HR Today Nr. 9/2018: Reintegration

Krankschreibung: Ein Tool soll alte Denkmuster durchbrechen

Meist mangelt es an der Kommunikation zwischen Case Manager, Ärzten und Patienten, wenn die Rückkehr eines Mitarbeitenden nach gesundheitsbedingten Absenzen im Betrieb organisiert werden soll. Seit Herbst 2017 ist das webbasierte ressourcenorientierte Eingliederungstool REP auf dem Markt. Es verspricht, Abhilfe zu schaffen.

Es ist ein offenes Geheimnis: je länger Arbeitnehmende nach einem Unfall oder einer Erkrankung vollumfänglich krankgeschrieben sind und untätig zu Hause bleiben, desto unrealistischer ist es, dass sie an den Arbeitsplatz zurückkehren. Einerseits besteht die Gefahr, dass gesundheitliche Beschwerden chronisch werden, andererseits verlieren Arbeitnehmende den Anschluss an die Berufswelt. Die Rede ist hier nicht von wochenlangen Absenzen, sondern von solchen, die sich über mehrere Monate hinziehen.

Die Invalidenversicherung (IV) hat sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer radikalen Veränderung von der Renten- zu einer Eingliederungsversicherung unterzogen und konnte zwischen 2012 und 2016 zusammen mit den Arbeitgebern rund 94 000 Menschen mit gesundheitlichen Problemen im ersten Arbeitsmarkt platzieren. Dennoch müssen die Eingliederungs-Bestrebungen weitergehen, denn nicht zuletzt wegen der demografischen Entwicklung sollte brachliegendes Arbeitskräftepotenzial besser genutzt werden.

Weg vom Schwarz-Weiss-Denken

Bei der Früherkennung gesundheitlicher Einschränkungen und der erfolgreichen Wiedereingliederung von Mitarbeitenden kommt Arbeitgebern eine aktive Rolle zu. Dies auch im eigenen Interesse, denn schliesslich tragen sie die hohen Kosten einer Arbeitsunfähigkeit. «Arbeitgeber müssen von behandelnden Ärzten frühzeitig eine arbeitsplatzbezogene Leistungsbeurteilung erhalten», betont Roland A. Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbands. Sie müssten wissen, welche Aufgaben sie einem betroffenen Arbeitnehmer zuweisen können.

Bis anhin herrschte in Sachen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein Schwarz-Weiss-Denken: 80 Prozent der Betroffenen wurden entweder zu Null oder zu 100 Prozent arbeitsfähig eingestuft; eine Teilarbeitsfähigkeit wurde und wird von den Ärzten oft nicht in Betracht gezogen. Dies soll sich nun ändern. Mit dem im Spätherbst 2017 lancierten webbasierten ressourcenorientierten Eingliederungsprofil REP haben das Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, der Schweizerische Arbeitgeberverband SAV und die Ärztevereinigungen zusammen mit dem Verein Compasso ein Instrument entwickelt, das alte Denkmuster im Zusammenhang mit Krankschreibungen aufbrechen soll.

Kommunikation vereinfachen

Weil die frühe Kommunikation zwischen Betroffenen, Arbeitgebern und Ärzten matchentscheidend ist, um ein Teilarbeitsfähigkeitszeugnis auszustellen, wollten die an der Entwicklung Beteilig­ten die Kommunikation zwischen den Parteien vereinfachen. «Arbeitgeber wünschen möglichst transparente Informationen über die Rückkehr eines Mitarbeitenden, während behandelnden Ärzten oft Kenntnisse über die Arbeitsplatzanforderungen sowie das Arbeitsumfeld des Patienten fehlen, um den Grad einer Teil­arbeitsfähigkeit zu bestimmen», erklärt Compasso-Präsident Martin Kaiser.

An diesem Punkt setzt das REP an. Als Basis erfassen Arbeitgeber online alle Arbeitsplatzanforderungen. So entsteht ein detailliertes Eingliederungsprofil, das Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterzeichnen. Dieses nimmt der Mitarbeitende zum nächsten Arztbesuch mit, was der Ärztin oder dem Arzt dazu dient, zu beurteilen, inwieweit der Patient die Anforderungen erfüllen kann und unter welchen Bedingungen und in welchem Ausmass eine Tätigkeit im Betrieb möglich ist. «Die physischen und mentalen Anforderungen einer Arbeitstätigkeit lassen sich mit dem REP mit relativ geringem Aufwand für den Vorgesetzten und den Mitarbeitenden qualitativ gut beschreiben», so der Mediziner Andreas Klipstein, der an der Entwicklung des REP mitbetei­ligt war.

Weil das Ergebnis so dargestellt werde, dass der behandelnde Arzt eine klare Grundlage erhalte, um die Arbeitsfähigkeit eines Patienten einzuschätzen, müsse er sich mit der Belastbarkeit seines Patienten auseinandersetzen. Weitere Vorteile ortet Klipstein in der leichten Bedienbarkeit der Software sowie in der Tatsache, dass das Erstellen eines REPs im Online-Tool kostenfrei sei und allen Beteiligten zur Verfügung stehe. Gerade für KMU habe das REP einen weiteren Vorteil: «Kleinere Unternehmen haben in der Regel keine Stellenanforderungsprofile, welche physische und mentale Faktoren berücksichtigen.

