HR Today Nr. 3/2017: Weiterbildung

Virtuelles Training

Der Gotthard-Basistunnel ist nicht nur baulich hochkomplex, sondern forderte auch Innovation in Sachen Ausbildung. Um die rund 4000 involvierten Fachkräfte in einer simulierten Welt verschiedene Szenarien durchleben zu lassen und ihnen Handlungssicherheit zu vermitteln, liessen die SBB den Tunnel virtuell nachbauen. – Einblick in ein preisgekröntes Millionenprojekt.

Der längste Eisenbahntunnel der Welt: ein Jahrhundertprojekt mit 17 Jahren Bauzeit. Die Imposanz des Gotthard-Basistunnels ist gewaltig. Doch die Komplexität bezieht sich nicht nur auf Bau und Technik. Dass der Bahnbetrieb sicher, zuverlässig und pünktlich ist, erfordert komplexe und teilweise neuartige Prozesse der Zusammenarbeit. Im Rahmen der Erstschulung vor der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels mussten die SBB rund 3000 interne sowie 900 externe Mitarbeitende mit Ausrüstungen, Technologien, Systemen und neuen Prozessen vertraut machen. Wobei die fast 4000 Auszubildenden die unterschiedlichsten Rollen bekleideten – was eine entsprechend hohe Diversität von Lerninhalten voraussetzte.

Diese Ausgangslage stellte die Bildungsverantwortlichen der SBB vor grosse didaktische und schulungslogistische Herausforderungen. Eine weitere Schwierigkeit: Die Tunnelanlage war und ist für Schulungszwecke nur begrenzt zugänglich und nutzbar. Gerade im Zusammenhang mit sogenannten «Störungs- und Ereignisfällen» – wie beispielweise einem Brand im Reisezug mit anschliessender Evakuierung – sollte das Zugpersonal Handlungssicherheit erlangen. Solche Realsituationen in Form von Live-Übungen durchzuführen, wäre jedoch zu aufwändig, zu teuer und zu gefährlich.

Virtuelle Trainingswelt mit Avataren

Die Antwort der SBB: die virtuelle Lern- und Trainingswelt «3DSim@GBT». In dieser virtuellen Trainingswelt wurde der Gotthard-Basistunnel nachgebaut mit allem, was dazugehört: Tunnelröhren, Nothaltestellen, Leuchten, Fahrleitungen, Weichen ... – und natürlich detailgetreu animierten Zügen mitsamt Passagieren. Diese werden von sogenannten Avataren mit künstlicher Intelligenz dargestellt. Künstliche Intelligenz – das heisst in diesem Fall, dass die Avatare beispielsweise ein Fluchtverhalten einprogrammiert bekommen  und weglaufen, wenn es brennt oder raucht oder dass sie den Anweisungen folgen, die ihnen das Zugpersonal gibt.

Zudem gibt es in der Trainingswelt weitere Avatare mit SBB-Mitarbeiterrollen, die von den Teilnehmenden besetzt werden. Diese können sich innerhalb der «3DSim@GBT» in sechs verschiedenen Rollen frei bewegen und dabei interagieren: Lokführer, Zugchef, Reisezugbegleiter, Mitarbeiter Intervention und Mitarbeiter Erhaltung sind als jeweils typisch erkennbare Avatare innerhalb der virtuellen Welt visualisiert. Zudem gibt es einen Zugverkehrsleiter, der sich in der realen Welt ausserhalb des Tunnelsystems in einer Zentrale befindet. Er ist in der virtuellen Welt nicht als Avatar vorhanden, wurde jedoch mittels vereinfachter Abbildung des Arbeitsplatzes in die Simulation integriert. Weiter besteht die Möglichkeit, eine beliebige Anzahl von aktiven Reisenden zu definieren, die dann auch von Trainingsteilnehmenden übernommen werden können. So können beispielsweise Beobachterrollen oder Spezialrollen wie «Zugpersonal auf Dienstfahrt» bei Bedarf in Szenarien integriert werden.

