HR Today Nr. 10/2017: Debatte

Hierarchien beibehalten?

Es brauche Hierarchien, damit Unternehmen funktionieren, proklamiert Unternehmensberater Frédéric Jordan. Für High Performance Leadership Coach Josefine Fett sind Hierarchien dagegen Verwaltungsmechanismen, welche die Talente und Fähigkeiten von Arbeitnehmenden verkümmern lassen.

Frédéric Jordan

Hierarchien sind vereinfacht formuliert «Über- und Unterordnungsverhältnisse in Gruppen» mit flachen oder steilen Ausprägungen. Unabhängig davon, wie jemand zum Thema steht, ist eine wichtige Frage zu stellen: Sind Unternehmen ohne Hierarchien langfristig überlebensfähig?

Die Praxis zeigt, dass die Antwort mehrheitlich nein lautet. Die Abschaffung von Hierarchien bewirkt auf Dauer keinen Nutzen, sondern schadet der Firma nachhaltig. Sobald Verantwortlichkeiten fehlen und sich Entscheide endlos verzögern, steigt die Unzufriedenheit und die Fluktuation nimmt rasant zu. Ohne Hierarchien häufen sich auch interne Machtkämpfe. Die daraus resultierenden Streitigkeiten sind ein natürliches Phänomen, das sich auch im Tierreich beobachten lässt. Hierarchien reduzieren Machtkämpfe oder lassen diese gar nicht erst entstehen. Ausserdem kann die Mehrheit der Arbeitnehmenden mit hierarchiefreien Zonen nicht umgehen. Selbst mit flachen Abstufungen haben viele Menschen Probleme.

Hierarchielosigkeit hat zur Folge, dass sich die Belegschaft vom System distanziert und es verlässt. Über die Zeit kann ein Team mit perfekt zusammenpassenden Mitgliedern entstehen. Doch wenn sich der Kreislauf, ein Team entstehen zu lassen, ständig wiederholt, macht dies selbst Idealisten zu schaffen. Von den Kosten derartiger Versuche will ich gar nicht sprechen. Hierarchielose Strukturen sind überwiegend bei Nonprofit-Organisationen zu finden. In Kleinfirmen entfalten flache Hierarchien ihre Wirkung rascher, da sich jeder kennt und weiss, was zu tun ist. Sobald das Unternehmen grösser wird, bilden sich automatisch Hierarchien.

Bereits vor 20 Jahren gab es Studien, die zeigten, dass das Bedürfnis nach Führung und Hierarchie mit der Gruppengrösse ansteigt. Die Nennung von Firmen wie Semco oder Gore-Tex, die ohne die üblichen Hierarchien auskommen, ist unnötig. Denn sie stellen einzigartige Ausnahmen dar. Als Vergleich: Die Svenska Banken leben das Ideal des «Beyond Budgeting»-Konzepts. Wie viele Unternehmen gibt es auf der Welt, die es ihnen gleichtun? Ein paar wenige. Zu glauben, dass Ausnahmen weltweit übertragbar sind, ist schlicht falsch. In der Wirtschaft gibt es regelmässig Krisen, welche Entscheide erfordern, die oft hart und einschneidend sind. Diese Entscheide werden in der Regel von den Kapitalhaltern der Firma oder deren operativen Vertretern gefällt. Dazu sind Hierarchien notwendig. Eine strikte Führung oder umfassende Hierarchie ist jedoch unnötig, solange ein Team erfolgreich agiert.

Kompetente und eigenverantwortliche Mitarbeitende mit dem Wunsch nach Unabhängigkeit sowie einem gesunden Mass an Identifizierung mit dem Unternehmen benötigen normalerweise keine steilen Hierarchien. Dies entspricht weitgehend den heutigen modernen Unternehmensstrukturen.

 

Josefine Fett

Hierarchien stehen den tiefen Sehnsüchten des Menschen nach echter Verbindung, gemeinsamem Wachstum und Potenzialentwicklung im Wege. Was wäre, wenn das Zusammenleben und gemeinsame Arbeiten auf Augenhöhe stattfände? Verbunden durch eine Aufgabe, bei der jeder seine Talente und Fähigkeiten einsetzen kann?

Kinder, die ins Spiel versunken sind, machen es so. Und im Sport würde ein guter Torschütze nie als Mittelstürmer eingesetzt werden. Das wäre kontraproduktiv. Die gemeinsame Sache – oder nennen wir es das «Spiel» – steht im Vordergrund.

Hierarchien, die mit Beginn der Industrialisierung Anfang des 18. Jahrhunderts Menschen zu Objekten oder sogar zu «Maschinen» machten, sind nicht nur kontraproduktiv, sondern in allen Bereichen zerstörerisch.

Charlie Chaplin hat es uns in seinem Stummfilmklassiker «Modern Times» eindringlich vor Augen geführt. Entmenschlichung und Ausbeutung führen zu einem Irrsinn, der in Krankheit und Kriminalität endet. Ein schockierender Spiegel!

Durch alle Epochen hinweg haben sich Menschen dagegen gewehrt, hierarchisch verwaltet zu werden. Das Verlangen nach Menschenwürde, der Wunsch nach tiefer menschlicher Verbindung, so zusammenzuleben und zu arbeiten, dass man seine Potenziale und Fähigkeiten entwickeln kann, sind Bedürfnisse, die immer wichtiger werden.

Mit dem Übergang des Hightech-Zeitalters in den aktuellen Zeitgeist des 21. Jahrhunderts stehen wir an der Schwelle der Ära des «Ich im Wir». Was genau heisst das? Das klingt reichlich theoretisch, werden Sie nun einwenden und fragend die Augenbrauen hochziehen. Dann schauen Sie sich doch mal um! Noch nie war die Zahl der Arbeitslosen so hoch. Die Angst, von heute auf morgen auf der Strasse zu stehen, ist gerade für die Älteren unter uns ein ständiger Begleiter. Als Einzelkämpfer, abgetrennt und isoliert von unserem Urbedürfnis nach Nähe und Verbindung, fristen wir ein isoliertes Dasein.

Gemäss Umfragen machen etwa 60 Prozent aller Bewohner der Industrienationen Dienst nach Vorschrift. In den USA liegt die Quote sogar um ein Vielfaches höher. Dass wir herausfordernden Zeiten entgegenblicken, ist mittlerweile allen klar geworden: Dank den Errungenschaften von Industrie und Wirtschaft sowie Bildung, die für alle zugänglich geworden ist, sind wir nicht länger gewillt, uns durch hierarchisch geformte Strukturen unser Leben und unsere Arbeit vorschreiben zu lassen.

Hierarchie ade! Die Rufe nach echter Gemeinschaft und Begegnungen auf Augenhöhe erwachen. Dafür steht dieses Jahrtausend und dafür stehen Europa und seine Menschen. Ich sehe dieser herausfordernden Zeit mit Spannung entgegen und freue mich auf die Entwicklung von neuen humanen Lebens-, Arbeits- und Unternehmensformen.

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Frédéric Jordan Ist Inhaber von Jordan Consulting und berät Firmen hauptsächlich in den Bereichen Kaizen, Lean Management sowie Veränderungsmanagement.

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Josefine Fett ist Gründerin der Dreamfinder Academy in New York und High Performance Leadership Coach.

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