Sommerserie 2017

Es ist wirklich wahr – oder: Der Unterschied zwischen sozialer Neugier und Lästern

Willkommen in der Welt der Märchen. «Es ist wirklich wahr» erklärt, wie sich Fehlinformationen verbreiten und Gerüchte entstehen, welche Funktion Klatsch und Tratsch in unserer Gesellschaft haben, dass Informationen austauschen nicht gleich Lästern ist – und warum Unternehmen gerade in Krisen offen und schnell kommunizieren sollen.

Das Märchen

Es ist wirklich wahr von Hans Christian Andersen (1848)¹

Es war einmal ein Huhn. Eines Abends stieg es die Leiter im Hühnerstall hinauf und kratzte sich mit dem Schnabel. Dabei fiel ihm eine kleine Feder aus. «Hin ist hin!», sagte es. «Aber je mehr ich mich putze, desto schöner werde ich noch!» Das war nur so dahingesprochen. Die meisten anderen Hühner schliefen schon – eines hörte aber mit einem Ohr mit und flüsterte seiner Nachbarin zu: «Hast Du gehört? Ich nenne keinen Namen, aber es gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schön auszusehen! Wenn ich ein Hahn wäre, würde ich es verachten.»

Gegenüber von den Hühnern sass die Eule mit ihrem Eulenmann und den Eulenkindern. Sie hatten scharfe Ohren und hörten, was das Huhn sagte und tuschelten: «Da ist ein Huhn, das sich alle Federn vom Leibe zupft und es den Hahn mit ansehen lässt!» Die Tauben am gegenüberliegenden Taubenschlag bekamen mit, worüber sich die Eulenfamilie unterhielt. «Habt ihr schon gehört? Da ist ein Huhn, das sich alle Federn ausgerupft hat wegen des Hahns. Es wird sich totfrieren, wenn es nicht schon tot ist. Es ist zwar eine unanständige Geschichte – aber es ist wirklich wahr!» So trugen die Tauben weiter, was sie gehört hatten: «Da ist ein Huhn – einige sagen sogar, es seien zwei –, die sich alle Federn ausgerupft haben, um nicht wie die anderen auszusehen und dadurch die Aufmerksamkeit des Hahns zu erregen. Das ist ein gewagtes Spiel, man kann sich dabei erkälten und am Fieber sterben – nun sind sie beide tot!»

So eilte die Geschichte von Hühneraus zu Hühnerhaus und endete zuletzt an der Stelle, von wo sie ausgegangen war. «Da sind fünf Hühner», hiess es, «die sich alle die Federn ausgerupft haben, um zu zeigen, welches von ihnen am magersten vor Liebeskummer um den Hahn geworden ist – und sie hackten aufeinander los, bis das Blut floss und alle tot waren.» Das Huhn, das die lose, kleine Feder verloren hatte, erkannte sich in der Geschichte nicht wieder und sagte: «Diese Hühner verachte ich. So etwas soll man nicht vertuschen, ich will jedenfalls das meinige dazu tun, dass die Geschichte in die Zeitung kommt, dann geht sie durch das ganze Land!» Und es kam in die Zeitung und wurde gedruckt. Und es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner werden.

Stille Post und Kommunikationsverhalten

Wenn ein Empfänger das Verstandene einer weiteren Person erzählt, die ihrerseits die Information an andere weitergibt, dann weist die Information nach der sechsten/siebten Weitergabe nur noch eine schwache Ähnlichkeit mit der Ursprünglichen auf. Dies ist auch der Fall, wenn das Ziel explizit in der Aufrechterhaltung des Wahrheitsgehaltes liegt. Das Phänomen, dass Nachrichten nach mehreren Weitergaben verändert werden, nennt man stille Post². Wie im Märchen werden die Botschaften durch die Informationsweitergabe so verzerrt, dass sie am Ende – im extremen Fall – nicht einmal mehr der Initiator wiedererkennt. Laut der Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung³ werden Wahrnehmungsprozesse durch Wahrnehmungshypothesen gefiltert, welche auf vergangenen Erfahrungen aufbauen. Wenn wir etwas wahrnehmen, bilden wir im ersten Schritt eine Hypothese darüber, was geschehen wird. Im Anschluss integrieren wir Informationen aus der Umwelt. Da wir in der Regel davon ausgehen, dass das Wahrgenommene auch der Wahrheit entspricht, konstruiert sich jeder seine eigene Realität beziehungsweise Wahrheit. Individuelle Wahrheiten können unterschiedlich ausfallen, gleichzeitig stehen sie in Koexistenz zueinander, was in einem erhöhten Konfliktpotenzial resultiert.

