Mit Vollgas an die Wand
Führungskräfte stehen unter hohem Druck. Um leistungsfähig zu bleiben, müssten sie ihre Gesundheit besonders schützen. Viele nehmen gesundheitliche Warnsignale jedoch nicht ernst. Oder erst viel zu spät. Ein Gespräch mit Diplompsychologe Andreas Zimber über gesundheitliche Missstände im mittleren Management.
«Noch immer halten sich Theorien von vor 100 Jahren hartnäckig in den Köpfen der Führungskräfte», stellt Andreas Zimber, Diplompsychologe, fest. (Bild: zVg)
Herr Zimber, muss man masochistische Persönlichkeitszüge haben und ein Workaholic sein, um eine Führungsfunktion zu übernehmen?
Andreas Zimber: Eine solche Sichtweise erscheint mir fast zynisch, nach dem Motto: «Selber schuld, wenn du dir sowas antust!» Führungskräfte sind häufig gewissenhafte Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen. Unternehmen brauchen solche Führungskräfte und Mitarbeitende brauchen Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn sich Menschen für eine Führungsposition entscheiden, haben sie dafür gute Gründe. Manchmal ist es ein höheres Gehalt, sehr oft aber auch die Motivation, auf andere Menschen einen positiven Einfluss auszuüben und ein Team sowie das Unternehmen voranzubringen.
Führen an sich ist alles andere als gesundheitsschädlich. Vielmehr stellt es eine grosse Bereicherung für Unternehmen und Führende dar. Als Berater und Coach denke ich vor allem daran, das Potenzial, die Kompetenzen und die Persönlichkeit der Führungskräfte zu entwickeln. Gesundheitlich durchaus riskant sind aber die überhöhten Forderungen, die an viele gestellt werden oder die sie an sich selbst stellen.
Wer mehr verdient, soll mehr arbeiten, lautet eine dieser Forderungen. Wie erklären Sie sich diese gesellschaftliche Haltung?
In der Tat tun viele Unternehmen und auch Führungskräfte so, als sei Gesundheitsschutz etwas für schutzbedürftige, schwache Mitarbeitende. Viele Führungskräfte haben zudem ein überholtes Bild ihrer Ressourcen: Sie halten sich für «harte Kerle», die nichts umhaut. Historisch betrachtet, hat eine solche Überschätzung eine lange Tradition: Die aus Amerika kommende «Great Man Theory» ist zwar schon gut 100 Jahre alt, bis heute halten Manager jedoch hartnäckig an diesem Bild fest.
Nicht zuletzt, um den eigenen Selbstwert zu erhöhen. Eine Führungskraft, die zugibt, sie habe Stress oder mache sich Sorgen um ihre Gesundheit, steht rasch als Schwächling da. Deshalb sind Führungskräfte bei betrieblichen Gesundheitsförderungs-Angeboten stark unterrepräsentiert.
Ein Lebensmodell, auf das junge Menschen liebend gern zu verzichten scheinen …
An dieser These könnte durchaus was dran sein: Aktuelle Statistiken besagen nämlich, dass nur gerade 40 Prozent der männlichen und etwa 25 Prozent der weiblichen Erwerbspersonen nach einer Führungsposition streben, wobei es grosse Unterschiede zwischen den Branchen gibt. Tendenziell nimmt die Führungsbereitschaft fast überall ab.
Vor allem jüngere Menschen wollen immer seltener eine Führungskraft werden. Für sie haben Pflicht- und Akzeptanzwerte nicht jene Bedeutung, die sie für die Babyboomer und die Angehörigen der Generation X hatten. Ihr Ziel ist nicht mehr, eine hohe Position im Unternehmen zu erreichen, sondern sich selbst zu verwirklichen und eine gute Work-Life-Balance zu haben.
An dieser Entwicklung sind Führungskräfte und Unternehmen nicht ganz unschuldig: Lange Arbeitszeiten, viel Stress und ein hohes Burnout-Risiko schrecken viele Jüngere ab. Unternehmen geraten daher in Schwierigkeiten, ihre Führungspositionen dauerhaft zu besetzen. Das sollte Anlass dazu geben, die Arbeitsbedingungen der Führungskräfte attraktiver zu gestalten.
