Charlotte Friedli ist Professorin an der FHNW Hochschule für Soziale Arbeit und leitet neben dem CAS «Angewandte Philosophie im beruflichen Kontext» verschiedene Weiterbildungsangebote im Bereich «soft skills». Friedli studierte Sozialarbeit und Sozialpädagogik und absolvierte eine Ausbildung in Supervision und Organisationsentwicklung. Seit 12 Jahren hat sie eine eigene Praxis für Beratung, Supervision, Weiterbildung und Projektmanagement. Aktuell gilt ihr Interesse dem Thema Humor im beruflichen Alltag, wozu sie gerade an einem Buch arbeitet. Ebenfalls bietet Friedli Fachseminare zum Humorcoaching an.
«Angewandte Philosophie fragt nach der Wirkung»
In Unternehmen werde viel «verpsychologisiert», findet Charlotte Friedli, Professorin an der FHNW. Sie plädiert für eine philosophische Herangehensweise an Probleme und eine Abkehr von den psychologischen Deutungsmustern.
Charlotte Friedli ist Professorin für Soziale Arbeit an der FHNW. (Foto: Markus Forte)
Frau Friedli, für Sie ist die angewandte Philosophie ein Gegenentwurf zur Psychologie. Wie meinen Sie das?
Charlotte Friedli: Seit vielen Jahren haben wir die psychologischen Modelle als Erklärungsmuster auch für berufliche Zusammenhänge herangezogen. Jetzt haben wir gemerkt, dass das Psychologisieren von Arbeitsbeziehungen auch verhindernd wirkt. Wenn in Teams und in Führungszusammenhängen die Zusammenarbeit nach Befindlichkeiten anstatt nach Kompetenzen gemanagt wird, leiden auf Dauer Leistung und Qualität der Arbeit. Wir merken also, dass in der Arbeitswelt die Psychologie an ihre Grenzen gestossen ist.
Woran liegt das?
Psychologie fragt introspektiv, nach den Ursachen und macht Ursache-Wirkungs-Zuschreibungen. So werden viele Probleme und Traumata herbeigeredet. Zudem haben psychologische Ansätze die Tendenz, Probleme, aber auch Lösungen zu individualisieren. Wenn Unternehmen mit psychologischen Konzepten arbeiten, drehen sie sich mit der Zeit im Kreis.
Haben Sie dafür ein Beispiel?
Eine Mitarbeiterin kommt häufig zu spät. Im Gespräch fragt der Chef nach den Gründen und erfährt, dass ihr Kind krank ist. In der Regel kommen dann unsere gewohnten empathischen Konzepte der Psychologie zum Einsatz. Wir haben Verständnis, fragen nach dem Krankheitsstand des Kindes und wollen bei der Gesundung Unterstützung bieten. Dabei wird stark auf das Problem fokussiert – das kranke Kind. Zudem findet – wie hier sehr deutlich wird – eine Individualisierung statt.
Was wäre besser?
Weniger Zeit damit zu verbringen, das Warum des jeweiligen Verhaltens zu durchleuchten und zu verstehen. Die Philosophie nimmt sich der Gegebenheiten an. Das bedeutet: Die Mitarbeiterin kommt zu spät zur Arbeit und bricht damit die Regeln der Zusammenarbeit. Da stellt sich die Frage, was sie mit diesem Regelbruch erreichen will. Die Antwort wird in diesem Fall sein, dass sie Zeit für ihr krankes Kind braucht. Nun kann überlegt werden, wie dieses Ziel mit dem Arbeitsauftrag und den weiteren Mitarbeitenden in Zusammenhang gebracht werden kann. Am besten, es wird eine Lösung gefunden, die sowohl für die eine Mitarbeiterin als auch für die anderen Mitarbeitenden als auch für das System passend ist. Vielleicht kann die Mitarbeiterin einmal eine Stunde länger bleiben, vielleicht tauscht sie die Zeiten mit anderen. Hier integrieren wir die individuellen Fragestellungen in jene des gesamten Systems und finden Lösungen, die in vergleichbaren Situationen wiederholt angewandt werden können.
Ist es so einfach? Ein Mitarbeiter mit einem kranken Kind kann vielleicht seine Arbeit gar nicht im normalen Umfang leisten ...