Es ist anzunehmen, dass bei den verschiedenen Tieren im Märchen jeweils stark ausgeprägte Wahrnehmungshypothesen vorherrschten, denn je stärker die Hypothese, desto wahrscheinlicher wird sie aktiviert und spiegelt sich in dem Verhalten wider, umso weniger unterstützende Informationen aus der Umwelt werden zur Bestätigung benötigt und umso mehr widersprechende Informationen aus der Umwelt werden zur Widerlegung benötigt.

Soziale Neugier und Gossip: der Unterschied

Klatsch und Tratsch sind nichts Neues in der Geschichte der Menschheit. Der Historiker Yuval Noah Harari⁴ erläutert in seinem Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit» die «Klatschhypothese des Spracherwerbs». Seiner Hypothese nach hat sich die Sprache entwickelt, um Informationen über die Umwelt auszutauschen; Informationen über Nahrungsquellen waren dabei nicht annähernd so wichtig, wie zu erfahren, wer in der Gruppe wen leiden kann und wen nicht. Durch den Austausch des Wissens über andere konnten unsere frühen Vorfahren komplexere Formen der Zusammenarbeit entwickeln.

Diese Ansicht vertritt auch der Psychologe Robin Dunbar⁵, der Gossip als Ersatz für die gegenseitige Fellpflege zur Stärkung des sozialen Zusammenhaltes von Affen ansieht. Die Psychologie unterscheidet zwischen sozialer Neugier und Gossip (Klatsch und Tratsch).

Unter sozialer Neugier versteht man das Bedürfnis nach neuen Informationen über andere Personen, um die soziale Umwelt zu explorieren⁶. Sozialer Neugier werden daher die Funktionen zugeschrieben, sich Wissen und Informationen über die soziale Umwelt anzueignen, Beziehungen und soziale Netzwerke aufzubauen und zu erhalten und ein Gefühl der Kontrollierbarkeit der sozialen Umwelt zu erlangen. Sie ist somit positiv konnotiert.

Gossip hingegen bezeichnet das Reden über nicht anwesende Personen und dient unter anderem der Unterhaltung⁷.

Hartung⁷ konnte zeigen, dass sozial neugierige Menschen, Eigenschaften von anderen Menschen, die in ersten Begegnungen relevant sind (Extraversion und Offenheit), genauer einschätzen konnten. Zudem erleichtert soziale Neugier durch vermehrte explorative (z. B. Fragen stellen) und responsive (z. B. auf Gesagtes näher eingehen) Verhaltensweisen den Aufbau sozialer Beziehungen. In dem Märchen wird weniger soziale Neugier gezeigt, sondern eher getratscht, da das Huhn bzw. die Hühner, über die geredet wurde, nicht anwesend waren.

Doch warum tratschen wir? Zum einen erfüllt es, wie die soziale Neugier, die Bedürfnisse der Verbundenheit und Kontrolle. Über das Fehlverhalten von anderen Menschen zu tratschen, gibt uns darüber Aufschluss, wem wir trauen können und wem nicht. Es ermöglicht uns damit, unsere Interaktionspartner besser auszuwählen, und erfüllt das Bedürfnis nach Kontrolle in einer hoch komplexen sozialen Umgebung. Wird in Gruppen über andere Gruppen oder Personen gelästert, so stärkt dies das Gefühl der Verbundenheit innerhalb der Gruppe sowie den eigenen Selbstwert. Allerdings lästern wir auch über Personen, die wir gar nicht kennen, z. B. Prominente. Der Grund dafür könnte sein, dass es darum geht, Verhaltensweisen in einer Gemeinschaft zu evaluieren und so Normen der Gruppen zu erlernen, zu festigen und zu verändern. Dadurch findet durch Gossip zum anderen auch kulturelles Lernen statt⁸.

Schliesslich kann Lästern auch als Machtinstrument eingesetzt werden, indem wahre oder bewusst falsche Informationen über Andere gestreut werden. Das gezielte wiederholte Verbreiten von Gerüchten über eine Person wird auch als Mobbing bezeichnet. Farley⁹ zeigte, dass Mobbing jedoch auch für den Tratschenden negative Auswirkungen haben kann. Menschen, die regelmässig lästern, werden als weniger mächtig wahrgenommen und weniger gemocht als solche, die seltener lästern. Allgemein werden Personen, die positive Dinge über andere Menschen erzählen, als positiver wahrgenommen und eher gemocht als solche, die Negatives über andere Menschen erzählen.

Und die Moral ...  

