HR Today Nr. 12/2017: Nachwuchs

Berufslehre – was nun?

Viele Unternehmen bekunden Mühe, ihre Lehrstellen zu besetzen, denn immer häufiger entscheiden sich Jugendliche für eine Matur. Das hat gravierende Folgen für die Wirtschaft, der zunehmend Fachkräfte abhanden kommen. Wir haben mit Bildungsverantwortlichen bei zwei Ostschweizer KMU gesprochen, die diesem Trend mit ihren Lernendenausbildungen entgegensteuern.

Von 95 000 ausgeschriebenen Lehrstellen wurde im Jahr 2013 jede elfte nicht besetzt. Das Angebot überschritt die Nachfrage damit zum wiederholten Mal und mit den geburtenschwachen Jahrgängen wird sich dieser Trend fortsetzen. Doch wie zeichnet sich dies in der Praxis ab?

Beim Uznacher Werkzeughersteller Otto Hofstetter AG konnten trotz der rückgängigen Schülerzahl bisher alle Lehrstellen besetzt werden. «Einzig bei den Polymechanikern hat die Anzahl der Bewerbungen abgenommen», sagt der Berufsbildner und Lehrwerkstattleiter Marcel Thum.  Das habe jedoch nicht nur demografische Ursachen: Denn in der Region kämpfen mehrere Unternehmen um dieselben Lernenden. Die Lehrstellensuchenden können aus über 230 Berufsbildern auswählen. Auch politische Weichenstellungen liessen die Zahl der Lernenden zusätzlich einbrechen: «Die Kantonsschulen kämpfen um Schülerinnen und Schüler. Sinkt deren Zahl, erhalten die Schulen weniger Geld», hält Marcel Thum fest.

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«Bei der Berufswahl hat mich ein Berufsbildner unterstützt, der uns in der Schule Vorschläge unterbreitet hat.»

Steffan Goffi, Lernender Polymechaniker, Otto Hofstetter AG

«Die Oberstufenlehrer haben bei der Berufswahl eine wichtige Funktion, jedoch vom technologischen Wandel der vergangenen Jahre nicht viel mitbekommen und ein veraltetes Bild im Kopf.»

Marcel Thum, Berufsbildner und Lehrwerkstattleiter, Otto Hofstetter AG, Uznach (SG).

Otto Hofstetter AG

Die 1955 gegründete Uznacher Firma Otto Hofstetter AG hat sich auf die Herstellung von Spritzgiesswerkzeuge für die Produktion von Pet-Flaschen-Rohlingen und Verpackungen spezialisiert. Mit Niederlassungen in Luxemburg, Indien und China beschäftigt das Ostschweizer KMU rund 220 Mitarbeitende. Dazu zählen 23 Auszubildende, die am Schweizer Hauptsitz in den Berufsrichtungen Polymechaniker, Konstrukteur und Kaufmännische Angestellte ausgebildet werden. In der Lehrwerkstatt «Gate to the Future» erledigen die Lernenden wie ihre ausgelernten Kollegen Kundenaufträge und sind damit produktive Werkstattmitglieder. Für dieses Berufsbildungskonzept wurde die Otto Hofstetter AG kürzlich mit dem Hans-Huber-Preis ausgezeichnet.

Problem der Akademisierung

Für Mathias Baumgartner, Berufsbildner und Leiter der Lehrwerkstatt bei der Jansen AG in Oberriet stellt nebst der sinkenden Schülerzahl und dem Wettbewerb unter den Unternehmen die Akademisierung ein Problem bei der Lernendenrekrutierung dar: «Viele Schüler mit mittleren und guten Noten gehen in die Kantonsschule.» Speziell aus dem Ausland zugezogene Familien bevorzugten den akademischen Weg, weil der duale Bildungsweg in Ländern wie Deutschland oder Spanien nicht existiere oder ein schlechtes Image habe. «Um dem entgegenzuwirken, müssen Unternehmen die Chancen und Vorzüge der Bildungs- und Karrierewege der dualen Bildung stärker aufzeigen», so Baumgartner. Marcel Thum von der Otto Hofstetter AG ergänzt: «Die Oberstufenlehrer sollten verstärkt einbezogen werden, denn sie haben bei der Berufswahl eine wichtige Funktion, jedoch vom technologischen Wandel der vergangenen Jahre nicht viel mitbekommen und ein veraltetes Bild im Kopf.» Etwa dass Polymechaniker in dunklen und dreckigen Werkstätten schuften. Den Lehrern sei vielfach nicht bewusst, dass Polymechaniker kaum mehr an der Werkbank stünden, sondern mit CAD-Programmen Werkzeuge zeichnen, die von einer CNC-Maschine vollautomatisch angefertigt werden.