Bei der Simulation sitzen zwei Gruppen à sechs Leute in einem Hörsaal vor Computern. Ihre Arbeitsplätze sind schallabgeschirmt. Sie sollen in der Simulation miteinander kommunizieren können, ohne sich dabei in der realen Welt zu hören. Durch das Training begleitet werden die Sechsergruppen von je zwei Ausbildnern. Der Auftrag an die Bahn-Mitarbeitenden: verschiedene Szenarien meistern, die im Alltag des Zugpersonals eintreten können – wobei sich Wahrscheinlichkeit und Intensität der Szenarien unterscheiden. Die Palette reicht vom Zugbrand mit einer vollständigen Evakuation im Tunnel über einen Zugstillstand bis hin zum Fehlalarm – und schliesslich zur ganz normalen Fahrt.

Ein Szenario könnte konkret so ablaufen: Alarm. Kofferbrand in Wagen drei. Künstlich intelligente Avatare laufen durch die Türen. Darunter Männer, Frauen, Kinder … Ein Zugbegleiter löscht den Brand und stellt sicher, dass niemand mehr im Zugabteil ist. Dann schliesst er die Tür. Wenn es nicht um ein Menschenleben geht, lautet die strikte Anweisung: raus aus der Gefahrenzone. Die Reisenden werden informiert und betreut. Parallel dazu folgt die Kommunikation mit den Kollegen im Zug und dem Zugverkehrsleiter in der Betriebszentrale. Entwarnung. Der «Ereignisbetrieb» im Tunnel kann zurückgestellt werden – die Fahrt geht normal weiter.

Wie im richtigen Leben

Das Ziel solcher realitätsnahen Szenarien besteht darin, den Profis Handlungssicherheit zu vermitteln. Michael Bruderer, Leiter Bildungsentwicklung bei den SBB sowie Initiator, konzeptioneller Vater und Realisator des Projekts «3DSim@GBT», erklärt: «Die Mitarbeitenden sollen ein Gefühl dafür bekommen, wie verschiedene Szenarien ablaufen und welche Auswirkungen ihre Handlungen haben.» Wenn Fehler bei der Kommunikation passieren, kann dies verheerend sein. Wenn ein Feuer nicht richtig gelöscht wird, brennt es weiter. In der Simulation genauso wie im richtigen Leben.

Ein weiterer Vorteil der Simulation ist, dass Mitarbeitende in der virtuellen Lernwelt nicht an die Rollen gebunden sind, die sie im richtigen Leben einnehmen. «Dies gibt den Mitarbeitenden die Möglichkeit, verschiedene Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven zu erleben.» Der Perspektivenwechsel wird zudem auch im Nachhinein möglich, indem jedes Szenario aufgezeichnet wird. Die Beteiligten können die Übung so beispielsweise aus der Sicht eines Kollegen oder aus der «Vogelperspektive» betrachten. Dies soll die Selbstreflexion fördern. Es sei einfacher, eine Erkenntnis selbst zu erlangen, so Bruderer. «Wenn man eine Situation von aussen betrachtet, ist das ein völlig anderes Erlebnis, als wenn man selbst mitten in der Situation ist. Dieser Perspektivenwechsel geht über die Möglichkeiten einer real inszenierten Übung hinaus und unterstützt das Lernen sehr stark.» Um das Gelernte gezielt zu verarbeiten, folgt auf jede Simulation ein Debriefing.

Als Instrument der Evaluation folgt auf die Lernsituationen zudem jeweils eine mündliche Feedbackrunde. Ausserdem liessen die SBB die Teilnehmenden im Zeitraum von zwei bis vier Wochen nach der Schulung schriftliche Feedbackbögen ausfüllen. Ergänzt wurde die Evaluation nach weiteren zwei bis vier Wochen mit mündlichen Befragungen von zufällig ausgewählten Teilnehmenden im Sinne von Stichproben. «Die Auswertungen haben gezeigt, dass die Anwendung und das damit einhergehende moderne Lernsetting bei allen Beteiligten auf grosse Begeisterung und Akzeptanz stiessen», so Bruderer. Besonders geschätzt hätten die Trainingsteilnehmer die Erlebbarkeit der Prozesse zusammen mit den anderen Rollen und den daraus resultierenden hohen Lerntransfer. «Rückmeldungen aus dem Berufsalltag deuteten zudem auf eine grundsätzlich gesteigerte Handlungssicherheit der Teilnehmenden in ihrer beruflichen Praxis hin – auch über die in der Simulation trainierten Situationen hinaus.»

