Interview über Technostress

«Digitaler Stress hat für Unternehmen kritische Konsequenzen»

David Bausch, Experte für digitalen Stress, spricht über die Herausforderungen des digitalen Wandels, den Einfluss auf die Gesundheit und plädiert unter anderem für den Einsatz von «Digital Stress Pioneers» um digitale Belastung zu mindern.

Herr Bausch, inwiefern unterscheidet sich Technostress von anderen Formen von berufsbedingtem Stress?

David Bausch: Digitaler Stress, auch als Technostress bekannt – ein Begriff, der in der Forschung seit den 1980er Jahren verwendet wird, fusst auf dem transaktionalen Stressverständnis, das stark von Richard Lazarus (A. d. Red.: amerikanischer Psychologe, Entwickler des Stressmodels von Lazarus) geprägt wurde. Stress ist demnach höchst individuell und entsteht aus dem Zusammenspiel von Stressor und Bewältigungsstrategien. Herkömmlicher Stress, den ich auch als «analogen» Stress bezeichne, entsteht in verschiedensten Alltagssituationen, wobei hier der Stressor im genannten Wechselspiel überwiegt. Anders ausgedrückt sind die notwendigen Bewältigungsstrategien, um Stress nicht wahrzunehmen, nicht in ausreichendem Mass vorhanden. Im beruflichen Kontext können Stressoren zum Beispiel Zeit- und Leistungsdruck sein. Beim digitalen Stress hingegen sind es Technologien oder digitale Systeme, die als Stressoren wirken. Die wahrgenommene Komplexität und das oftmals nicht intuitive Handling von Technologien und digitalen spielen hierbei eine grosse Rolle. Aber auch potenzielle Jobunsicherheit durch KI-Anwendungen oder intelligente digitale System ersetzt zu werden, hat seit der Bekanntgabe von ChatGPT und anderen KI-Anwendung für viele Menschen an Bedeutung gewonnen. Die Vermischung von Beruf- und Privatleben, die ständige Erreichbarkeit, häufige Hard- und Software Abstürze oder die Sorge, bei der Arbeit (insbesondere im Homeoffice) digital überwacht zu werden, können ebenfalls zu Stress führen.

In Ihrem Buch bezeichnen Sie Stress als ein Prozess, und nicht als eine Konsequenz. Wieso?

Da war sich die Forschung lange nicht einig. Für mich ist Stress ein Prozess, der sich über eine individuelle Zeitspanne entwickelt. Der Beginn des Stressprozesses liegt oft an einem Punkt, an dem die Belastung für uns noch nicht klar erkennbar ist. Die spürbare Belastung tritt erst ab einem bestimmten Moment ein, was dann von viele Menschen als Konsequenz wahrgenommen wird. Auch das erwähnte transaktionale Stressverständnis nach Lazarus unterstützt die Sichtweise von Stress als Prozess.

David Bausch

Dr. David Bausch absolvierte ein BWL-Studium in Mainz und einen Management-Master in Mönchengladbach, wobei er sich auf digitale Transformation und Personalmanagement spe-zialisierte. Während seines Studiums arbeitete er als HR-Berater in einem internationalen DAX-Konzern. Nach dem Studium promovierte er an der Universität Koblenz-Landau mit ei-ner Arbeit über digitale Veränderungen am Arbeitsplatz, insbesondere deren Auswirkungen wie digitalen Stress und Mitarbeiterwiderstand. Gleichzeitig war Bausch als Transformationsmanager tätig und gründete Digi2place, um sei-ne Forschungs- und Praxiserfahrungen zu teilen. Aktuell lehrt er an der Hochschule Mainz in den Bereichen Führung und Change Management und publiziert als Autor und Forscher über Personal- und Innovationsmanagement. Er führt den Podcast «Digi2place – Der Weg zur Ar-beitswelt 4.0» und berät als Experte für digitales Stressmanagement, wobei er Unterneh-men bei der Bewältigung digitaler Transformationsherausforderungen unterstützt.

 

Welche Faktoren tragen Ihrer Meinung nach zu Technostress bei?

Der für mich entscheidende Faktor ist die Geschwindigkeit der Veränderung. Digitaler Stress wird seit etwa 40 Jahren erforscht, aber die Relevanz für die Praxis – und damit für Millionen von Menschen – gewann das Thema insbesondere nach dem enormen Digitalisierungsschub, den wir während der Covid-19-Pandemie erlebt haben. Wir befinden uns in einem Zeitalter, in dem digitale Entwicklungen nicht mehr linear verlaufen. Die Zyklen der Veränderung werden immer kürzer, was zu einem exponentionellen Fortschritt in digitalen Entwicklungen und Technologie führt. Das bedeutet, dass neuer digitale und technologische Innovationen immer schneller Einfluss auf unser Arbeits- und Privatleben nehmen. Der enorme Fortschritt der KI-Entwicklung im Jahr 2023 ist hierfür ein gutes Beispiel. Wir müssen lernen, mit dieser neuen Geschwindigkeit Schritt zu halten. Nur wenn uns das gelingt, können wir effektive Bewältigungsstrategien entwickeln, die uns ermöglichen, mit den genannten Stressoren umzugehen.

