HR Today Nr. 4/2018: Recruiting

Der «Halo-Effekt» und 5 weitere kognitive Verzerrungen, die das HRM kennen sollte

In der Verhaltensökonomie werden seit rund drei Jahrzehnten sogenannte kognitive Verzerrungen erforscht: Denkfehler, die sich einschleichen, weil unser Hirn meistens schnell Entscheidungen treffen will. Kognitive Verzerrungen sind auch im HR-Bereich omnipräsent und gerade im Recruiting folgenreich.

Stellen Sie sich vor, fünf Kandidatinnen und Kandidaten werden zur zweiten Runde in einem Bewerbungsprozess eingeladen. Wie immer in der Rekrutierung unterscheiden sich die Kandidatinnen und Kandidaten hinsichtlich ihrer Qualifikationen. Bei einigen passt die Ausbildung sehr gut zu der zu besetzenden Stelle, andere wiederum bringen wertvolle Erfahrung mit.

Die zweite Runde ist für das mittelgrosse KMU aufwendig: Mit jeder Kandidatin und jedem Kandidaten wird ein ausführliches Interview und ein kleines Assessment durchgeführt. Nachdem das ganze Prozedere durch ist, trifft die Geschäftsleitung zusammen mit der HR-Verantwortlichen einen Entscheid: Im Konsens wird beschlossen, dass die Stelle einfach an den schönsten Kandidaten vergeben werden soll.

Dieses Beispiel klingt absurd. Nur weil jemand physisch attraktiv ist, heisst das natürlich nicht, dass sie oder er auch die spezifischen Kompetenzen, die für eine Stelle benötigt werden, mitbringt. Ganz so absurd, wie das Beispiel klingt, ist es in Tat und Wahrheit aber nicht. Rekrutierungsprozesse sind zwar fast nie so krass und so bewusst verzerrt wie im obigen Beispiel, aber unbewusst und subtil gibt es Verzerrungen in unserem Denken, welche die Qualität der Entscheidungen im Rekrutierungsprozess und darüber hinaus verschlechtern.

Der subtile Einfluss von Schönheit etwa ist denn auch kein Fantasiebeispiel: Der sogenannte «Halo Effect», englisch für Heiligenschein-Effekt, führt dazu, dass uns eine klar erkennbare positive Eigenschaft bei einer Person (zum Beispiel Schönheit) zur Schlussfolgerung verleitet, andere Eigenschaften bei der Person seien auch positiv. Das Besondere an solch subtilen Verzerrungen ist, dass sie ein fester Bestandteil unseres Gehirns sind. Wir kommen gar nicht umhin, verzerrt zu denken.

Kognitive Verzerrung

Kognitive Verzerrung (englisch cognitive bias oder cognitive illusions) ist ein kognitionspsychologischer Sammelbegriff für sys­tematische fehlerhafte Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen. Diese bleiben meist unbewusst und basieren auf kognitiven Heuristiken.

Fehleranfälliges Gehirn

Das menschliche Gehirn ist ein enorm leistungsfähiger Denkapparat. Es ist aber gleichzeitig nur ein «zufälliges» Produkt der natürlichen Evolution. Das bedeutet, dass unser Gehirn nicht eine unfehlbare Maschine ist, die immer perfekt denkt. Unser Gehirn ist lediglich darauf ausgelegt, uns erfolgreich durch den Alltag zu manövrieren.

Wir sind zwar in der Lage, in einzelnen Situationen ganz bewusst und langsam zu reflektieren, um zu wohlüberlegten Schlussfolgerungen zu gelangen. Meistens aber denken wir in einem schnellen, automatisierten Modus. Zum Glück: Wenn wir über jede Entscheidung, die wir treffen, stundenlang grübeln müssten, würden wir den ganzen Tag nur denken und keine einzige Entscheidung treffen können.

