Hat die Graphologie eine Zukunft?

Die Graphologie (oder Schriftpsychologie) ist eine traditionelle Methode, um aus der Handschrift Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu ziehen. Sie hatte ihre Blütezeit in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Kaum eine Kaderstelle wurde ohne graphologisches Gutachten neu besetzt. Seit der Jahrtausendwende haben sich aber die meisten Personalverantwortlichen von der Handschriftanalyse abgewendet – eine Analyse.

Graphologie ist Pseudowissenschaft – zu diesem Schluss kamen immer wieder verschiedene Studien und Metaanalysen. Aus heutiger Sicht muss diese Schlussfolgerung aber durchaus kritisch hinterfragt werden. Leider haben sich die Graphologinnen und Graphologen nicht rechtzeitig darum gekümmert, den wissenschaftlichen Gegenbeweis zu erbringen, um dem schwindenden Ruf ihrer Disziplin entgegenzutreten. Vor rund fünf Jahren stellte ich in verschiedenen Medien die Situation genau so dar und plädierte dafür, dass die Graphologie von den Personalverantwortlichen wieder vermehrt in die Selektionsprozesse einbezogen wird.

Eine neue Chance?

In der Zwischenzeit hat sich in der Graphologie-Szene einiges getan. In verschiedenen Studien wurde die Handschriftanalyse gängigen Persönlichkeitstests mit anerkannter wissenschaftlicher Qualität gegenübergestellt. Im kürzlich erschienenen Sammelband von Chernov&Nauer wird eine Auswahl dieser Studien ausführlich dargestellt.¹ Sie zeigen unter anderem hohe Übereinstimmungen zwischen Schriftmerkmalen und den sogenannten „BigFive-Dimensionen“ (Offenheit, Neurotizismus, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion).

Die Graphologie zählt zu den phänomenologisch-deutenden Methoden und ist mit den modernen, statistischen Überprüfungsmethoden in der Tat nicht ganz einfach zu überprüfen. Deshalb finden sich in der erwähnten Publikation auch ausführliche Beiträge zu Methodologie und Untersuchungsdesigns, sowie zum Bezug der Graphologie zu den Neurowissenschaften. Ohne den Einsatz neuer Technologien zur objektiven Erfassung und Verarbeitung von Schriftmerkmalen wären solche aufwändigen Studien aber kaum realisierbar.

Rehabilitierung der Graphologie

Die computerunterstützte Handschriftanalyse leistet indes nicht nur für die Forschung unverzichtbare Dienste, sie kann auch in der Ausbildung und in der graphologischen Praxis unterstützend eingesetzt werden. Erwähnt seien an dieser Stelle die Tools GraphoPro® von Keel und HSDetect von Chernov, die beide im erwähnten Sammelband beschrieben sind. Mit solchen Tools kann die Handschriftanalyse kontinuierlich weiterentwickelt und für den Psychologennachwuchs attraktiv gemacht werden.

Für die Kommunikation dieser Entwicklungen braucht es aber geeignete Plattformen: Die Schweizerische Graphologische Gesellschaft (SGG) hat deshalb das Institut für Handschriftwissenschaften (IHS) gegründet, welches mit Veranstaltungen und Publikationen zur „Rehabilitierung“ der Handschriftanalyse beitragen wird.

Nachwuchsproblem

Graphologie wird an (Fach-)Hochschulen nicht mehr als Ausbildungsfach angeboten. Als gleichsam letzte Bastion figurierte die ZHAW (vormals IAP). Im Zuge der Rationalisierung hat sie die Graphologie vor einigen Jahren aber ebenfalls aus dem Curriculum gestrichen. Inzwischen bietet die SGG eine Graphologie-Ausbildung an und bemüht sich um die Anerkennung dieser Ausbildung als Master of Advanced Studies (MAS).

Die Massnahmen Forschung, Computerunterstützung und Ausbildung erachte ich als unabdingbare Voraussetzungen, damit sich die Handschriftanalyse wieder einen Platz als wertvolle psychodiagnostische Methode sichern kann.

Wie Sprache, Mimik oder Gestik

Den Vergleich zu anderen psychodiagnostischen Verfahren muss die Graphologie keinesfalls scheuen: Handschrift ist individueller Ausdruck der schreibenden Person und lässt genau deshalb Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu. Die Handschrift eines Menschen lässt sich entgegen landläufiger Meinung nur bedingt willentlich verstellen. Sie bleibt verhältnismässig konstant und ist weniger situationsabhängig als fast alle anderen psychodiagnostischen Verfahren.

Auch wenn heute im Alltag nicht mehr so häufig von Hand geschrieben wird wie noch vor 50 oder 100 Jahren: Die verschiedenen Merkmale der Handschrift lassen zuverlässige Rückschlüsse auf Persönlichkeitsaspekte wie Antriebsstruktur, Vitalität, kognitive Strukturen, Leistungsverhalten, soziale Kompetenzen oder psychische Stabilität zu.

Besonderer Vorteil: Die graphologische Analyse erfolgt ohne Anwesenheit der Probandinnen und Probanden. Dadurch sind Störeinflüsse wie Sympathie bzw. Antipathie ausgeschlossen. Zudem handelt es sich bei den meisten anderen Methoden um Fragebögen, die letztlich immer Selbsteinschätzungen sind und somit einen Teil des eigenen Wunschbildes darstellen. Aus dieser Sicht ist die Handschriftanalyse ein ziemlich objektives Instrument.

Es gibt also genügend Gründe, der Graphologie für verschiedene Fragestellungen wieder einen angemessenen Stellenwert einzuräumen.

Quelle:

  • ¹ Chernov, Y. & Nauer , M. A. (Eds.): Handwriting Research. Validation & Quality. IHS Institute for Handwriting Sciences, 2018.
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Dr. Christian P. Katz ist Arbeits- und Organisationspsychologie und ist hauptsächlich als Unternehmensberatur für die Einführung von Lohnsystemen tätig (www.katzundbaitsch.ch und www.cpkatz.ch).

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