Wie geht es Middle Managern gesundheitlich?
Die Befundlage zur Gesundheitssituation der Führenden ist auf den ersten Blick verwirrend: Gemäss internationalen Studien haben sie teilweise überdurchschnittlich hohe Depressionsraten und andere psychische Störungen. Dieses höhere Krankheitsrisiko lässt sich nur zum Teil mit Stress erklären, weil dieser eine subjektive Grösse ist. Die Datenlage zeigt aber auch, dass allgemeine Aussagen über Führungskräfte mit Vorsicht zu geniessen sind. Schliesslich handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe, die vom Polier bis zum Vorstandsvorsitzenden eines internationalen Konzerns reicht.
Paradoxerweise haben Führungskräfte sogar etwas weniger Stress als Mitarbeitende ohne Personalverantwortung. Und das, obwohl ihre beruflichen Anforderungen weitaus höher sind. Das könnte daran liegen, dass Führungskräfte insgesamt über mehr Ressourcen verfügen. Sie sind zudem häufig robuster und haben bessere persönliche Voraussetzungen, um Belastungssituationen zu bewältigen. Middle Manager leiden hingegen bedeutend häufiger unter Stress als Angehörige des Topkaders.
Wie unsere Studien zeigen, liegt das vor allem an den Rollenkonflikten, die sich aus der «Sandwich-Position» vieler Mittelmanager ergeben. Sie sitzen oft zwischen den Stühlen: Sie müssen den Druck, der von ihren Vorgesetzten kommt, nach unten weitergeben, die Interessen ihrer Mitarbeitenden nach oben vertreten und sich gegen Konkurrenten durchsetzen. Diese Rollenanforderung kann einen grossen Leidensdruck erzeugen. Viele mittlere Führungskräfte sind deshalb von ihrer Stelle enttäuscht: Sie haben sich das Führen einfacher vorgestellt. Ein Grossteil bleibt aber in ihrer Position, unter anderem, um «ihren Mann zu stehen» und vor dem Topmanagement nicht als Versager dazustehen.
Führungskräfte werden in emotional schwierigen Situationen oft sich selbst überlassen. Etwa, wenn es darum geht, Mitarbeitende zu entlassen. Wird dieses Problem in den Unternehmen verkannt?
Ob Führungskräfte vom höheren Management Unterstützung erfahren oder nicht, ist meist eine Frage der Unternehmens- und der Führungskultur. In Grossunternehmen mit männerdominierten Führungsetagen erhalten Managerinnen und Manager in schwierigen Entscheidungssituationen oft recht wenig Unterstützung. «Genau dafür wurdest du ja als Führungskraft eingestellt: Dass du das selbst hinbekommst und nicht zu Papa und Mama rennst», hat mir kürzlich eine mittlere Führungskraft erzählt. Über Probleme zu sprechen und Rat und Hilfe einzuholen, ist insbesondere in Unternehmen verpönt, die ihre Führungskräfte in dieser Weise konditioniert haben.
Macht Führung einsam?
Soziale Isolation ist häufig bei Personen ein Thema, die bisher keine Führungserfahrung gesammelt haben. Besonders gravierend kann die Einsamkeit ausfallen, wenn eine Führungskraft aus einem Team in eine Führungsposition aufgestiegen ist. Sie ist über das plötzliche Rückzugsverhalten ihrer früheren Teamkollegen schockiert und merkt, dass sie auf der «anderen Seite» steht und nicht mehr die Team-, sondern die Unternehmensinteressen repräsentiert.
Um aus dieser Isolation herauszufinden, würde ich einer solchen Führungskraft empfehlen, die neue Rolle zu akzeptieren und andere Bezugspersonen zu finden, zum Beispiel solche auf derselben Führungsebene.
Inwiefern machen sich Führungskräfte ihren Stress selbst?
Das kommt auf die einzelne Führungskraft an, sprich, auf ihre Persönlichkeit. Aus der Burnout-Forschung ist zum Beispiel bekannt, dass viele Betroffene einen starken Drang haben, sich selbst und anderen etwas zu beweisen. Ein ausgeprägtes Leistungsstreben, die Vernachlässigung persönlicher Bedürfnisse und Kontakte sowie ein Überspielen innerer Probleme und Konflikte können zum Burnout beitragen.