Der Austausch sozialer Information stellt eine wichtige Basis für unser Zusammenleben dar. Durch das Bewerten von Verhaltensweisen werden Normen über Erlaubtes und Verbotenes innerhalb einer Kultur festgelegt. Allerdings kann dieser Austausch individuell unterschiedlich gestaltet werden und unterschiedliche Auswirkungen haben. Das Interesse am Gegenüber, die soziale Neugier, hilft uns dabei, Menschen besser einzuschätzen und bessere Beziehungen aufzubauen. Der Tratsch über Fehltritte anderer Menschen mag kurzfristig unseren Selbstwert erhöhen, kann jedoch auch dazu führen, dass andere uns langfristig weniger positiv wahrnehmen. Wie häufig tratschen Sie? Versuchen Sie sich an das letzte Mal zu erinnern und überlegen Sie, was eigentlich Ihre Intention dahinter war.

  • Wollten Sie sich mit Ihrem Gegenüber verbunden fühlen, indem Sie gemeinsam das Verhalten anderer bewerten und sich darüber amüsieren?
  • Wollten Sie sich von Ihrem Gegenüber die Bestätigung einholen, dass das Verhalten eines anderen unrechtmässig war?
  • Wollten Sie Aggressionen abbauen und vielleicht sogar bewusst jemandem schaden?

In Unternehmen stehen Gerüchte häufig in Konkurrenz zu den offiziell verbreiteten Informationen und lassen sich durch die Unternehmensleitung kaum kontrollieren. Gerüchte sind per se nicht negativ, sondern erst einmal eine ökonomische Form der Kommunikation (Mundpropaganda). Insbesondere in Krisensituationen zögert das obere Management die offizielle Informationsweitergabe an die Mitarbeiter häufig so lange wie möglich hinaus. Hohe Unsicherheit und Ambivalenz führen zu Angst und Stress, wodurch die Wahrscheinlichkeit zur Entstehung von Gerüchten erhöht wird¹⁰. Je transparenter Veränderungen im Unternehmen kommuniziert werden, desto weniger Raum entsteht für Gerüchte und Unsicherheit.

Es war einmal ...

In unserer Sommerserie 2017 stellen wir Ihnen neun Märchen unter dem Aspekt der psychologischen Analyse vor – und was wir für Mitarbeiterführung und Selbstmanagement daraus lernen können.

Quellen:

  • ¹Andersen, H. C. (2004). Das Andersen Märchenbuch. Wien, München: Annette Betz.
  • ²Sader, M. (2008). Psychologie der Gruppe (9. Aufl.). Weinheim: Beltz.
  • ³Lilli, W., & Frey, D. (1993). Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung. In: D. Frey, & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie – Band I: Kognitive Theorien. Bern: Huber.
  • ⁴Harari, Y. N. (2013). Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: Deutsche Verlags-Anstalt.
  • ⁵Dunbar, R. I. (2004). Gossip in evolutionary perspective. Review of General Psychology 8, 100–110.
  • ⁶Renner, B. (2006). Curiosity about people: The development of a social curiosity measure in adults. Journal of Personality Assessment 87, 305–316.
  • ⁷Hartung, F.-M. (2010). Social curiosity and its functions. Digitale Dissertation. Konstanz: Universität Konstanz. https://kops.uni-konstanz.de/bitstream/handle/123456789/10138/Diss_Hart…. Zugegriffen: 14. November 2016.
  • ⁸Baumeister, R. F., Zhang, L., & Vohs, K. D. (2004). Gossip as cultural learning. Review of General Psychology 8, 111–121. Blickle, G. (2004). Interaktion und Kommunikation. In: H.
  • ⁹Farley, S. (2011). Is gossip power? The inverse relationship between gossip, power, and likability. European Journal of Social Psychology 41, 574–579.
  • ¹⁰Kapferer, J. N. (1997). Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Berlin: Aufbau.

Buchtipp

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Märchen befassen sich seit jeher mit zentralen Fragen und Schwierigkeiten des menschlichen Lebens und der Entwicklung – wie auch die Psychologie. Aber stimmt die «Moral von der Geschicht» jedes Mal auch aus wissenschaftlicher Perspektive? Erfahren Sie, welche Lektionen wir auch heute noch von Hans im Glück, Schneewittchen, Rumpelstilzchen und all den anderen für unsere Lebensgestaltung, Führung und Erziehung lernen können.

Dieter Frey (Hrsg.): Psychologie der Märchen. 41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus ihnen lernen können.

 

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Miriam Krug ist Mitautorin des Buches «Psychologie der Märchen».

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