«Eigentlich unmöglich»

Das Vorhaben war von Anfang an von zeitlichen Limitierungen mit Nulltoleranz geprägt: «Die Inbetriebnahme des Gotthard-Basistunnels generierte für das Projekt einen absolut verbindlichen Endtermin», so Bruderer. 24 Monate hatten die SBB für die Grob- und Detailkonzeption der «3DSim@GBT» investiert – mehr zeitliche Ressourcen gab es nicht. «Ich weiss: Dies ist eigentlich unmöglich», sagt Bruderer zur Umsetzung seines Innovationsprojekts in solch zeitlich begrenztem Rahmen. «Die 24 Monate stellen sicherlich keinen Referenzwert für ein solches Projekt dar. Sie verdeutlichen vielmehr, was der Elan eines Jahrhundertbauwerks nebenbei für Höchstleistungen generieren kann.» Im Februar 2016 konnten die Prozessschulungen zeitgerecht und erfolgreich gestartet werden.

Bei der Wahl des Anbieters für das Ausbildungsprojekt sei den SBB besonders eine hohe didaktische Qualität wichtig gewesen, so Bruderer. «Oder im Umkehrschluss: Der Anbieter darf nicht nur technologiegetrieben sein.» Die Technologie habe eine rein unterstützende und damit untergeordnete Rolle. Ein weiteres wichtiges Kriterium bei der Auswahl des Anbieters habe darin bestanden, dass dieser verschiedene Referenzprojekte ausweisen könne. «Und schliesslich ist ein zentraler Erfolgsfaktor, dass Erfahrungen in Bezug auf iterative und agile Entwicklungsprozesse vorhanden sind.»

Umgesetzt hat die virtuelle Lernwelt der deutsche Anbieter Tricat GmbH. Aufgrund des erwarteten Projektvolumens von zwei bis drei Millionen Franken mussten die SBB den Anbieter mittels WTO-Ausschreibung im Rahmen eines öffentlichen Beschaffungsverfahrens ermitteln. «Tricat unterbreitete uns schliesslich das qualitativ beste Angebot. In der Konsequenz wurde ihnen der Zuschlag gemäss den geltenden gesetzlichen Richtlinien erteilt.»

Virtuell versus real?

Verdrängt das Training im virtuellen Raum bald reale Übungen oder klassische Ansätze des Lernens? Laut Bruderer: Nein. Schulungen in virtuellen Räumen sollen in erster Linie ergänzenden Charakter haben. «In den meisten Fällen können sie das lernrelevante reale Erleben nicht ersetzen», so Bruderer. Obwohl in der heutigen Zeit der Digitalisierung die Nutzung moderner Ausbildungstechnologien eine Selbstverständlichkeit darstelle, sei diese nicht zwingend auch für jede Bildungsmassnahme sinnvoll. «Lernen ist und bleibt ein hoch individueller, immer auch sozialer und stark von äusseren Faktoren beeinflusster Prozess.»

In der betrieblichen Bildung der SBB gebe es durchaus auch Massnahmen, bei denen aufgrund von Inhalten, Zielgruppe und Rahmenbedingungen aus didaktischer Sicht mit einem klassischen Präsenzunterricht die beste Bildungsqualität erreicht werden könne. «Ebenso ergeben sich mit der gleichen Argumentation Potenziale für voll virtualisierte Bildungsmassnahmen oder Mischformen unterschiedlicher Ausprägung.» Auch beim Ausbildungsprogramm im Rahmen des Gotthard-Basistunnels setzten die SBB nicht allein auf das Lernen in der virtuellen Welt. Vielmehr war das Training im virtuellen Raum für das Zugpersonal Teil eines Moduls. Für die Aus- und Weiterbildung im Zusammenhang mit dem Gotthard-Basistunnel haben die SBB rund 90 verschiedene Bildungsprodukte neu konzipiert und entwickelt, für deren Durchführung bis Herbst 2016 rund 20 000 Ausbildungstage notwendig waren.

Die Ausbildungsinnovation hat europaweit für Aufsehen gesorgt – konkret merkt Bruderer das an Einladungen zu Bildungsmessen und Kongressen sowie an Interessensbekundungen von verschiedenen anderen Unternehmen. Mittlerweile wurde das Projekt «3DSim@GBT» auch mehrfach ausgezeichnet. An der Bildungsmesse Learntec in Karlsruhe gewann es den deutschen Innovationspreis für digitale Bildung 2017 «Delina» in der Kategorie «Professional». Mitte Februar nahm Bruderer an der Bildungsmesse Didacta in Stuttgart den E-Learning Award 2017 des E-Learning Journal in der Kategorie «Simulation» entgegen. Ebenso wurde «3DSim@GBT» dort als «Projekt des Jahres» ausgezeichnet.

