HR Today Nr. 10/2016: Handicap

«Das Handicap ausblenden»

Die HR-Fachfrau Serafina Zimmermann kennt das Thema Handicap aus HR- und aus Betroffenensicht. Von ihren Berufskollegen wünscht sie sich mehr Offenheit für den Diversity-Ansatz.

«Wir haben Treppen im Haus – auf Wiederhören.» Bei ihrer Stellensuche vor eineinhalb Jahren bekam Serafina Zimmermann, heute stellvertretende HR-Leiterin des Amts für Hochbauten der Stadt Zürich, diese Worte oft zu hören. Durch ein Geburtsgebrechen ist die 29-Jährige auf den Rollstuhl angewiesen. Wenn sie sich für eine Stelle interessiere, rufe sie deshalb den Arbeitgeber vorab an, um zu fragen, ob das Gebäude rollstuhlgängig sei. Viele Arbeitgeber würden schon beim ersten Telefon abblocken, wenn sie das Wort Rollstuhl hörten.

Es gibt jedoch Ausnahmen. Auch, nachdem Zimmermann die Stellenausschreibung des Amts für Hochbauten Zürich sah, erkundigte sie sich am Telefon über die Rollstuhlgängigkeit des Gebäudes. Die Antwort der damaligen HR-Chefin nach kurzem Überlegen: «Ehrlich gesagt – ich weiss es nicht. Aber wenn wir Sie einladen, wird das schon irgendwie gehen.» Das habe sie völlig überrascht, erzählt Zimmermann. Heute schwärmt sie über die Offenheit des Arbeitgebers – damals mischten sich in die Freude auch eine gewisse Unsicherheit und die Frage: Was, wenn es nicht geht?

«Dann bauen wir es einfach um»

Es ging. Schon bei ihrer Ankunft im Amt für Hochbauten sei ihr die Offenheit der Mitarbeitenden aufgefallen. «Sie waren ausgesprochen hilfsbereit, fragten mich, ob sie jemanden holen oder mir den Lift zeigen sollten.» Eine Woche später erschien Zimmermann zum zweiten Vorstellungsgespräch mit der Direktorin des Amts für Hochbauten. Zimmermanns Unsicherheit hatte sich noch nicht ganz gelegt, denn das Gebäude war damals nicht wirklich rollstuhlgängig. Das sprach sie im Gespräch mit der Direktorin an. Die prompte Antwort: «Dann bauen wir es einfach um – wir haben hier genug Leute, die das können.» Zimmermann scheint darüber immer noch etwas erstaunt zu sein. «Sie sagte das, als sei es das Normalste auf der Welt. In diesem Moment wusste ich, dass ich am richtigen Ort bin.»

Einen Monat später trat Zimmermann ihre neue Stelle als stellvertretende HR-Leiterin an. Innerhalb dieses Monats hat das Amt für Hochbauten die schwere Eingangstür mit einem elektrischen Türöffner versehen, den Schalter für ein Torgitter nach unten verlegt, Tritte ausgeebnet, Schwellen eingebaut. Das sei eine Riesenleis­tung, sagt Zimmermann. «Es war schön zu sehen, dass der Umgang so unkompliziert sein kann – wenn man das möchte.»

Das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich ist für Zimmermann bezüglich Umgang mit behinderten Mitarbeitenden ein Musterbeispiel – und eher eine Ausnahme. In ihrer eigenen beruflichen Karriere hat sie schon viel Gegenteiliges erlebt.

Appell für mehr Offenheit

Zimmermanns Botschaft an ihre Berufskollegen ist deshalb ein Appell für mehr Offenheit: «Ich wünsche mir, dass man versucht, das Handicap auszublenden und die Augen auf die Fachkompetenzen zu richten, die ein Mensch mitbringt.» Oftmals verschliesse das HR die Augen aber schon von Anfang an, wenn sich jemand bewerbe, der im Rollstuhl sei. «Weil das Büro nicht perfekt eingerichtet ist oder es irgendwo eine Stufe hat – obwohl man ja nicht weiss, ob diese Hindernisse für den Bewerber eventuell überwindbar wären.»