In unserem schnellen Denkmodus nutzt unser Gehirn Abkürzungen, um zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die oft gut genug sind. Diese Abkürzungen werden kognitive Heuristiken genannt. Heuristiken sind an und für sich sehr nützlich, aber manchmal führen Heuristiken auch zu Schlussfolgerungen, die von der tatsächlichen Sachlage relativ weit entfernt sind. Wenn wir dann auf der Grundlage solch unzuverlässiger Schlussfolgerungen Entscheidungen treffen, kann das gehörig schiefgehen. Weil uns kognitive Heuristiken so in die Falle locken können, werden Heuristiken oft als kognitive Verzerrungen, auf Englisch «Cognitive Biases», beschrieben.

Bedeutung kognitiver Verzerrungen

Es gibt keinen Lebensbereich, keine gesellschaftliche Domäne, die von kognitiven Verzerrungen unberührt bleibt. Das Personalwesen ist eine Domäne, in der kognitive Verzerrungen weitreichende Konsequenzen haben können. Einleitend wurde der Halo Effect angesprochen: unsere Tendenz, zu glauben, dass eine positive Eigenschaft bei einer Person automatisch bedeutet, dass auch andere Eigenschaften dieser Person positiv sind.

5 weitere kognitive Verzerrungen, die für das HRM wichtig sind

Der Halo Effect ist aber nicht die einzige kognitive Verzerrung, die Entscheidungen im Personalwesen negativ beeinflussen kann. Fünf weitere Verzerrungen, die im HRM-Kontext wichtig sind, sind die folgenden:

1. Ingroup Bias

Wir Menschen sind sehr stark dem Gruppendenken verhaftet. Menschen, die wir zu unserer «Ingroup», unserer Innengruppe, zählen, sehen wir als grundsätzlich bessere Menschen als die Mitglieder der «Outgroup». Im HR-Management hat der Ingroup Bias zur Folge, dass HR-Verantwortliche potenzielle und bestehende Mitarbeitende grundsätzlich positiver beurteilen, wenn sie beispielsweise ihnen selber ähnlicher sind, wenn sie also zu ihrer wahrgenommenen Ingroup zählen.

2. Confirmation Bias

Eine der stärksten Verzerrungen überhaupt ist unsere Tendenz, das, was wir bereits glauben, auch weiterhin glauben zu wollen. Diese zentrale Verzerrung wird Bestätigungs-Bias, auf Englisch «Confirmation Bias», genannt. Ohne, dass wir es merken, suchen und deuten wir Informationen so, dass sie in unser bestehendes Bild passen. Der Confirmation Bias ist nicht zuletzt der Grund dafür, warum sich in der HR-Praxis bisweilen immer noch pseudowissenschaftliche Methoden wie etwa Handschriftenanalyse halten: Solche Methoden sind unzuverlässig und produzieren nur Rauschen – aber in solch bedeutungslosem Rauschen können HR-Verantwortliche das, was sie glauben wollen, bestätigt sehen.

3. Anchoring

Wenn wir Informationen zu irgendeinem Sachverhalt oder Thema aufnehmen, gewichten wir nicht alle Informationen gleichwertig: Die erste Information, die wir aufnehmen, bleibt uns besonders stark hängen. Als bildlicher Anker beeinflusst diese Information, wie wir weitere Informationen beurteilen. Der alte Spruch, dass es keine zweite Chance gibt, einen ersten Eindruck zu hinterlassen, ist darum sehr wahr, auch im HRM. Das Problem ist aber, dass der erste Eindruck, den wir etwa von einer Jobanwärterin erhalten, komplett zufällig und nicht repräsentativ sein kann.

