«Karriere» als Grund?

Der weltweite Trend geht aktuell dahin, dass Organisationen zu flacheren Strukturen übergehen. Warum Arbeitnehmende trotzdem «klassische» hierarchische Organisationen mögen und weshalb es auch eine Mischform sein darf.

Die Verschlankung einer Organisation hat sowohl für Unternehmen als auch für Mitarbeitende zahlreiche Vorteile: eine bessere Kommunikation, ein schnellerer Informationsfluss, eine effizientere Entscheidungsfindung, Empowerment, mehr Innovation und sogar eine höhere Produktivität – natürlich auch einige Nachteile, wenn der Wandel nicht richtig oder nur halbherzig umgesetzt wird.

Praktiker aus den Bereichen Personalwesen, Organisationsentwicklung, Unternehmensberatung, aber auch wissenschaftliche Studien gehen davon aus, dass Organisationen mit flacheren Strukturen und mehr horizontalen Bewegungen – auch wenn einige dies schrittweise tun oder nur bestimmte flache Eigenschaften übernehmen – leistungsfähiger sind als ihre «traditionellen» Gegenstücke. Warum also halten immer noch so viele Unternehmen an hierarchischen Strukturen fest? Sind Arbeitnehmende lieber in vertikalen Organisationen tätig, weil sie – zumindest gefühlt – von strukturierten Aufstiegsmöglichkeiten profitieren oder Rollen und Funktionen klarer und damit sicherer sind?

Das Spektrum der Hierarchien

Es gilt zunächst klarzustellen, dass es einige Grauzonen zwischen den Organisationsstrukturen gibt. Jacob Morgan berichtet in einem Forbes-Artikel über fünf verschiedene Arten: Zwischen der starren traditionellen Hierarchie und der Holakratie ohne Chefs, gibt es Organisationen, die mehr oder weniger flach sein können, aber vertikale Merkmale beibehalten.

Die Verflachung einer Organisation kann beispielsweise nur die Öffnung von mehr Kommunikations- und Kooperationslinien zwischen verschiedenen Mitarbeitenden und Abteilungen sein – damit würde gleichzeitig die Mobilität zwischen Teams und Abteilungen gefördert. Die Arbeit in verschiedenen Teams und Rollen hilft dabei, vielfältigere Fähigkeiten zu entwickeln und sich stärker am Erfolg des Unternehmens zu beteiligen.

Die Herausforderung flacherer Strukturen

Bei flacheren Hierarchien wird von den Arbeitnehmenden erwartet, dass sie sich seitwärts bewegen und in verschiedenen Funktionen arbeiten, anstatt die Unternehmensleiter bis in die Führungsetagen zu erklimmen. Wenn Unternehmen Manager und Vorgesetzte abschaffen, besteht natürlich die Gefahr, dass sie den Arbeitnehmenden die Chance vorenthalten, sich innerhalb des Unternehmens weiterzuentwickeln. Horizontale Versetzungen helfen den Mitarbeitenden zwar neue Fähigkeiten zu erlernen, sind aber nicht unbedingt mit mehr Verantwortung oder einer höheren Vergütung verbunden.

Vertikale Organisationen bieten indes einen klaren Aufstiegsweg in Bezug auf Autonomie und Verantwortung. Aber reicht das aus? Ein plötzlicher Wechsel zu einer flachen Struktur nach einer «klassischen» Karriere, kann verunsichern, wenn man beispielsweise mit neuen Befugnissen konfrontiert wird, für die man vielleicht noch keine Kompetenz oder Erfahrung hat.

Strategien für die Einführung einer horizontalen Struktur im Hinblick auf Karriere

Die beschriebenen Faktoren führen offensichtlich dazu, dass Mitarbeitende es sich zweimal überlegen, ob sie sich einer horizontalen Organisation anschliessen. Aber auch die Organisationen selbst ziehen es vor, weitgehend hierarchisch zu bleiben. Um trotzdem von den Vorteilen einer flacheren, horizontalen Struktur zu profitieren, müssen Unternehmen neue Wege gehen. Folgende Lösungsansätze haben sich bereits bewährt:

  1. Organisationen müssen nicht von einem Tag auf den anderen zu einer Holakratie (oder ähnlichem) übergehen oder darauf bestehen, dass alle Strukturen sofort und vollständig flacher werden. Sie können stattdessen die Fülle ihrer qualitativen und quantitativen Daten nutzen, um zu entscheiden, in welchen Bereichen sie zukünftig eher ein horizontales oder eher ein vertikales Vorgehen bevorzugen. In vielen Fällen ist sicher ein hybrides System am sinnvollsten.

