HR Today Nr. 4/2019: Recruiting – Bewerber sind auch Kunden

Von Maschinen und Menschen

Algorithmen und künstliche Intelligenz sollen den Bewerbungsprozess effizienter und neutraler machen. Doch was tun solche Algorithmen eigentlich und was verändert sich dadurch?

Ab einer bestimmten Anzahl offener Stellen sind Recruiting-Prozesse sehr zeitaufwendig und für einzelne Recruiter kaum zu meistern. Ein Rechenbeispiel: Pro freie Stelle wünschen sich die meisten Unternehmen zehn bis zwanzig Bewerbungen. Schon bei 15 freien Stellen müssen dafür bis zu 300 Bewerbungen generiert und – ganz gleich ob interessant oder nicht – gesichtet werden. Wie aber kommt man überhaupt auf diese Bewerbungszahl, ohne jede Stelle manuell auf einer Vielzahl von Plattformen schalten zu müssen?

Bewerbergenerierung im Autopiloten

Programmatic Job Advertising bedeutet nichts anderes als die Automatisierung des Personalmarketings durch ein systematisches Performance Marketing. Basierend auf dem Job-Bestand eines Unternehmens und den Rekrutierungskennzahlen berechnet die Software, auf welchen und wie vielen Kanälen eine Stelle ausgeschrieben werden muss, um den gewünschten Bewerbungsrücklauf zu erzeugen. Anschliessend spielt sie die Jobs auf erfolgsversprechenden Kanälen aus, überwacht deren Performance und nimmt sie wieder aus dem Netz, sobald der gewünschte Rücklauf da ist.

Während sich Ausschreibung und Bewerbungsgenerierung mittels Programmatic Job Advertising für viele Berufe automatisieren lassen, frisst die Durchsicht der Unterlagen nach wie vor mehr Kapazitäten, als sie freisetzt. Ich erinnere hier nochmal an die 300 Bewerbungen auf 15 freie Stellen. Doch auch hier kann Software Abhilfe schaffen.

Die Guten ins Töpfchen

Algorithmen bieten uns die Chance, diese Daten ohne manuellen Aufwand zu filtern, den Vorauswahlprozess von unbewussten Vorurteilen zu befreien und so objektiver zu machen. Ob dies gelingt oder – wie Kritiker befürchten – am Ende nur unsere Vorurteile im Algorithmus zementiert, ist die Gretchenfrage. Um sie informiert beantworten zu können, müssen wir zunächst den Prozess verstehen, den so ein Auswahlalgorithmus geht.

Ein Algorithmus ist letztendlich nichts anderes als eine Sequenz verschiedener Prozessschritte, die automatisch nacheinander ausgeführt werden. Um aus einer Flut von Bewerbungen ungeeignete Bewerber auszusortieren und jene mit Potenzial eine Runde weiterzuschicken, scannt und selektiert eine datenbasierte Analysesoftware innert kürzester Zeit unzählige Bewerbungen nach festgelegten Kriterien.

Mit Hilfe eines CV-Parsings (das automatisierte Scannen eines Lebenslaufs) werden unsortierte Daten erkannt und sortiert. Die Parsing-Funktion liest dafür zuerst den Text aus, erkennt und strukturiert relevante Daten und macht die Bewerbungen in einer Liste systematisch durchsuchbar.

Nachdem das CV-Parsing die Daten maschinell lesbar gemacht hat, können die Bewerbungen in Sekundenschnelle durch das sogenannte CV-Matching mit dem Anforderungsprofil des jeweiligen Jobs abgeglichen werden. Die hieraus entstehende Liste lässt sich durch das Weg- und Zuschalten von Skills oder einer Veränderung der Gewichtung mit einem Klick neu sortieren. Eine Leistung, die ein Mensch nur durch eine nochmalige Analyse erbringen könnte.

Insbesondere bei der Suche nach Mangelprofilen kann sich ein Personaler nicht nur auf aktiv Jobsuchende verlassen. Das CV-Matching wird deshalb im Active Sourcing auch auf maschinell auslesbare Daten aus externen Quellen wie Xing oder Linkedin angewandt. Anhand von Jobtiteln und Skills werden passende Kandidaten mit den ausgeschrieben Jobprofilen abgeglichen und in eine interne Datenbank übertragen. Natürlich können nur öffentlich zugängliche Informationen genutzt werden.

Fakten statt Bauchgefühl

In vielen Unternehmen herrscht weiterhin die Vorstellung, dass die besten Entscheidungen von erfahrenen HR-Profis getroffen werden – auch wenn es sich um Bauchentscheide handelt, die stark subjektiv geprägt sind und deren Informationsgrundlage nicht immer valide ist.