Was sind die Folgen für die Betroffenen?

Die Konsequenzen von digitalem Stress sind durch zahlreiche in Studien belegt. Bei Individuen lassen sich diese in physische und psychische Beeinträchtigungen einteilen. Zu den körperliche Beeinträchtigungen zählen Muskelkrämpfe, Kopfschmerzen oder Gelenkschmerzen, aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atembeschwerden. Auch negative Auswirkungen auf die Schlafphasen, wie Schlaflosigkeit und Schlafstörungen, sind als Resultat von digitalem Stress dokumentiert. Die körperlichen Auswirkungen sind jedoch oft ein Spiegel der psychischen Belastung, wobei emotionale Erschöpfungszustände, die bis zu Burn-out- und Angst-Erkrankungen reichen können, eingehend untersucht wurden. Problematisch ist, dass diese Entwicklungen häufig schleichend verlaufen und die Warnsignale schwer zu erkennen sind.

… und für die Unternehmen?

Digitaler Stress hat auch für Unternehmen kritische Konsequenzen. Die Arbeitsqualität und -zufriedenheit der Mitarbeitenden leiden, das organisationale Engagement nimmt ab und es können Rollenkonflikte im privaten Umfeld entstehen, verstärkt durch die ständige Erreichbarkeit. Aus der Perspektive des Transformationserfolgs besteht ebenfalls ein Risiko. Viele Unternehmen befinden sich in einem individuellen Transformationsprozess, der den Digitalisierungsgrad erhöht, aber leider auch das Niveau des digitalen Stresses und der allgemeinen digitale Arbeitsbelastung steigen lässt. Neuere Studien weisen darauf hin, dass das zu Widerstandsverhalten gegenüber der Transformation führen kann. Transformationen scheitern oft nicht an der Qualität der vorgenommenen Veränderungen, sondern daran, dass die betroffenen Personen im Transformationsprozess nicht angemessen unterstützt werden. Somit kann Widerstandsverhalten, das auf digitalen Stress zurückzuführen ist, den Erfolg einer Transformation bremsen oder im schlimmsten Fall sogar verhindern.

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«Wir müssen lernen, mit der Geschwindigkeit der Digitalisierung Schritt zu halten. Nur wenn uns das gelingt, können wir effektive Bewältigungsstrategien entwickeln, die uns ermöglichen, mit den neuen Stressoren umzugehen.»

 

 

 

In Ihrem neuen Buch gehen Sie auf einzelne Stressoren ein, darunter auch die Komplexität. Ist Technostress bei älteren Generationen ein grösseres Risiko als bei den jüngeren «Digital Natives»?

Ja, Komplexität und Unsicherheit sind zwei Stressoren, die eng miteinander verknüpft und besonders für die ältere Generation eine erhöhte Belastung darstellen. Es wäre jedoch ein Trugschluss zu glauben, dass «Digitale Natives» von dieser Belastung verschont bleiben. Auch wenn sie die Belastung wahrnehmen, unterscheidet sich deren Intensität.

Wie kann HR dazu beitragen, ein gesundes Verhältnis zwischen Technologie und Arbeitnehmerwohl zu fördern?

Diese Frage könnte ein ganzes Buch füllen. Ich werde dennoch versuche es kurz zu erklären: Der transformationalen Arbeit im HR kommt eine enorm wichtige Rolle zu. Seit Porters Konzept der Wertschöpfungskette wird HR vornehmlich als unterstützende Funktion gesehen. Dieses Verständnis muss und wird sich meiner Ansicht nach wandeln. Zwar kann HR nicht den klassischen Wertbeitrag wie andere Unternehmensbereiche leisten, doch erfolgreiche HR-Arbeit wird an einem neuen Leadership-Verständnis im Unternehmen deutlich. Das beeinflusst nicht nur die Personal- und Führungskräfteentwicklung, sondern auch deren Rekrutierung. Ein Bewusstsein für die Bedeutung mentaler Gesundheit ist hier essenziell. Ein zukunftsfähiges Gesundheitsmanagement spielt dabei eine Schlüsselrolle. Meiner Meinung nach besteht in vielen Unternehmen ein grosser Handlungsbedarf in diesem Bereich. Studien zeigen bereits den enormen Einfluss der Mitarbeitergesundheit auf den Unternehmenserfolg. Auch Führungskräfte müssen den strategischen Wert gesunder Mitarbeitender erkennen. Nicht ohne Grund steigen die Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen seit Jahren stark an. Ich gehe davon aus, dass dieser Trend noch viele Jahre anhalten wird, bis der Stellenwert mentaler Gesundheit neu bewertet wird. Gleichzeitig muss die Employability der Belegschaft für die Zukunft sichergestellt werden. Die immer schnelleren Veränderungsgeschwindigkeiten erfordern, dass Menschen regelmässig mit neuen, häufig digitalen Arbeitstätigkeiten konfrontiert sind. Hier muss die HR-Arbeit einen Rahmen schaffen, damit die gesamte Organisation wirtschaftlich erfolgreich bleibt.