Bei der SBB im Einsatz

Bei gesundheitsbedingten Absenzen sollten vor allem die Ressourcen gesehen werden. «Das REP versachlicht die Diskussion und verlegt den Fokus von Defiziten zu den bestehenden Fähigkeiten und damit auf betriebliche wie persönliche Ressourcen», betont Hansjörg Huwiler, der beim AEH Zentrum für Arbeitsmedizin, Ergonomie und Hygiene in Zürich seit vielen Jahren als BGM-Berater tätig ist.

Mit der SBB hat bereits ein erstes Unternehmen Erfahrungen mit dem REP gesammelt, das dort seit Januar 2018 im Einsatz ist. «Dass wir dieses Tool so rasch eingeführt haben, ist der Initiative der Suva Tessin zu verdanken», sagt Karin Mahler, Mitglied der Geschäftsleitung Human Resources SBB und Leiterin Arbeitsmarktfähigkeit, Gesundheit und Soziales. «Die Versicherung hat sich dadurch erhofft, die Taggeldkosten zu stabilisieren.» Die SBB hat aber auch eine hohe soziale Verantwortung, insbesondere wegen der vielen Mitarbeitenden in ehemaligen Monopolberufen. Im Einsatz habe sich die Software als äusserst wirkungsvoll erwiesen: «Wir konnten diese ergänzend zu den bestehenden Instrumenten in unsere Back-to-Work-Strategien integrieren.» Überzeugt habe die SBB auch, dass die Anwendung des Tools intuitiv sei und Case Manager wie Vorgesetzte keine Schulung benötigen. Für Karin Mahler ist dessen Einsatz wirkungsvoll, wenn:

  • ein Gespräch zu einer möglichen Restarbeitsfähigkeit oder Schontätigkeit zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten stattfindet,
  • Case Manager oder Personalverantwortliche das Ziel sowie den Ablauf des REP den Vorgesetzten und Mitarbeitenden erläutern
  • die Textform des REP mit Bildern unterstützt wird, damit Belastungssituationen objektiver dargestellt werden können.

Nicht ganz für alles geeignet

Das REP scheint ein Erfolg auf ganzer Linie zu sein. Bleibt die Frage: warum hat es so lange gedauert, bis ein solches Tool auf den Markt kam? «Es benötigte viel Zeit, das Bewusstsein zu schaffen, dass eine Krankschreibung ohne Kenntnisse der Arbeitsanforderungen gar nicht möglich ist», so Andreas Klipstein. «Ein partnerschaftlicher Umgang zwischen Ärzten, Arbeitgebern, Patienten und Kostenträgern führt am ehesten zum Ziel, das Absenzproblem zu lösen.»

Als grösste Hürde bezeichnet Klipstein den Abbau von Vorurteilen im Umgang mit Absenzen zwischen den Beteiligten, die Konzentration auf das Wesentliche sowie die Ausarbeitung eines geeigneten Eingliederungablaufs unter Berücksichtigung der zu vergütenden zeitlichen Aufwendungen. Trotz der vielen Vorteile seien dem REP auch klare Grenzen gesetzt. So könne damit die Arbeitsfähigkeit nicht automatisch bemessen werden und es ersetze auch ein formales Arbeitszeugnis nicht. Zudem sei es nicht geeignet, «um Arbeitsplatzkonflikte zu verhindern oder auszutragen», da eine gegenseitige Kooperation gefragt sei.

Doch genau beim Thema Konflikte ortet ­Pierre Vallon, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) einen weiteren Vorteil des Tools. «Ärzte haben nun die Möglichkeit, Probleme im Arbeitsumfeld anzusprechen, die gelöst werden müssen. Diese können wichtige Hinweise für eine gelingende Eingliederung beinhalten.»

SIM Zeugnis

Die Plattform Swiss Insurance Medicine (SIM) entwickelte vor einigen Jahren in Analogie zum Arbeitsunfähigkeitszeugnis der St. Galler-Ärztegesellschaft und des Arbeitsgeberverbands ein allen Ärzten zur Verfügung stehendes AUF-Zeugnis, welches eine kurze, nicht systematisch erhobene Beschreibung der meist physischen Arbeitsanforderungen beinhaltete. Zurzeit entwickelt die SIM in einer Arbeitsgruppe zusammen mit Compasso-Vertretern ein Nachfolgezeugnis, das auf den Ergebnissen des REP aufbaut. Dieses soll zusammen mit einem Lernvideo im September 2018 veröffentlicht werden.

Verein Compasso

Der Verein Compasso zählt bereits über 80 Mitglieder und steht unter dem Patronat des Schweizerischen Arbeitsgeberverbands. Compasso betreibt ein Portal für Arbeitgeber zu Fragen der beruflichen Eingliederung an der Schnittstelle von Arbeitgebern, Betroffenen, IV, Suva, Privatversicherern, Pensionskassen und weiteren involvierten Stellen und Beteiligten.

 

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Sandra Escher Clauss ist freie Journalistin.

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