Arbeit und Recht

Höchstarbeitszeiten – kritische Erfolgsfaktoren?

Von den zulässigen Höchstarbeitszeiten hängt ab, in welchem Ausmass die Entschädigung von Überstunden frei verhandelbar bleibt oder vertraglich gar ganz ausgeschlossen werden kann. Die Frage ist für die Personalkosten und damit für den (verbleibenden) Unternehmensgewinn von ­erheblicher Bedeutung. Trotzdem wissen viele Personal­verantwortliche nicht, wie die massgebende Höchstarbeits­zeit bestimmt wird.

Nicht für alle Betriebe und Arbeitnehmer gilt das Arbeitsgesetz (ArG). Dort, wo es anwendbar ist, kann die Entschädigung (oder Zeitkompensation) von Überstunden vertraglich nur soweit frei verhandelt oder ausgeschlossen werden, wie die Überstunden die gesetzliche Höchstarbeitszeit nicht überschreiten (Art. 321c Abs. 3 OR). Denn Überzeitansprüche sind zwingend (Art. 13 ArG).

Verhältnis Überstunden zur Höchstarbeitszeit

Gemäss Art. 9 Abs. 1 ArG sind (stark verkürzt dargestellt) folgende wöchentlichen Höchstarbeitszeiten zu beachten:

  1. Industrielle Betriebe: 45 Stunden
  2. Angestellte («White Collar Workers»): 45 Stunden
  3. Arbeiter («Blue Collar Workers»): 50 Stunden
  4. Verkäufer in Grossbetrieben des Detailhandels: 45 Stunden    5. Andere Verkäufer: 50 Stunden

Für die Kategorien gemäss Ziffer 2 und 4 sind Überzeitansprüche erst ab der 61. Stunde pro Jahr zwingend (Art. 13 ArG).

Interessenlage: Zahlen, Fakten und Beispiele

92,1 Prozent der Schweizer Unternehmen beschäftigen weniger als 10 Mitarbeiter, weitere 6,4 Prozent weniger als 50. Bei 70 Prozent aller ­Unternehmen liegt der Jahresumsatz unter 0,5 Mio. Franken. Angenommen, eine Arbeitnehmerin arbeitet für einen Grundlohn von 2100 Franken pro Woche und bei einer wöchentlichen Soll-Arbeitszeit von 42 Stunden: Je nachdem, ob für sie eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 45 oder 50 Wochenstunden gilt, kann die Bezahlung der Überstunden frei verhandelt oder vertraglich ganz ausgeschlossen werden:

  • 45 Wochenstunden: verhandelbar 3 Überstunden; entsprechend 150 Fanken (7,14 Prozent)
  • 50 Wochenstunden: verhandelbar 8 Überstunden; entsprechend 400 Franken (19,04 Prozent)

In unserem Beispiel lassen sich 19 oder lediglich 7 Prozent der (ohnehin schwer budgetierbaren) Überstundenkosten frei verhandeln. Dieser Unterschied könnte sich für eine Arbeitgeberin mit knappem Budget, deren wirtschaftliche Überlebensfähigkeit vielleicht von geringen Schwankungen der Personalkosten abhängen kann, als entscheidend erweisen.

Angenommen, ein Kleinunternehmen beschäftigt acht Mitarbeiter:

  • 1 Geschäftsführerin, zugleich Allein­eigen­tümerin des Unternehmens;
  • 1 Verkäuferin, die mehr als die Hälfte ihrer ­Arbeitszeit im Aussendienst leistet;
  • 3 Arbeiter in der Produktion und Logistik;
  • 3 Büroangestellte.

Alle Arbeitnehmer sind im selben Betrieb beschäftigt. Welche Höchstarbeitszeiten sind anwendbar?  Gelten für alle Mitarbeiter eines Arbeitgebers dieselben Höchstarbeitszeiten? Oder lediglich für alle Mitarbeiter, die im selben Betrieb beschäftigt werden? Oder sind Höchstarbeitszeiten stets individuell zu bestimmen? Der Anwalt antwortet – wer hätte es anders erwartet: «Es kommt darauf an.» In unserem Beispiel sind die Geschäftsführerin und die Verkäuferin (die sich als Handelsreisende im Sinne von Art. 347 OR qualifiziert) dem Arbeitsgesetz und damit seinen Höchstarbeitszeiten nicht unterstellt (Art. 3 lit. d und g ArG). Sie fallen ausser Rechnung.