Die Psychologie hat jedoch zahlreiche systematische Fehler in Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale in Recruiting-Prozessen aufgedeckt, die durch intuitive Einschätzungen auftreten: Während attraktive Menschen unbewusst überschätzt werden oder grosse, kräftige Bewerber führungsstärker wirken, werden Personen mit Akzent oder sichtbarem Übergewicht häufig als undiszipliniert oder fauler bewertet.

Im Laufe unseres Lebens sammeln wir Denkmuster, die unser Gehirn in verschiedenen Situationen anwendet – manchmal richtig, manchmal falsch. Entsprechende Erfahrungen verknüpfen wir mit Assoziationen, die unbewusst unsere Denkprozesse steuern und unser Verhalten beeinflussen. Folglich sind Unconscious Bias, also unbewusste, in die Kandidatenbewertung einfliessende Vorurteile, im klassischen Bewerbungsverfahren eher die Regel als die Ausnahme.

Algorithmen und Unconscious Bias

Von Unconscious Bias und unbewussten kognitiven Verzerrungen getäuscht, treffen Personaler Entscheidungen, die objektiv betrachtet unfair, sogar diskriminierend und nicht zuletzt zum Nachteil des Unternehmens sein können. Richtig programmiert, arbeitet ein Algorithmus ausschliesslich mit validen, objektiven Informationen und bietet uns die Chance, Inhalte neutral miteinander zu vergleichen und Wahrscheinlichkeiten zur Job-Kandidaten-Passung zu berechnen. Doch mit welchen Daten vergleicht der Algorithmus das überhaupt?

Algorithmen sind nicht einfach da und wissen automatisch, was zu tun ist. Denn wie eingangs erklärt, ist ein Algorithmus nichts anderes als eine Sequenz verschiedener Prozessschritte, die in einem Entscheidungsbaum automatisch nacheinander ausgeführt werden. Die Auswahlkriterien der einzelnen Prozessschritte sind anfänglich ein unbeschriebenes Blatt Papier, bis der Entwickler diese festlegt.

Egal, ob es um fachliche oder persönliche Einschätzungen des Algorithmus geht: Um faire Ergebnisse zu erzielen, kommt es in erster Linie darauf an, den Algorithmus mit wertfreien Daten zu füttern. Sorgt man dafür, dass bei jedem Bewerber die gleichen Daten neutral erfasst und ohne Ansehen der Person nach denselben Prinzipien bewertet werden, sind die Entscheidungsprozesse der Algorithmen effizient, zeitsparend und frei von subjektiven Wertungen.

Solange Geschlecht, Alter oder auch Herkunft nicht als Auswahlkriterien festgelegt werden, wird folglich auch nicht danach diskriminiert. Das bedeutet, dass selbst ein relativ einfacher Algorithmus ohne künstliche Intelligenz das Potenzial hat, die Personalauswahl neutraler und dazu noch schneller und effizienter zu machen. Vorausgesetzt, dass die Erfolgskriterien für die Personalauswahl bekannt sind. Warum aber gibt es dann so viele Ängste, was den Einsatz von Algorithmen zur Personalauswahl anbelangt?

Mögliche Verzerrungen durch Machine Learning

Der Grund, dass auch sachkundige Beobachter, die nicht um ihren eigenen Job fürchten, der algorithmischen Personalauswahl mit Skepsis begegnen, liegt darin, dass Machine Learning und Big Data die Entwicklung selbstlernender Selektionsalgorithmen ermöglichen. Wenn ein Algorithmus eigenständig zu lernen beginnt und Entscheidungen aus Vergangenheitsdaten herleitet, können Daten fehlinterpretiert werden. Scannt der Algorithmus beispielsweise Mitarbeitende eines Unternehmens, in dem kaum Frauen arbeiten und Männer so zu den Hauptleistungsträgern werden, lernt er vereinfacht gesprochen, dass Männer diesen Job besser ausführen können und ignoriert bei der Auswahl neuer Mitarbeitender die Bewerbungen von fähigen Kandidatinnen. Dasselbe fehlerhafte Ergebnis stellt sich ein, wenn wir einen korrekt programmierten Lern-Algorithmus mit vorurteilsbehafteten Vergangenheitsdaten trainieren.

Die Sorgen der Skeptiker bezüglich einer algorithmischen Diskriminierung müssen ernst genommen und ihr Eintreten durch entsprechende Vorsichtsmassnahmen verhindert werden. Doch Vorurteile bekommen wir auf Software-Ebene einfacher ausgeschaltet, als den in der Persönlichkeit aller Menschen verankerten Unconscious Bias. Hinzu kommt, dass ein Algorithmus zeitliche Freiräume schafft, die für zusätzliche Massnahmen genutzt werden können. Solche, die den Recruiting-Prozess trotz computergesteuerter Algorithmen menschlicher werden lassen und den Menschen Zukunftsaussichten abseits des Daseins als Prozesssklave ermöglichen.

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Jan Kirchner ist Geschäftsführer der Wollmilchsau GmbH.

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