Manchmal brauche es entgegen den Erwartungen des Arbeitgebers nur kleine Dinge, um einem Menschen im Rollstuhl das Leben enorm zu erleichtern. Das fange bei der Möblierung des Büros an. In Zimmermanns Büro sind die Dossier-Schränke beispielsweise nicht aufeinandergetürmt, sondern auf ihrer Höhe platziert. Zudem wurde die Büroeinrichtung so angeordnet, dass Zimmermann mit dem Rollstuhl besser durchkommt. «Das Umstellen hat niemandem wehgetan», sagt Zimmermann – und fügt lachend hinzu: «Unser Büro sieht nun sogar noch viel besser aus als vorhin.»

Natürlich gebe es auch Fälle, wo eine Zusammenarbeit tatsächlich unmöglich sei: zum Beispiel bei Büroräumlichkeiten in einem Altbau, in dem es keinen Fahrstuhl gebe. Das könne sie akzeptieren, sagt Zimmermann. «Aber es macht einen riesigen Unterschied, ob mir die Person am anderen Ende der Leitung zuhört oder gleich von Anfang an abblockt.» Zimmermann wünscht sich deshalb gerade von ihren HR-Berufskollegen, dass sie sich dem Diversity-Ansatz öffnen. «Es kann ein grosser Gewinn sein, unterschiedliche Menschen im Unternehmen zu haben. Auch solche mit einer Behinderung.»

Als stellvertretende HR-Leiterin betreut Zimmermann die 140 Mitarbeitenden des Amts für Hochbauten Zürich, davon sind 80 Prozent Architekten. Das zweiköpfige HR-Team des Amts, bestehend aus dem HR-Leiter und Zimmermann selbst, betreut «ganz klassische HR-Aufgaben»: Rekrutieren, Verträge vorbereiten, Zeugnisse schreiben oder Case Management. – «Wir sind die erste Anlaufstelle für Mitarbeitende und Vorgesetzte.»

Neben ihrer Tätigkeit als stellvertretende HR-Verantwortliche engagiert sich Zimmermann für Procap, den grössten Schweizer Mitgliederverband für Menschen mit Behinderung. Zimmermann ist seit über fünf Jahren Moderatorin beim Projekt «Mal seh’n». In dieser Rolle leistet sie Sensibilisierungsarbeit zum Thema Körperbehinderung und Rollstuhl bei Menschen aller Altersgruppen. «Das geht von Primarschülern über Berufsschüler bis hin zu Architekturstudenten.» Im Rahmen des Projekts besuchen die Moderatoren Schulklassen und Studiengänge. Zuerst wird jeweils ein altersgerechter Film zum Thema Behinderung gezeigt. Danach können die Teilnehmer den Moderatoren Fragen stellen. «Unser Ziel ist es, Berührungsängste abzulegen und auf spielerische Art die Hemmschwellen zu senken.» Je nach Publikum kommen auf Zimmermann unterschiedliche Fragen zu. Beim jüngeren Publikum sind es oft Fragen nach ihren persönlichen Gefühlen, während bei Architekturstudenten das technische Interesse an Bau, Planung und Normen überwiegt.

Was ihr Wohntraum wäre, wenn es keine Grenzen gäbe, werde sie von angehenden Architekten oft gefragt. Ihre Antwort: Ein schöner, rollstuhlgängiger Altbau mit Lift und Fischgrätenboden, der nicht uneben ist. – «Ein Ding der Unmöglichkeit», sagt Zimmermann und lacht herzhaft.

Unsicherheit abbauen

Auch in Zimmermanns Alltag spiegelt sich das Interesse von Architekten an ihrer Situation. «Mittlerweile kommen viele Projektleiter zu mir, zeigen mir ihre Baupläne und fragen mich als Betroffene nach meiner Meinung.» Daran merke sie, dass die Mitarbeitenden wirklich interessiert sind – auch daran, ihre Arbeit gut zu machen. Zimmermanns Anliegen, die Gesellschaft für das Thema Handicap zu sensibilisieren, bringt sie so ein Stück weit in ihren HR-Alltag ein. «Da ich eine offene Person bin und unkompliziert auf Leute zugehe, glaube ich, dass ich ihnen ein grosses Stück Unsicherheit nehmen kann.»

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