chef besuchte ihn regelmässig und verkündete bald: «So, ich fahre jetzt zu Kurt und bringe ihm seinen Laptop.»

Ich staunte. Er bringt ihm seinen Laptop? Zum Arbeiten? Aber Kurt war doch krankgeschrieben!

Wenn es um die Frage geht, ob man trotz Krankschreibung arbeiten kann, ist krank nicht immer gleich krank. Eine Grippe ist etwas anderes als ein Hexenschuss und rheumatische Fussschmerzen unterscheiden sich von einer Migräne. Arbeit ist auch nicht gleich Arbeit. Ein Netzelektriker kann keine Masten hochklettern, wenn er sein Bein gebrochen hat. Ein Texter schreibt hingegen auch mit einem bis zur Hüfte reichenden Gips einen Blogartikel. Kurt war zuständig für das Reporting und dafür muss er das Bett nicht zwingend verlassen.

Krankheit oder Unfall sind nicht nur für die betroffene Person belastend: Im Betrieb müssen fast immer die Kollegen einspringen. Wie stark die Zusatzbelastung ist, unterscheidet sich von Fall zu Fall. Manchmal reicht es, auszurichten, Herr Müller werde sich melden, sobald er wieder genesen sei. Manchmal müssen ganze Schichten umverteilt werden. Im schlimmsten Fall bleibt die Arbeit liegen, Kunden werden nicht bedient und Einnahmen fallen weg. Es ist deshalb im Interesse des Betriebs und der Arbeitnehmer, dass krankheitsbedingte Absenzen so kurz wie möglich ausfallen. Natürlich soll sich niemand krank zur Arbeit schleppen.

Arbeitgeber dürfen kranke Mitarbeitende auch nicht zur Arbeit zwingen, denn das Gesetz schreibt dem Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Angestellten vor. Aber eine Krankschreibung ist kein Arbeitsverbot. Damit stellt der Arzt lediglich eine Prognose, wie lange ein Arbeitnehmer der Arbeit fernbleiben wird. Diese kann eintreffen oder auch nicht. Zudem mag man zwar für einige Tätigkeiten wie Elektromasten hochklettern krankgeschrieben sein, kann andere Arbeiten aber durchaus erledigen: Etwa im Home-Office Schadensmeldungen archivieren, bevor ich meine Rückenübungen mache.

Nachdem Kurt eine Weile im Bett zugebracht hatte, fiel ihm die Decke auf den Kopf. Trotz Fernsehprogramm und Zeitschriftenstapel wurden seine Tage immer länger und seine Gedanken trüber. Im Job ein Experte, war er jetzt nur ein Patient, der seine Zeit damit verbrachte, vor sich hin zu grübeln. Unter Menschen zu sein, gebraucht zu werden – das fehlte ihm. Deshalb war Kurt froh, wenigstens ein paar Stunden pro Tag produktiv zu sein. Es tat seiner Psyche gut und der Genesung keinen Abbruch. Wenn sich alle einig sind und es nicht übertreiben, können Arbeitnehmende trotz Krankschreibung arbeiten.

Regina Gretener: «Vielfach stehen Mitarbeitende unter extremem Druck. In manchen Firmen zählt nur die Wirtschaftlichkeit eines Mitarbeitenden.»

Diskussionen über Arbeitseinsätze trotz Krankschreibung kenne ich aus meiner langjährigen Tätigkeit im Personalbereich und meiner Arbeit als Therapeutin und Coach. Es stellt sich für mich die Frage, weshalb Arbeitnehmende früher zur Arbeit zurückkehren wollen. Sind sie wirklich schneller gesund, als vom Arzt angenommen? Ist der Druck vom Arbeitgeber der Grund für eine frühzeitige Arbeitsaufnahme? Oder haben sie gar Angst vor einem Jobverlust?

Wenn sich Arbeitnehmende früher wieder fit fühlen, können sie entgegen der Krankschreibung zur Arbeit erscheinen. In vielen Fällen ist ihre Gesundheit jedoch noch nicht ganz wiederhergestellt. Kehren sie zu früh an den Arbeitsplatz zurück, hat das oft Auswirkungen: Etwa steigende Fehltage durch die Verschlimmerung einer Krankheit, Rückfälle, eine geringere Arbeitsmotivation wegen mangelnder Energie, Schmerzen, die Chronifizierung einer Krankheit oder ein erhöhtes Unfallrisiko. Vielfach stehen Mitarbeitende unter extremem Druck.

In manchen Firmen zählt nur die Wirtschaftlichkeit eines Mitarbeitenden. Die Menschlichkeit ist verloren gegangen. Arbeitnehmende haben häufig grosse Angst, ihren Job zu verlieren und erscheinen deshalb unter den fragwürdigsten gesundheitlichen Zuständen zur Arbeit. Fürsorgepflicht und Präsentismus treffen aufeinander. Doch was sind Fürsorgepflicht und Präsentismus?

Die Fürsorgepflicht stützt sich auf Artikel 328 OR, wonach der Arbeitgeber verpflichtet ist, die Persönlichkeit der Arbeitnehmenden zu achten, zu schützen und auf deren Gesundheit gebührend Rücksicht zu nehmen. Der Arbeitgeber verpflichtet sich ausserdem, angemessene Massnahmen zu ergreifen, damit gesundheitliche Beeinträchtigungen gar nicht erst eintreten und wenn, dann nicht verschlimmert werden.

Auf der anderen Seite der Präsentismus: Also Arbeitnehmende, die zur Arbeit erscheinen, obwohl es ihnen nicht gut geht. Während einer Krankschreibung ist der Arbeitnehmende verpflichtet, alles zu tun, was seiner Genesung dient und zu vermeiden, was ihr schadet. Bei infektiösen Krankheiten gefährdet der Präsentismus zudem die Gesundheit der Kollegen durch eine Ansteckung. Daher müssen sich Arbeitnehmende auskurieren und dürfen erst an den Arbeitsplatz zurückkehren, wenn sie sich gesund fühlen.

Dafür braucht es aber eine vertrauensvolle Firmenkultur: Mit Stellvertretungen und einem Arbeitsklima, dass es den Arbeinehmenden erlaubt, auch mal krank zu sein, dabei ernst genommen zu werden und nicht in ständiger Angst vor einer Kündigung leben zu müssen.

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Jelena Martinelli hat als Abteilungsleiterin für SwissRe und Swisscom gearbeitet. Heute ist sie selbstständige Texterin, freie Journalistin und Autorin, und berät KMU zu Kommunikationsfragen. www.martinellitext.com

Jelena Martinelli hat als Abteilungsleiterin für SwissRe und Swisscom gearbeitet. Heute ist sie selbstständige Texterin, freie Journalistin und Autorin, und berät KMU zu Kommunikationsfragen. www.martinellitext.com

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Regina Gretener ist Therapeutin, Coach und Seminarleiterin. Sie hat sich mit ihrer Firma "Mensch Sein" auf Persönlichkeitsentwicklung spezialisiert und bietet therapeutische Begleitungen an.

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