Um das Image der Berufslehre zu fördern und Missverständnisse aufzuklären, beschreiten die Unternehmen unterschiedliche Wege. Als Mitbegründerin des Vereins «Chance Industrie Rheintal»*, einem Verbund, dem inzwischen 17 Unternehmen angehören, setzt sich die Firma Jansen dafür ein, die Eltern beim Berufsfindungsprozess einzubinden. Zum Beispiel mit Berufsinformationsabenden, an denen Eltern und Kinder bei Jansen verschiedene Berufe kennenlernen können, der am Informationstag der Chance Industrie Rheintal, wo Schulklassen während einer halbtägigen Veranstaltung einen Postenlauf in der Werkhalle absolvieren und mit Lernenden ein Übungsprojekt bearbeiten. Sind die Schüler während der Woche unter sich, werden die Eltern am darauffolgenden Samstag eingeladen, die Projekte zu begutachten und sich mit den Bildungsbeauftragten auszutauschen. Ein voller Erfolg: «Viele Jugendliche sehe ich beim Schnuppertag wieder», sagt Baumgartner.

Ideenreich um Lehrlinge werben

Daneben stehen viele weitere Schulprojekte auf dem Programm. Wenn sich die Jugendlichen etwa mit dem Thema der Längen- und Breitengraden auseinandersetzen, bekommen sie bei Jansen auf einer CNC-Maschine vorgeführt, wie ein Koordinatensystem in der Praxis funktioniert. Zudem besuchen die Lernenden von Jansen  die in unmittelbarer Nähe gelegenen Oberschulen, um den Schülern zu erklären, wie man sich für eine Schnupperlehre bewirbt, wie ein Rekrutierungsprozess abläuft und worauf bei einer Bewerbung zu achten ist.

In einem MINT-Projekt können Oberstufenschüler zusammen mit den Jansen-Lernenden und Berufsbildnern eine Kugelbahn planen, wobei sie praktische Unterstützung bei der Umsetzung erhalten. Und nicht zuletzt tritt das Unternehmen bei Events des Gewerbeverbands in Erscheinung und nimmt am Zukunftstag teil, bei dem Mitarbeitende ihr Kind für einen halben Tag mit ins Geschäft mitbringen.

Nicht weniger ideenreich wirbt die Firma Otto Hofstetter um potenzielle Lernende. So können Oberstufenschüler an einem Berufsinformationstag der regionalen Berufsberatungsstelle Uznach teilnehmen, bei dem Schülerinnen und Schüler einen halben Tag beim Werkzeughersteller verbringen und in der Lehrwerkstatt verschiedene Posten absolvieren. Sie drehen, bohren und fräsen und nehmen als Andenken einen selbst angefertigten Einkaufswagen-Chip mit.

Mit der Hochschule Rapperswil ist das KMU eine Kooperation eingegangen, um Schülern die Möglichkeit zu geben, von der Idee über das Design bis hin zur Produktion selbst eine Sonnenbrille oder einen Trinkbecher zu gestalten. Dabei werden die Schüler selbst zu Unternehmern und übernehmen während eines Tages unter der Anleitung eines Professors verschiedene Funktionen vom Buchhalter bis zum Marketeer. Werbung auf Lehrstellenplattformen wie Yousty und die Teilnahme an Berufsbildungsmessen wie der regionalen Berufsmesse «Linthgebiet» runden das Engagement ab.

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«Nach dem Lehrabschluss stehen mir weiterführende Schulen offen. Zum Beispiel ein Ingenieurstudium.»

Ramon Betschart, Lernender Polymechaniker, Jansen AG

«Unternehmen müssen die Chancen und Vorzüge der Bildungs- und Karrierewege der dualen Bildung stärker aufzeigen.»

Mathias Baumgartner, Berufsbildner und Leiter Lehrwerkstatt, Jansen AG, Oberriet (SG)

Jansen AG

1923 als Handwerksbetrieb im St. Gallischen Oberriet gegründet, entwickelt, fertigt und vertreibt das Unternehmen heute Präzisionsstahlrohre, Stahlsysteme und Kunststoffprodukte für die Bau- und Industriebranche. Mit Niederlassungen in Deutschland, der Türkei und China zählt das Unternehmen knapp 1000 Mitarbeitende und beschäftigt rund 50 Lernende der Fachrichtungen Polymechaniker, Automatiker, Konstrukteur, Informatiker, Kaufmann, Metallbauer, Logistiker, Kunstofftechnologe und Produktionsmechaniker. Die Firma verfügt über eine Lehrwerkstatt mit zwei vollamtlichen Berufsbildnern. Während ihrer Lehrzeit durchlaufen die Lernenden verschiedene Abteilungen und werden bereichs- und fachübergreifend ausgebildet. Studenten der Interstaatlichen Hochschule für Technik in Buchs bietet Jansen einjährige Praktika an, während ETH-Studierende ein sechswöchiges Praktikum absolvieren können.