    Punkto Mitarbeiterentwicklung und -laufbahn kann eine Abflachung zu weniger klaren Karrierewegen führen, Organisationen können trotzdem horizontal vorgehen, nämlich indem sie die Hierarchien abflachen, aber dennoch Stellenbezeichnungen verwenden, die das Dienstalter der Mitarbeitenden widerspiegeln: Älteren Mitarbeitenden ist vielleicht niemand direkt unterstellt, doch mit der richtigen Unternehmenskultur können diese erfahrenen Teammitglieder als Mentoren und Coaches für weniger erfahrene Kolleg*innen fungieren.

    Übrigens ist der Übergang zu horizontalen Strukturen schwieriger, je grösser und komplexer die Organisation ist. In diesem Fall könnte es sinnvoll sein, bestimmte Abteilungen oder Geschäftsbereiche herauszufiltern, die am meisten von einer Änderung profitieren und am wenigsten darunter leiden würden.
     
  2. Eine andere Strategie ist, ein hierarchisches System nur dann zu verwenden, wenn es um Personalangelegenheiten geht: Stellenbezeichnungen dienen lediglich zur Abgrenzung von Vergütung und Dienstalter, sind im Tagesgeschäft jedoch irrelevant. Die Teams arbeiten rollenbasiert und die Interaktion zwischen den Mitarbeitenden bestimmt, wer situativ zum Mentor und zur Führungskraft wird. Auf diese Weise gehen sowohl Laufbahn wie funktionale Gehaltsstufe der vertikalen Strukturen nicht völlig verloren.
     
  3. Eine weitere Möglichkeit – vielleicht die radikalste und wahrhaft holakratische – besteht darin, die Mitarbeitenden selbst zu ermächtigen, ihre Rollen und Zuständigkeiten abzugrenzen. Ein gutes Praxisbeispiel hierfür ist der kalifornische Tomatenverarbeiter Morning Star:, beschrieben im Buch von Gary Hamel und Michele Zanini «Humanocracy: Creating Organizations as Amazing as the People Inside Them» (Organisationen kreieren – so erstaunlich wie die Menschen in ihnen): Die Teammitglieder von Morning Star schliessen untereinander Verträge ab, so genannte CLOUs (Commitment Letters of Understanding: Verpflichtungen an Kolleg*innen, um Klarheit zu erzeugen), in denen sie ihre Rollen innerhalb des Unternehmens festlegen. Diese Verpflichtungen gehen sie gegenseitig ein und auf ihnen basiert auch die Vergütung.

Fazit

Der Absprung von einer traditionellen Struktur ist sicher schwierig und die Mitarbeitenden vermissen möglicherweise die Vorteile klar definierter Rollen und Aufstiegsmöglichkeiten – vor allem dann, wenn es um die «Beschäftigungsfähigkeit» ausserhalb des eigenen Unternehmens geht. Flache Hierarchien bieten indes vielversprechende Möglichkeiten, Mitarbeitende weiterzubilden und zu befähigen. Doch letztendlich gibt es nicht das eine richtige System oder die eine richtige Lösung. Es liegt an jeder Organisation, die beste Mischung aus verschiedenen Strukturen für sich zu finden.

Kommentieren 0 Kommentare HR Cosmos

Timm Urschinger arbeitete einige Jahre bei einem Pharmakonzern in der Schweiz und im Consulting, bevor er beschloss 2016, sein eigenes Unternehmen – LIVEsciences – zu gründen. Er ist nicht nur Mitgründer, sondern CEO des Beratungsunternehmens mit Sitz im aargauischen Kaiseraugst.

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