Leadership

Führungskräfte sind keine Coaches

In der modernen Arbeitswelt stehen Mitarbeitende immer häufiger vor neuen Aufgaben und Herausforderungen. Bei deren Bewältigung benötigten sie in der Regel eine fachliche und mentale Unterstützung durch ihre Vorgesetzten. Deshalb fordern viele Unternehmen: Unsere Führungskräfte müssen ihre Mitarbeiter coachen. Dies ist nur bedingt möglich.

Firmenalltag. Führungskraft Huber erteilt Mitarbeiter Müller eine neue Aufgabe – zum Beispiel: das Vertriebskonzept für ein neues Produkt zu entwerfen. Kurz unterhalten sich Huber und Müller darüber, welche Ziele dabei zu erreichen sind – zum Beispiel: in zwei Monaten 50 Kunden für das neue Produkt gewinnen. Dann kehrt Führungskraft Huber an ihren Schreibtisch zurück und widmet sich anderen Aufgaben. Entspannt! Denn Mitarbeiter Müller bewies in der Vergangenheit schon oft, dass man auf ihn bauen kann.

Wochen vergehen. Und immer wieder fragt Führungskraft Huber Herrn Müller, wenn er ihn trifft: «Wie läuft’s?» Dessen Antwort: «Bestens». Also fragt Huber nicht weiter nach. Denn er ist überzeugt: Der Huber hat die Sache im Griff.

Doch dann naht der Termin, an dem die Aufgabe erledigt und die vereinbarten Ziele erreicht sein sollen. Und zunehmend macht sich bei Mitarbeiter Müller Nervosität breit. Immer häufiger erzählt er von «Problemen, die sich ergaben». Und wenige Tage, bevor der Job erledigt sein soll, gesteht er seinem Chef: «Ich schaffe es nicht». Und der fragt entsetzt: «Warum haben Sie mich nicht früher informiert? Dann hätten wir noch gegensteuern können.» Doch dafür ist es nun zu spät.

Das Coachen ist meist ein Anleiten

Wer ist für das Scheitern verantwortlich? Der Mitarbeiter oder die Führungskraft? Beide! Die Hauptverantwortung trägt jedoch die Führungskraft. Denn sie lotete nicht aus: Findet mein Mitarbeiter alleine einen geeigneten Lösungsweg oder braucht er Unterstützung? Also konnte Huber diese seinem Mitarbeiter auch nicht gewähren. Die Führungskraft überprüfte zwischenzeitlich auch nicht, ob sich ihr Mitarbeiter noch «auf Kurs» befindet, um – sofern nötig – korrigierend einzugreifen. Huber nahm also eine Kernaufgabe jeder Führungskraft nicht wahr, nämlich ihre Mitarbeiter bei deren Arbeit anzuleiten – zumindest bei Aufgaben, bei denen ihnen noch die nötige Routine und Erfahrung fehlt.

Dieses Anleiten ist heute vielfach verpönt. Stattdessen wird in Führungsseminaren häufig über das Thema Coaching referiert. Dabei reduziert sich das Coachen im Betriebsalltag weitgehend auf ein Anleiten der Mitarbeiter – zumindest dann, wenn der Coach zugleich der disziplinarische Vorgesetzte der Mitarbeiter ist. Denn als disziplinarischer Vorgesetzter entscheidet eine Führungskraft auch weitgehend über deren berufliches Fortkommen. Das wissen die Mitarbeiter. Deshalb ist ihr Verhalten gegenüber ihren Vorgesetzten stets auch von taktischen Erwägungen geprägt. Kaum ein Mitarbeiter würde zum Beispiel, solange er keine Job-Alternative hat, offen zu seinem Chef sagen «Meine Arbeit macht mir keinen Spass». Oder: «Ich bin überfordert.» Zu Recht! Denn zu viel Offenheit schadet dem beruflichen Weiterkommen.

Die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter ist zudem keine familiäre. Ein Vater fördert seine Kinder, damit aus ihnen Persönlichkeiten werden, die ihr Leben mit Erfolg gestalten. Anders ist dies bei einer Führungskraft. Sie fördert ihre Mitarbeiter primär, um zu erreichen, dass diese mehr Leistung erbringen – ihre Beziehung ist primär eine funktionale. Das steckt der Coachingfunktion von Führungskräften enge Grenzen. Sie beschränkt sich weitgehend darauf, die Mitarbeiter bei ihrer Arbeit anzuleiten. Doch das Anleiten hat in Managementkreisen einen eher schlechten Ruf – unter anderem, weil Anleiten heute häufig mit Anweisen gleichgesetzt wird. Doch Anleiten bedeutet nicht, anderen Personen Befehle «Tue dies» und «Tue das» zu erteilen, sondern ihnen auch die nötigen Hilfestellungen zu geben – seien diese fachlicher oder mentaler Art.

Ziel: Lernprozesse initiieren und begleiten

Was tut ein «Anleiter»? Er gibt seinen Schützlingen, wenn sie vor neuen Aufgaben stehen, nicht die Lösung vor. Er fragt sie vielmehr: «Wie würdet ihr diese Aufgabe angehen?» Er motiviert sie also, eigene Lösungsvorschläge zu entwerfen. Und zeigt sich dabei, dass sie Unterstützung brauchen? Dann gibt er ihnen Hilfestellungen, bevor er sich mit ihnen auf einen Lösungsweg verständigt. Doch damit ist sein Job noch nicht erledigt. Er fragt vielmehr beim Umsetzen immer wieder nach «Gibt es Probleme?», «Was habt ihr zwischenzeitlich erreicht?», um bei Bedarf korrigierend oder unterstützend einzugreifen.