Wäre unser Beispielbetrieb als «industrieller Betrieb» im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. a ArG zu qualifizieren, würde für die Büroangestellten und die Arbeiter einheitlich eine betriebliche Höchst­arbeitszeit von 45 Wochenstunden gelten. Eine der Voraussetzungen, die einen Betrieb als «industriell» qualifiziert, ist die Beschäftigung von min­des­tens sechs industriellen Arbeitern (Art. 5 Abs. 2 lit. a ArG). Unser Beispielbetrieb ist also kein «industrieller».

Gelten also individuelle Höchstarbeitszeiten, nämlich für die drei Arbeiter grundsätzlich 50 Stunden Höchstarbeitszeit pro Woche (Art. 9 Abs. 1 lit. b ArG) und für die Büroangestellten 45 Stunden (Art. 9 Abs. 1 lit. a ArG)? – Art. 9 Abs. 5 ArG sagt: «Auf Büropersonal, technische und andere Angestellte […], die im gleichen Betrieb oder Betriebsteil zusammen mit Arbeitnehmern beschäftigt werden, für die eine längere wöchentliche Höchstarbeitszeit gilt, ist diese ebenfalls anwendbar.»

Gilt für die Büroangestellten folglich die gleiche höhere Höchstarbeitszeit wie für die Arbeiter, nämlich 50 Stunden pro Woche? – Das Staatssekretariat für Wirtschaft Seco würde die Frage wahrscheinlich mit «Nein» beantworten. Denn gemäss Seco müsste die Mehrheit aller Beschäftigen Arbeiter sein. In unserem Beispiel ist es nicht die Mehrheit, sondern genau die Hälfte. In kleinen Betrieben kann die Seco-Richtlinie, konsequent angewandt, bei jeder einzelnen Personalmutation zu immer wieder wechselnden Höchstarbeitszeiten für die Angestellten führen. Einmal wären es 45, dann wieder 50 Stunden. Die Haltung des Seco ist deshalb zu hinterfragen: Sie kann sich weder auf den Wortlaut des Gesetzes, noch auf eine Verordnung, noch auf die bundesrätliche Botschaft zum Arbeitsgesetz stützen. Warum soll es nicht genügen, wenn beispielsweise die Hälfte oder auch nur wesentliche Teile der Beschäftigten Arbeiter sind, damit für den ganzen Betrieb die höhere Höchst­arbeitszeit von 50 Wochenstunden pro Woche gilt? Und: Ist die Mehrheit nach Köpfen oder nach Stellenprozenten zu messen? – Diese Fragen sind offen und durch die Praxis noch auszuloten. Denn die Deutungshoheit über das Arbeitsgesetz liegt nicht beim Seco, sondern bei den Gerichten.

Tipps für die Praxis

Das Arbeitsgesetz regelt die Höchstarbeitszeit also nicht pro Arbeitgeber, sondern entweder pro Betrieb (oder Betriebsteile) oder individuell nach Arbeitnehmerkategorie. Methodisch sollte deshalb als Erstes geklärt werden, welche Einheiten eines Unternehmens als Betriebe oder Betriebsteile zu separieren sind. In einem nächsten Schritt wäre fest­zustellen, ob für diese Betriebe einheitliche oder individuelle Höchstarbeitszeiten gelten. Im Zweifelsfall geben die kantonalen Arbeitsinspektorate Auskunft. Allerdings kann der Behördenkontakt im schlechtesten Fall eine unerwünschte Eigen­dynamik entwickeln. Denn die kantonalen Arbeitsinspektorate sind für den Vollzug des Arbeitsgesetzes, insbesondere für Arbeitszeitkontrollen zuständig.

Schlussfolgerungen

Wie weit Überstunden entschädigt werden, ist oft eine Frage wirtschaftlicher Notwendigkeiten oder der Unternehmenskultur. Korrekter und aufrichtiger scheint es, die Möglichkeiten des Arbeits­gesetzes auszuloten, statt (oft unter dem Titel der «Vertrauensarbeitszeit») auf die im Arbeitsgesetz vorgesehene Arbeitszeiterfassung zu verzichten – und so die Arbeitnehmer um die Beweismittel zu «prellen», mit denen sie Überstundenarbeit vor Gericht beweisen könnten.

HR Today-Serie Arbeitszeiterfassung: Teil 4

Innerhalb der Rubrik «Arbeit und Recht» ­beleuchtet HR Today in ­jeder dritten Ausgabe das kontroverse Thema Arbeitszeiterfassung. Der Hauptbeitrag von Dr. Heinz Heller, der juris­tische Aspekte der Arbeitszeiterfassung beleuchtet, wird von Ivo Muri durch eine Replik aus der Perspektive der Zeitwirtschafts­system-Praxis ergänzt.

 

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Dr. Heinz Heller 
praktiziert als Fachanwalt SAV Arbeitsrecht. Er berät überwiegend Arbeitgeber und Manager.

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