Den Mitarbeitenden den Entscheid über das Mittagsgetränk zu überlassen, einschliesslich eines Glases Wein oder eines Biers, ist erst mal Anerkennung: Die Organisation traut ihren Leuten zu, mit Alkohol sinnvoll umzugehen.
Ich stand in einer Apotheke, als eine schwangere Frau vor mir eine kleine Flasche irgendwelcher Tropfen abholte. Die Auszubildende zögerte und nahm mit dem Apotheker Rücksprache: Darf ich einer schwangeren Frau eine alkoholische Lösung abgeben? Der Apotheker stellte ihr eine Rechenaufgabe, an deren Lösung ich mich nicht mehr erinnere. Jedenfalls produziert der gesunde menschliche Körper selbst eine geringe Menge Alkohol, mehr, als mit einer üblichen Dosis solcher Tropfen aufgenommen wird. Damit sind wir bei der Menge und um die muss es gehen, denn das
Totalverbot von Alkohol würde dem Menschen ja untersagen, im eigenen Körper Alkohol zu produzieren – eine schwierige Sache. Diese 0,03 Promille müssen drin liegen. Das andere Ende der Skala wäre allerspätestens erreicht, wenn die Fahrtauglichkeit in Frage gestellt ist. Dazwischen unterliegt die Gestaltung des Alkoholkonsums dem gesunden Menschenverstand.
Von einem Piloten wünsche ich mir 0,03 Promille, beim Schalterbeamten ziehe ich vielleicht sogar jemanden mit 0,3 Promille Alkohol im Blut vor. Zudem können Fahrtauglichkeit und Arbeitsfähigkeit auch anders leiden: Etwa durch Schlafprobleme, einen Todesfall im nahen Umfeld oder andere akute psychische Belastungen, Burnout, zu wenig Sport, dauerungesunde Ernährung. Oder: Zwar kein Bier über Mittag, aber zu viel gegessen und nun geht eine Stunde lang kaum etwas. Doch wie viele Eingriffe in die Freiheit der Mitarbeitenden sind legitim? Und warum beim Alkohol? Vielleicht doch, weil hier mehr moralischer Unterton mitschwingt als beim «Workohol»?
Also, liebe Vorgesetzte: Sie haben unterschiedliche Mitarbeitende mit unterschiedlichen Aufgaben und unterschiedlichen Lebensstilen – zum Glück. Trauen Sie Ihren Mitarbeitenden zu, mit den Optionen des Lebens umgehen zu können! Wenn Sie Zweifel haben, reden Sie mit ihnen offen darüber und finden Sie gemeinsam eine passende Lösung. Sparen Sie sich und Ihrer Organisation ein weiteres Papier, das genehmigt, abgelegt, allen Mitarbeitenden kommuniziert und regelmässig aktualisiert werden muss. Ich wäre an dieser Stelle fertig mit meinem Beitrag, wenn mir nicht Folgendes durch den Kopf ginge: Erträgt man Überadministration und Bürokratie vielleicht besser, wenn man sich am Morgen einen Rest von Schlaftrunkenheit bewahrt und mit einem Glas Wein in den Nachmittag startet?
Oder wäre ein Alkoholverbot über Mittag die paradoxe Steigerung des organisationalen Regelungswahns, weil dies dazu führen könnte, dass die Mitarbeitenden den Output von Budgetierungsprozessen, Rapportsystemen und Formularroutinen einmal nüchtern betrachten würden?