«Die Technologie kam in dieser Komplexität und Form bisher noch nirgends sonst zum Einsatz», erklärt sich Bruderer das grosse Interesse. Auch abgesehen von Ruhm und Ehre zieht er ein positives Projekt-Fazit: «Aus didaktischer Sicht übertrifft die Anwendung die Erwartungen und eröffnet grosses Potenzial für unsere betriebliche Bildung innerhalb der SBB.»

«Wissensvermittlung allein reicht häufig nicht mehr»

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Herr Herkersdorf, woher kommt der Trend zu virtuellen Lern- und Arbeitswelten?

Markus Herkersdorf: Unsere Arbeitswelten werden zunehmend komplexer und dynamischer. Wissensvermittlung allein reicht häufig nicht mehr. Ideale Lernumgebungen, um auch Handlungskompetenz im geschützten Raum erwerben zu können und dabei ganz dicht an den Erfordernissen der realen Einsatzumgebung auszubilden, stellen simulationsbasierte, virtuelle 3D-Lernwel­ten dar. Hinzu kommt, dass Präsenzschulungen sehr kostenintensiv sind. Mit neuen Formaten wie Virtual 3D Classroom ergeben sich jetzt interessante Alternativen, präsenzähnlich, aber über beliebige Distanzen Ausbildung anbieten zu können – in didaktisch optimal ausgestatteten virtuellen Umgebungen. Virtuelle 3D-Welten eröffnen aber auch örtlich verteilten Teams neue und effiziente Formen der Kollaboration: vom gemeinsamen virtuellen Maschinen- und Anlagenentwurf bis hin zu virtuellen Teammeetings und virtuellem Fach- und Führungskräfte-Coaching.

Was ist der Unterschied zwischen virtuellen Lernwelten und Gamification-Ansätzen?

Virtuelle 3D-Lernwelten versuchen ein möglichst realitätsnahes Abbild unserer physischen Realität zu erzeugen, um etwa wie im Beispiel der Simulationsumgebung des Gotthard-Basistunnels vollständige Handlungen darin trainierbar zu machen. Gamification-Ansätze «peppen» häufig traditionelle Lernformate wie Web Based Trainings auf, um das Lernen damit interessanter zu gestalten. Gamification-Ansätze lassen sich aber durchaus in virtuelle Lernwelten integrieren. Gibt es beispielsweise eine Anzahl zu findender Objekte bei einer Fehlersuche, kann man daraus ein Spiel machen – das spornt den Teilnehmer an, möglichst alle zu finden.

Wie zeigt sich der Trend zu virtuellen Lernwelten in unterschiedlichen Unternehmen? Welche Formen der Umsetzung gibt es?

Virtuelle Lernwelten finden in speziellen Bereichen bereits seit Jahren Verwendung – etwa im Brandbekämpfungstraining im High-Risk-Umfeld von Raffinerien. Nun entdecken immer mehr Unternehmen die besonderen Potenziale dieser Lernumgebungen. Unternehmen wie Audi und BMW setzen derartige Lernwelten etwa bei technischen Trainings oder für interkulturelle Schulungen ein. Das Energieunternehmen RWE trainiert damit Bedienpersonal von Grossgerätebaggern und Weiterbildungsfirmen wie die WBS Training AG betreiben ganze virtuelle Firmen auf der Basis solcher Lernwelten.

Worin bestehen die grössten Herausforderungen beim Thema virtuelle Arbeitswelten?

Häufig verfügen Unternehmen noch nicht über ausreichend Wissen zu den vielfältigen Potenzialen, die virtuelle Welten heute zu bieten haben. Insbesondere die besonderen Qualitäten hinsichtlich Lerntransfer und Nachhaltigkeit werden (noch) unterschätzt.

Was ist Ihre Botschaft an das HR und die Personalentwickler betreffend Einsatz virtueller Lernmethoden?

Dabei sein. Jetzt! Idealerweise mit kleinen Pilotprojekten, um selbst Know-how zu diesen Themen aufzubauen und weitreichendere Entscheidungen dann fundiert treffen zu können. (af)

 

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