Wenn Menschen mit solchen persönlichen Voraussetzungen eine Führungsposition übernehmen, geraten sie eher in eine gesundheitliche Krise. Die Frage muss daher präventiv gestellt werden: Was kann ich tun, damit ich gar nicht erst in eine solche Abwärts-Spirale hineingerate?
Und wie tut man das?
Haltungen wie «das geht schon wieder weg» oder «ein Indianer kennt keinen Schmerz» sind unter Führungskräften weit verbreitet und können dazu führen, die eigene Gesundheitssituation zu verleugnen. Auch wenn sie gesundheitliche Belastungen wahrnehmen, zögern männliche Führungskräfte, über körperliche oder psychische Probleme zu sprechen.
Um einem gesundheitlichen «Crash» vorzubeugen, haben wir aus unseren Interviews mit gesundheitlich belasteten Führungskräften sieben «Precrash-Sensoren» abgeleitet. Dabei handelt es sich um gesundheitliche Frühwarnzeichen, die den Betroffenen helfen sollen, die eigenen Reaktionen besser einzuordnen und rechtzeitig gegenzusteuern.
Was trägt die viel herumgereichte «Achtsamkeit» zur Gesundheit von Führungskräften bei?
Achtsamkeit ist tatsächlich in aller Munde. Daher sollten wir zunächst klarstellen, was damit gemeint ist: eine erlernbare Art der Aufmerksamkeitslenkung, bei der man sich bewusst dem Hier und Jetzt zuwendet. Der Achtsame nimmt dabei eine nicht wertende, von innerer Offenheit geprägte Haltung ein.
Bezogen auf die Führung, wirkt diese Haltung wie Feuer und Wasser, denn Führungskräfte müssen vor allem funktionieren. Alles dreht sich um Aufgaben, Termine, Leistung und Geschwindigkeit. Viele Führungskräfte klagen, dass ihr Kopf immer voll ist, dass sie mit ihren Gedanken oft bei ihren Aufgaben sind und kaum abschalten können. Für sie wächst daher das Bedürfnis, sich selbst und ihre eigenen Bedürfnisse wieder stärker zu spüren.
Eine Stärkung der inneren Achtsamkeit kann dabei helfen. Dorthin zu gelangen, ist aber ein anstrengender Weg, der mit ein, zwei Wochenendseminaren nicht getan ist.
Was können Unternehmen konkret tun, um ihre Führungskräfte nicht zu «verheizen»?
Unternehmen reagieren auf psychische Risiken ihrer Führungskräfte höchst unterschiedlich. Einige, darunter viele Grossunternehmen, nehmen das Problem durchaus ernst. Sie stellen sich dem Problem vorausschauend und bauen beispielsweise Strukturen und Personalressourcen im Betrieblichen Gesundheitsmanagement auf. Ein mindestens ebenso grosser Teil zögert aber, dieses Thema aufzugreifen.
Nicht immer liegt das am Unwissen oder der Ignoranz der Unternehmer. Sehr häufig spielen höhere Prioritäten, vor allem Renditeziele, eine Rolle: Gesundheitsmassnahmen kosten eben auch Geld. Diesen Unternehmen rate ich, ihre Führungskräfte als wertvolle Ressource anzusehen, deren Gesundheit geschützt und gefördert werden muss. Sonst steht, auch betriebswirtschaftlich gesehen, viel auf dem Spiel: Fällt eine leitende Kraft für längere Zeit aus, geht es gleich um erhebliche Summen.
Viele Unternehmen machen sehr gute Erfahrungen damit, der Gesundheit einen öffentlichen Raum zu geben, zum Beispiel an Gesundheitstagen. Betroffene Führungskräfte sind danach eher bereit, sich Hilfe zu holen, ohne sich gegenüber den Kollegen outen zu müssen. Auch die Einrichtung einer internen oder externen Anlaufstelle für psychosoziale Anliegen kann als «Employee Assistance Program» für die Betroffenen sehr hilfreich sein, wenn ihre Probleme diskret behandelt werden.
Einmal Vollgas, immer Vollgas
Andreas Zimber: Einmal Vollgas, immer Vollgas?, Springer Verlag, 2018, 142 Seiten.