Schwächere berücksichtigen

Trotz der – nicht zuletzt aufgrund der Globalisierung – knallhart gestiegenen Anforderungen,   engagieren sich beide Unternehmen in der Förderung von schwächeren Schülern: «Wir glauben an das Potenzial junger Menschen. Auch jener mit schwächeren Leistungen», sagt Mathias Baumgartner. «Wir wollen dem Umstand, dass die schulischen Leistungen der Sekundar- und Realschulabgänger gesunken ist, Rechnung tragen.» Dass das keine Einzelmeinung ist, bestätigt die Aussage von Marcel Thum: «Die Auswertung unserer Schnupperlehr-Aufgaben der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die Mathe- und Deutschkenntnisse schlechter geworden sind.»

Leistungsschwächere Schüler zu fördern, bringt einen höheren Aufwand mit sich. Einer, der sich dennoch lohnt: «Vor kurzem hatten wir einen schulisch schwachen Automatikmonteur-Lernenden. Nach seiner Lehrzeit hat er eine Zweitlehre als Automatiker gemacht und mit der Note 5.1 abgeschlossen», sagt Mathias Baumgartner.  Marcel Thum geht bei Otto Hofstetter in der Lehrstellenbesetzung noch einen Schritt weiter und vergibt jede vierte Polymechaniker-Stelle an einen Realschüler. Auch seine Erfahrungen lassen aufhorchen: «Realschüler sind oft ehrgeiziger als Sekundarschüler.»

Ob schulisch stark oder schwach: Für Marcel Thum und Mathias Baumgartner ist nicht die Schulnote entscheidend, ob sich ein Schüler als guter Lernender erweist. «Es gibt junge Menschen, die ein ausgesprochen gutes technisches Verständnis haben und dies mit ihren Händen umsetzen können, sich hingegen mit schulischen, theoretischen Themen eher schwertun und umgekehrt», so Baumgartner. «Es ist unsere Aufgabe, einen Ausgleich zu schaffen, zu schulen und die Lernenden zu fördern, denn die Lehrabschlussnote setzt sich zu 50 Prozent aus schulischen und zu 50 Prozent aus praktischer Leis­tung zusammen.»

Damit es überhaupt zu einem Lehrvertragsabschluss kommt, müssen Aspiranten bei beiden Firmen jedoch eine dreitägige Schnupperlehre bestehen, wo sie auf ihr handwerkliches Geschick sowie ihr technisches Verständnis und Vorstellungsvermögen überprüft werden.

Alles andere als durchschnittlich

Die Lernenden bei der Jansen AG und der Otto Hofstetter AG sind alles andere als durchschnittlich und heimsen regelmässig Preise ein. So werden die Jansen-Lernenden jedes Jahr mit einem Lehrlingspreis der Hans Huber Stiftung** ausgezeichnet, während der Otto-Hofstetter-Berufsnachwuchs bei den Schweizer Meisterschaften gleich mehrmals hintereinander den dritten Platz belegte. Erfolgsgeschichten, die für sich sprechen.

Berufsnachswuchs-Förderung aus der Ostschweiz

Chance Industrie Rheintal*

Der Verein «Chance Industrie Rheintal» will den Berufsnachwuchs fördern und die Industrie-Berufslehren als gleichwertige Alternativen zu Lehren in den Dienstleistungsbetrieben oder den Mittelschulen etablieren. Jugendliche sollen im Berufswahlprozess erfahren, welche Chancen ihnen eine Lehre in der Industrie eröffnet. Aktuell umfasst der Verbund 17 Unternehmen mit insgesamt 6400 Mitarbeitenden sowie 435 Lernenden. Die Firma Jansen war mit Albert Koller einer der Mit-Initianten und ist mit Mathias Dietsche in dessen Vorstand vertreten.

www.chanceindustrie.ch

Hans Huber Stiftung**

Die Hans Huber Stiftung wurde vom gleichnamigen Rheintaler Unternehmer und langjährigen Firmen-Chef der SFS Gruppe – einem Weltmarktführer für mechanische Befestigungssysteme und Präzisionsformteile – gegründet und hat den Zweck, die duale Ausbildung zu fördern und Jugendliche sowie deren Umfeld für die Stärken der Berufslehre und den damit verbundenen Entwicklungschancen zu sensibilisieren. Um dieses Ziel zu erreichen, verleiht die Hans Huber Stiftung Preise an Personen und Unternehmen, die sich besondere Verdienste um das duale Bildungssystem erworben haben und organisiert Workshops für Jugendliche im Berufswahlprozess.

www.hanshuberstiftung.org

 

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Chefredaktorin, HR Today. cp@hrtoday.ch

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