Eine solche Unterstützung und Begleitung brauchen auch berufserfahrene Arbeitskräfte – zumindest bei Aufgaben, mit deren Lösung sie noch wenig Erfahrung haben. Und diese ihnen zu gewähren, ist eine Führungsaufgabe. Sonst bleibt es weitgehend dem Zufall überlassen, welche Arbeitsergebnisse erzielt werden.

Praxisbeispiel

Angenommen, Kundenbetreuer Müller, der bisher Aufträge abwickelte, soll künftig Neukunden akquirieren. Dann genügt es nicht, wenn sein Chef, Vertriebsleiter Huber, zu ihm sagt «Herr Müller, machen Sie das mal» und ihm eventuell noch das Ziel vorgibt: «Bis Ende Juni, also in drei Monaten, müssen Sie zehn Neukunden haben». Denn so ist nicht sichergestellt, dass Herr Müller seine neue Aufgabe adäquat wahrnimmt und das definierte Ziel erreicht. Das kann Vertriebsleiter Huber im Extremfall den Job kosten. Denn seine Leistung wird von seinen Chefs an der Leistung seiner Mitarbeiter gemessen.

Was sollte Vertriebsleiter Huber also tun? Er sollte, wenn er seinem Mitarbeiter die neue Aufgabe überträgt, sich mit ihm zusammensetzen und erarbeiten:

  • Wie kann das vorgegebene Ziel erreicht werden?
  • Welche Massnahmen sind hierfür nötig? Und:
  • Welche Unterstützung braucht Mitarbeiter Müller hierfür?

Das Ergebnis könnte sein: Wenn wir bis Ende Juni zehn Neukunden gewinnen möchten, müssen wir bis Ende April mindestens 100 Unternehmen anrufen und ermitteln, ob bei ihnen grundsätzlich ein Bedarf für unsere Leistung besteht. Von ihnen sagen voraussichtlich circa 25 «Ja». Mit diesen 25 potenziellen Kunden müssen wir bis Ende Mai persönliche Gespräche führen und ihnen individuelle Angebote unterbreiten. Dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass wir Ende Juni Aufträge von zehn Neukunden haben.

Sind der Weg zum Ziel «zehn Neukunden» und die Etappenziele, die es hierbei zu erreichen gilt, fixiert, kann daraus abgeleitet werden:

  • Welche Teilaufgaben ergeben sich hieraus?
  • Welche Unterstützung fachlicher, personeller sowie motivationaler Art braucht Müller, um diese wahrzunehmen?

Erst danach darf sich Führungskraft Huber wieder anderen Aufgaben zuwenden und Mitarbeiter Müller eigenständig seinen Job erledigen lassen – jedoch nicht eigenverantwortlich, denn ihm fehlt noch die nötige Erfahrung.

Also muss Huber in den Folgewochen bei Müller regelmässig zum Beispiel nachfragen:

  • «Wie läuft es mit dem Telefonieren? Bekommen Sie ausreichend Entscheider an den Hörer?»
  • «Erweist sich unsere Annahme, dass 25 Prozent der Unternehmen sich für unsere Leistung interessieren, als richtig?»

Antwortet Müller «nein», muss Huber sich mit ihm zusammensetzen und analysieren: Warum? Zeigt sich dann zum Beispiel, dass Franz selten zu Entscheidern durchgestellt wird, lautet die Frage erneut: Warum? Vielleicht sind seine Telefonate falsch aufgebaut? Vielleicht hat Müller aber auch mentale Barrieren, fremde Menschen anzurufen und lässt sich deshalb schnell abwimmeln? Abhängig vom Ergebnis kann dann die nötige Unterstützung für Müller organisiert werden.

Den Mitarbeiter auf dem Weg zum Ziel begleiten

Entsprechendes gilt, wenn Müller sagt: «Ich komme zwar zu den Entscheidern durch. Es interessieren sich aber weniger als 25 Prozent für unsere Leistung.» Dann muss Huber mit Müller ermitteln, wie das Etappenziel, 25 Interessenten bis Ende April zu identifizieren, doch noch erreicht werden kann. Vielleicht indem sich Müller beim Telefonieren auf bestimmte Branchen konzentriert? Oder indem er schlicht 150 statt der geplanten 100 Unternehmen anruft?

Durch ein solches Vorgehen kann die Führungskraft sicherstellen, dass ihr Mitarbeiter die gesteckten Etappenziele und letztlich auch das Endziel «zehn Abschlüsse» erreicht. Doch nicht nur dies. Sie sorgt auch dafür, dass beim Mitarbeiter die gewünschten Lernprozesse stattfinden und bei ihm die Erfahrung entsteht, die er künftig zum eigenständigen Lösen ähnlicher Aufgaben braucht. Denn durch das gemeinsame Analysieren, warum gewisse Vorgehensweisen (nicht) funktionieren, gewinnt der Mitarbeiter auch Erfahrung damit, geeignete Lösungswege zu entwerfen. Diese kann er auf andere Aufgaben übertragen.

Fazit: Führungskräfte coachen – aber sind keine Coaches

Ein solches systematisches Unterstützen der Mitarbeiter durch ihre Führungskräfte wird in unserer von Veränderung geprägten Arbeitswelt immer wichtiger, denn in ihr stehen die Mitarbeiter immer häufiger vor für sie neuen Herausforderungen. Deshalb müssen die Führungskräfte beim Wahrnehmen ihrer Führungsaufgabe auch häufiger in die Rolle eines Coaches schlüpfen. Dies ist jedoch nur eine Führungs-Rolle unter vielen – denn Führungskräfte sind im Gegensatz zu echten Coaches stets auch die disziplinarischen Vorgesetzten ihrer Mitarbeiter. Das setzt ihrer Coaching-Funktion enge Grenzen.

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos
Text:
Weitere Artikel von

Das könnte Sie auch interessieren