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«Ich gehe davon aus, dass aus KI ein neuer Stressor entsteht: Die Verlässlichkeit.»

 

 

 

In «Digitaler Stress» gehen Sie auf einige Bewältigungsstrategien ein und schlagen vor, technologischen Support und «Digital Stress Pioneers» einzuführen. Wie können diese helfen?

Bewältigungsstrategien sind ein wesentlicher präventiver Erfolgsfaktor, organisational unterstützt werden sollte. Technologischer ist bisher zwar in vielen Organisationen für klassische Hard- und Software-Problemen vorhanden, doch sollte dieser Service erweitert werden, um gezielte Hilfestellung auch bei Unsicherheiten im Umgang mit digitalen Systemen zu bieten. Eine Möglichkeit wäre die Schaffung einer Schnittstelle zu Self-Service-Angeboten, die es Mitarbeitenden ermöglicht, eigenständig Lösungen für ihre Fragen zu finden, wenn gerade kein Ansprechpartner verfügbar ist. Der «Digitale Stress Pioneer» hingegen ist meine Weiterentwicklung des Ersthelfer-Konzepts und des «Mental Health First Aid»-Angebots. Wenn ich digitalem Stress Vorträge halte oder Workshops durchführe, geht es nicht nur um die Frage, wie dieses Wissen in der Organisation bewahrt und anderen Organisationsmitglieder zugänglich gemacht werden kann, sondern auch darum, ob digitalem Stress nicht strategisch und präventiv begegnet werden kann. Die Antwort ist, dass es viele Ansätze gibt, die im Rahmen der Organisationsentwicklung unterstützen können, doch müssen diese auch bekannt sein, um berücksichtigt zu werden. Der «Digitale Stress Pioneer» versucht genau das zu gewährleisten. Er bietet ein unterstützendes Gesundheitsprogramm an, die beispielsweise mittels Impulsvorträgen sensiblisiert und praktische Umsetzung in Workshops ermöglicht. Er berät auch die eigenen Change- und Organisationsentwickler, damit diese in ihren aktuellen Transformationsprojekten die fachliche Expertise berücksichtigen, die es braucht, um digitalem Stress vorzubeugen. In gewisser Weise ist mein Ziel, Menschen so mit meinem Wissen auszubilden, dass sie mich «nicht mehr brauchen».

Welche Rolle könnten zukünftige Technologien wie KI dabei spielen, Technostress zu verstärken?

Was die Entwicklungen im Bereich KI angeht, so müssen diese genau beobachtet werden. Ich gehe davon aus, dass daraus ein neuer Stressor entsteht: Die «Verlässlichkeit». Wir werden uns zukünftig immer häufiger fragen – oder sollten es zumindest –, ob sich KI zuverlässig anwenden lässt. Welche Datengrundlage nutzt sie und welche vielleicht nicht? KI-Systeme werden zwar viel Arbeit abnehmen, sind aber nur so gut wie die Daten, mit denen sie trainiert wurden. Deshalb ist es für mich wahrscheinlich, dass daraus ein Stressor entsteht, wenn ich die Kontrolle abgebe und mich auf KI-Anwendungen verlassen muss. Doch wie dieser sich genau auswirken wird, zeigen die kommenden Jahre. 10. …

Und könnten sie auch digitalen Stress verringern?

Das ist eine enorm spannende Frage, auf die ich noch keine perfekte Antwort habe – besonders wenn es um die Verringerung geht, weil sich der technologische Fortschritt hier kaum aufhalten lässt. Die Anwendungen müssten noch intuitiver gestaltet werden, um die darin enthaltene Komplexität zu reduzieren. Klingt in der Theorie einfach, ist aber für Softwareanbieter wie zum Beispiel SAP nur sehr schwer umsetzbar, da deren Systeme natürlich eine Vielzahl digitaler Prozesse abbilden müssen, was ohne ein gewisses Mass an Komplexität kaum machbar ist.

Buchtipp: David Bausch, «Digitaler Stress: Die Schattenseite der neuen Arbeitswelt», Haufe, 2024, 239 Seiten.

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Online-Redaktorin, HR Today. jc@hrtoday.ch

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