Heft Nr. 11/2015: Arbeit und Recht

Arbeitszeit oder Freizeit? – 
Eine Gratwanderung

Die Frage hat es in sich. Wenn sich vor Gericht oder wegen einer Kontrolle des Arbeitsinspektors Freizeit als Arbeitszeit entpuppt, drohen hohe Nachforderungen. Was gilt für Geschäftsreisen, Geschäftsessen oder das Phänomen der ständigen Erreichbarkeit? Ist die bezahlte Pause Arbeitszeit? Und die Weiterbildungszeit? Wie sind 
inaktive Wartezeiten zu qualifizieren, die für eine Pause zu lang, für sinnvolle Freizeitnutzung aber zu kurz sind?

Als Arbeitszeit gilt die Zeit, während der sich der Arbeitnehmer «zur Verfügung des Arbeitgebers zu halten hat» (Art. 13 Abs. 1 ArGV 1). Der Arbeitsweg ist keine Arbeitszeit.{1} Auch die Pause nicht, und zwar auch dann nicht, wenn sie bezahlt wird – es sei denn, sie muss am Arbeitsplatz verbracht werden.{2} Deshalb ist es wichtig, auch die bezahlte Pause mit dem Zeiterfassungssystem nicht als Arbeitszeit zu erfassen. Sonst werden zu hohe Arbeitszeiten ausgewiesen. Schlechtestenfalls mahnt der Arbeitsinspektor dann die Missachtung von Höchstarbeitszeiten ab.

Inaktive Phasen

Weiterbildung, die angeordnet wird oder aufgrund der beruflichen Tätigkeit von Gesetzes wegen zu erfolgen hat, ist Arbeitszeit.{3} Ebenso die Geschäftsreise.{4} Was aber gilt für die inaktiven Phasen der auswärtigen Weiterbildung oder Geschäftsreise? Sicher: Isst oder schläft man im Hotel oder entspannt man sich im Flugzeug, würde man das in der Freizeit auch zu Hause tun. Aber bei echter Freizeit könnte man seinen Aufenthaltsort frei wählen. Sind pro auswärts verbrachtem Tag also 24 Stunden als Arbeitszeit zu erfassen? 2007 formulierte das Arbeitsgericht Zürich kategorisch, Geschäftsreisezeit sei Arbeitszeit, «unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer dabei auch noch Arbeit leistet oder nicht».{5} Nach dem allgemeinen Tenor in der Literatur gilt: Wer auf der Dienstreise ein Auto lenkt, arbeitet. Wer im Zug, beim Essen, im Hotel, im Flughafen, im Flugzeug inaktiv Zeit verbringt, arbeitet nicht. Trotzdem soll pro Tag einer mehrtägigen Geschäftsreise mindestens die vertragliche Soll-Arbeitszeit als Arbeitszeit angerechnet werden, damit Geschäftsreisende im Ergebnis nicht sogar Minusstunden anhäufen.{6}

Meiner Ansicht nach bleibt bei diesem Ansatz unbeachtet, dass die betroffenen Arbeitnehmer ihre Zeit zwar inaktiv verbringen, sie aber doch dem Arbeitgeber zur Verfügung stellen.{7} Sehr unscharf scheint auch der Unterschied zwischen Arbeitspausen {8} und anderweitigen Arbeitsunterbrüchen: Das Arbeitsgericht Zürich unterschied 1997 bei einem Carchauffeur zwischen Pausen und «ein- bis mehrstündigen Wartezeiten». Entscheidend sei, ob der Arbeitnehmer über die inaktive Zeit frei verfügen könne. Dies sei hier der Fall gewesen. Denn der Carchauffeur hätte lesen oder ein Restaurant besuchen können. «Auch die Tatsache, dass die Wartezeiten an verschiedenen Orten anfielen und der Kläger deshalb keine Möglichkeit hatte, diese im Kreise seiner Familie oder seiner Freunde zu verbringen, führt keineswegs zur Schlussfolgerung, die Wartezeiten seien deswegen zur entschädigungspflichtigen Präsenzzeit zu zählen.» Das Gericht entschied gegen den Carchauffeur und legte fest: «Die üblichen Wartezeiten bei einem Carchauffeur zwischen zwei Fahrten stellen keine speziell entschädigungspflichtigen Arbeits- oder Präsenzzeiten dar.»{9}

