Regina Gretener: «Vielfach stehen Mitarbeitende unter extremem Druck. In manchen Firmen zählt nur die Wirtschaftlichkeit eines Mitarbeitenden.»
Diskussionen über Arbeitseinsätze trotz Krankschreibung kenne ich aus meiner langjährigen Tätigkeit im Personalbereich und meiner Arbeit als Therapeutin und Coach. Es stellt sich für mich die Frage, weshalb Arbeitnehmende früher zur Arbeit zurückkehren wollen. Sind sie wirklich schneller gesund, als vom Arzt angenommen? Ist der Druck vom Arbeitgeber der Grund für eine frühzeitige Arbeitsaufnahme? Oder haben sie gar Angst vor einem Jobverlust?
Wenn sich Arbeitnehmende früher wieder fit fühlen, können sie entgegen der Krankschreibung zur Arbeit erscheinen. In vielen Fällen ist ihre Gesundheit jedoch noch nicht ganz wiederhergestellt. Kehren sie zu früh an den Arbeitsplatz zurück, hat das oft Auswirkungen: Etwa steigende Fehltage durch die Verschlimmerung einer Krankheit, Rückfälle, eine geringere Arbeitsmotivation wegen mangelnder Energie, Schmerzen, die Chronifizierung einer Krankheit oder ein erhöhtes Unfallrisiko. Vielfach stehen Mitarbeitende unter extremem Druck.
In manchen Firmen zählt nur die Wirtschaftlichkeit eines Mitarbeitenden. Die Menschlichkeit ist verloren gegangen. Arbeitnehmende haben häufig grosse Angst, ihren Job zu verlieren und erscheinen deshalb unter den fragwürdigsten gesundheitlichen Zuständen zur Arbeit. Fürsorgepflicht und Präsentismus treffen aufeinander. Doch was sind Fürsorgepflicht und Präsentismus?
Die Fürsorgepflicht stützt sich auf Artikel 328 OR, wonach der Arbeitgeber verpflichtet ist, die Persönlichkeit der Arbeitnehmenden zu achten, zu schützen und auf deren Gesundheit gebührend Rücksicht zu nehmen. Der Arbeitgeber verpflichtet sich ausserdem, angemessene Massnahmen zu ergreifen, damit gesundheitliche Beeinträchtigungen gar nicht erst eintreten und wenn, dann nicht verschlimmert werden.
Auf der anderen Seite der Präsentismus: Also Arbeitnehmende, die zur Arbeit erscheinen, obwohl es ihnen nicht gut geht. Während einer Krankschreibung ist der Arbeitnehmende verpflichtet, alles zu tun, was seiner Genesung dient und zu vermeiden, was ihr schadet. Bei infektiösen Krankheiten gefährdet der Präsentismus zudem die Gesundheit der Kollegen durch eine Ansteckung. Daher müssen sich Arbeitnehmende auskurieren und dürfen erst an den Arbeitsplatz zurückkehren, wenn sie sich gesund fühlen.
Dafür braucht es aber eine vertrauensvolle Firmenkultur: Mit Stellvertretungen und einem Arbeitsklima, dass es den Arbeinehmenden erlaubt, auch mal krank zu sein, dabei ernst genommen zu werden und nicht in ständiger Angst vor einer Kündigung leben zu müssen.