4. Status Quo Bias

Veränderung bedeutet neue Chancen, neue Perspektiven, neue Horizonte – reden wir uns gerne ein. Viele Studien zeigen aber, dass wir Veränderung nicht wirklich mögen und stattdessen sehr oft den Ist-Zustand bevorzugen. Der Ist-Zustand scheint oftmals bequemer zu sein als die mit Ungewissheit verbundene Veränderung. Weil wir das glauben, perpetuieren wir aber oftmals Probleme, die ganz leicht zu lösen wären. Im HR-Management kann der Status Quo Bias dazu führen, dass es Widerstand gegen Veränderungen der HR-Prozesse gibt, weil es ja schon immer so gemacht wurde.

5. Stereotyping

Evolutionsgeschichtlich sind wir Menschen darauf ausgelegt, in kleinen Stammesgesellschaften zu funktionieren. In der menschlichen Frühgeschichte mussten wir schnell entscheiden, ob eine Person, die wir nicht kennen, vertrauenswürdig ist. Unsere heutige Welt ist viel komplexer als die Welt von damals: Wir leben nicht mehr in kleinen Stämmen, sondern in grossen Gesellschaften. Das hat zur Folge, dass wir heute viel öfter als früher intuitiv entscheiden müssen, in was für ein Schema wir Menschen packen. Der Nachteil hierbei ist, dass die Regeln für diese spontane Beurteilung nicht objektiv statistisch, sondern vereinfachend stereotypisierend sind. In der HR-Praxis kann das entsprechend zur Folge haben, dass intuitive Stereotypen so stark sind, dass sie in der subjektiven Wahrnehmung wichtige objektive Fakten überlagern.

Rezepte gegen kognitive Verzerrungen?

Wenn unser Gehirn ein Computer wäre, dann wären kognitive Heuristiken quasi fest verbaute Transistoren: Unser Gehirn kann ohne Heuristiken gar nicht funktionsfähig sein. Es ist aber möglich, in spezifischen Situationen mit gezielten Massnahmen den negativen Impact der kognitiven Heuristiken zu reduzieren. Dieses Bestreben wird bisweilen als «Debiasing«, englisch für Entzerrung, beschrieben.

Debiasing im HR-Management kann unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Einerseits kann Debiasing als gezieltes Training um-gesetzt werden. Wenn HR-Fachpersonen die Thematik der kognitiven Verzerrungen kennenlernen, dann werden sie dadurch automatisch in der sogenannten Metakognition trainiert: Wenn wir über kognitive Verzerrungen nachdenken, denken wir über unser Denken nach. Je besser HR-Fachpersonen mit der Thematik der kognitiven Verzerrungen vertraut sind, desto eher können sie verhindern, in Denkfallen zu tappen.

Ein zweiter Debiasing-Weg im HR-Management ist die Optimierung von HR-Prozessen. Aus ganz unterschiedlichen Domänen wissen wir, dass objektive Sachverhalten rund um Kompetenzen und Verhalten von Menschen zuverlässiger beurteilt werden, wenn verzerrende Faktoren minimiert sind. Ein konkretes Werkzeug hierfür, das sich beispielsweise bei Google oder bei Orchestern bewährt hat, ist Anonymisierung. Wenn wir nicht wissen, was für eine Person wir beurteilen und wir stattdessen nur möglichst objektive, personen-ungebundene Informationen bewerten, kann das sehr wertvolle Einschätzungen liefern. Das bedeutet nicht, dass die gesamte HR-Arbeit als sogenanntes Blind Review (Blindgutachten) neu gestaltet werden muss. Ein Blind Review kann stattdessen eine Ergänzung zu einzelnen Schritten der HR-Arbeit darstellen.

Kognitive Verzerrungen schwingen in der HR-Arbeit immer mit, aber wir sind ihnen nicht hilflos ausgeliefert. Eine Sensibilisierung für die Thematik und bestenfalls die Umsetzung von Debiasing-Massnahmen kann einfach dazu beitragen, dass der negative Impact kognitiver Verzerrungen markant reduziert wird.

 

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Marko Kovic ist Mitgründer des Beratungsunternehmens ars cognitionis und Präsident der Vereine Skeptiker Schweiz und ZIPAR.

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