Arbeit auf Abruf

Auch bei Arbeit auf Abruf wird die Wartezeit zu Hause inaktiv verbracht. Darf der Arbeitnehmer den Abruf nicht ablehnen, ist die Rufbereitschaftszeit aber zu vergüten.{10} Obschon also zu entschädigen, gilt die Rufbereitschaft paradoxerweise dennoch nicht als Arbeitszeit.{11} Beim inhouse verbrachten Pikettdienst dagegen wird die inaktiv verbrachte Rufbereitschaft als Arbeitszeit gezählt.{12} Was gilt vor diesem Hintergrund für den Homo digitalis, den die moderne Arbeitswelt bestens kennt und der gar nicht mehr abschaltet? Ständig greift er nach seinem Telefon und checkt seine Mails. Auch zu Hause und am Wochenende. Ist das Arbeit auf Abruf? Möglicherweise schon, wenn der Arbeitgeber die ständige Erreichbarkeit verlangt. Hingegen nicht, wenn der Mitarbeiter freiwillig, vielleicht aus Gewohnheit oder gar Langeweile unaufgefordert ständig seine geschäftlichen Mobilgeräte überwacht. Das eigentliche Lesen oder Bearbeiten der E-Mails, auch wenn es nur Splitterzeiten von wenigen Minuten beansprucht, stellt dagegen klarerweise Arbeitszeit dar – wie generell jede, auch länger dauernde Arbeit zu Hause. Erfolgt diese Telearbeit nach 23 Uhr oder am Sonntag, erweist sie sich als verbotene Sonntags- oder Nachtarbeit. Manche Arbeitgeber konfigurieren ihre E-Mail-Server deswegen so, dass sie nach Dienstschluss keine E-Mails mehr an die mobilen Geräte der Mitarbeiter weiterleiten.

Wir fassen zusammen: Bei Arbeit auf Abruf wird Wartezeit bezahlt, die keine Arbeitszeit ist, aber beim inhouse geleisteten Pikettdienst gilt die inaktiv verbrachte Zeit als Arbeitszeit. Obschon die eigene Zeit dem Arbeitgeber zur Verfügung gestellt wird, ist die inaktiv verbrachte Flugreisezeit nicht als Arbeitszeit zu qualifizieren, die reguläre Pause dagegen schon, wenn man den Arbeitsort nicht verlassen darf. Inaktiv verbrachte Wartezeit innerhalb einer Arbeitseinheit wiederum gilt nicht als Arbeitszeit. Alles klar? – Sie haben Recht, die geltende Rechtslage und Gerichtspraxis bringt mehr Verwirrung als Klärung.

Orientierung bietet letztlich nur die Ausarbeitung eines betrieblichen Reglements oder Merkblatts, beispielsweise unter dem Titel «Abgrenzung von Arbeitszeit und Freizeit». Konzeptionell sollten Unternehmen dabei drei Fragen stellen:

  1. Welche betrieblichen Funktionen weisen typischerweise inaktive Phasen im arbeitsbezogenen Prozess auf?
  2. Welche dieser Phasen gelten bei uns als Arbeitszeit?
  3. Bezahlen wir diese inaktiven Zeiträume – und nach welchen (allenfalls abgestuften) Kriterien?

Fazit

Das genaue gedankliche Durchdringen dieser Fragen kann zu erstaunlich präziser Beseitigung von Rechtsunsicherheiten führen – auch wenn man in manchen Fällen die Durchsetzbarkeit entsprechender Regelungen offen lassen muss. Ein Beispiel: Beim Geschäftsessen mit einem Kunden ist Geschäftliches zu besprechen. Aber essen müsste man auch, wenn man den Kunden nicht treffen würde. Würden Sie also folgende Klausel für zulässig halten? «Geschäftsessen mit Kunden gelten als Arbeitszeit, abzüglich einer Stunde, die als Freizeit gilt.»

HR Today-Serie Arbeitszeiterfassung: Teil 7

Innerhalb der Rubrik «Arbeit und Recht» beleuchtet HR Today in jeder dritten Ausgabe das kontroverse Thema Arbeitszeiterfassung. 
Der Hauptbeitrag von Dr. Heinz Heller, der juristische Aspekte der Arbeitszeiterfassung beleuchtet, wird von Ivo Muri durch eine Replik aus der Perspektive der Zeitwirtschaftssystem-Praxis ergänzt.

  • {1} Art. 13 Abs. 1 ArGV 1.
  • {2} Art. 15 Abs. 3 ArG.
  • {3} Art. 13 Abs. 4 ArGV 1.
  • {4} Art. 13 Abs. 2 ArGV 1.
  • (5) 
AGer ZH vom 21.08.2007 (Entscheide des Arbeitsgerichts Zürich, 2007, Nr. 25).
  • {6} 
Vgl. zum Ganzen ROLAND MÜLLER et al.: 
Arbeitsort und Arbeitsweg, AJP 2015, S. 575.
  • {7} Vgl. dazu die Formulierung in Art. 15 Abs. 1 ArGV 1.
  • {8} Vgl. Art. 15 ArG.
  • {9} AGer ZH vom 24.09.1997 (ZR 2000, Nr. 67).
  • {10} BGE 124 III 249.
  • {11} Vgl. Art. 15 Abs. 2 ArGV 1.
  • {12} Art. 15 Abs. 1 ArGV 1.
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Dr. Heinz Heller 
praktiziert als Fachanwalt SAV Arbeitsrecht. Er berät überwiegend Arbeitgeber und Manager.

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