Das ist Ihre psychologische Interpretation. Jeder Mensch hat im Berufsleben eine gewisse Professionalität, die es erlaubt, private Probleme auszublenden. Natürlich kommt es dennoch regelmässig zu privaten Problemen, die von Mitarbeitenden mal mehr und mal weniger zum Arbeitsausfall genutzt werden. Von daher brauchen wir Lösungen, in denen die bezahlte Arbeit eine den Vereinbarungen gemässe Verteilung erfährt. Das heisst, Betriebe, in denen Eltern beschäftigt sind, fangen an, über andere Arbeitszeitmodelle nachzudenken, anstatt den sowieso stattfindenden Arbeitsausfall zu individualisieren.
Ist Empathie also kein Thema mehr?
Freundlichkeit und Wertschätzung sich und andern gegenüber ist das Thema. Das ist die Basis und in den philosophischen Methoden ganz zentral. Aber man kann auch freundlich und wertschätzend sein, ohne viel Bedauern und Verständnis zu demonstrieren. Denn das Prinzip der Selbstsorge nach Sokrates, wie wir ihn heute lesen, beinhaltet es, freundlich und wertschätzend zu sich, zu den anderen und zur Sache zu sein. Dann finden wir passende Lösungen.
Was genau ist das Philosophische an diesem Beispiel?
Es ist von einem philosophischen Denken beeinflusst. Angewandte Philosophie fragt nach der Wirkung von etwas und setzt Dinge in den Zusammenhang vom Zusammenleben und vom System. Es werden Schemata in den Köpfen aufgelöst und festgefahrene Denkmuster durchbrochen. Für unser Beispiel heisst das, dass individuelle Arbeitsausfälle systematisch zu durchdenken und zu lösen sind. Ich war bei der Konzeption unseres Studienganges «Angewandte Philosophie im beruflichen Kontext» auf der Suche nach anderen Gesprächsmethoden, als wir sie üblicherweise haben. Ich wollte zudem erreichen, dass wir Begrifflichkeiten besser anschauen. Damit lösen wir einseitige Betrachtungsweisen von Problemen auf und werfen einen erweiterten Blick auf die Gesamtverhältnisse.
Wie meinen Sie das?
Eine der wichtigsten Kompetenzen in der Philosophie sind die Skepsis, der Perspektivenwechsel, die Dinge auf den Kopf zu stellen und vielleicht nicht automatisch etwas als schlecht zu bewerten, nur weil man es so gewohnt ist. Ein Beispiel: Sie machen sich Gedanken zum Thema Manipulation. Es macht aber Sinn zu fragen, was das Wort überhaupt bedeutet, und erst dann die Wertigkeit in Frage zu stellen. Kann man Manipulation auch positiv beurteilen? Und in welchem Kontext hat dieser Begriff welche Bedeutung?
Was bringt das?
Eine wertfreie Herangehensweise an Themen. Wir müssen lernen, alles zu denken, auch das nicht Denkbare. Wer immer gleich über falsch oder richtig urteilt, kommt nicht voran. Es ist wesentlich, zuerst zu denken und die Dinge ins Verhältnis zu sich, zu den anderen und zur Situation zu setzen und dann zu schauen, was davon machbar ist, wo es Regeländerungen oder Anpassungen braucht.
Was bedeutet das für Führungskräfte?
Sie führen dialogisch. Das heisst, es werden nicht mehr einfach Standpunkte abgefragt, sondern Ideen. Vielfach wird unspezifisch gefragt: «Was meinst du zu dem und dem?» Ich will mit der angewandten Philosophie Instrumente und Methoden zur Verfügung stellen, damit die Menschen ihr Repertoire erweitern und die Potenziale gezielt für die Sache genutzt werden können.
Was sind das konkret für Instrumente?
Einen Dialog führen zum Beispiel. Hier geht es darum, gemeinsam zielgerichtet Lösungen zu entwerfen, die dann die gewollten Wirkungen erzielen. Hier bieten wir verschiedene methodische Zugänge: den eben erwähnten Dialog, das strukturierte Gespräch oder auch den Diskurs. Nehmen Sie beispielsweise ein Projektteam, das in einem so genannten Denkraum zusammenkommt. Das heisst, dass das Team dort erst einmal gemeinsam denkt, ohne überhaupt zu bewerten. Das bedingt, dass sich niemand mit der besten Idee profilieren will, sondern alle gleichermassen beitragen und sich gegenseitig befruchten.
Was brauche ich, um philosophisch zu denken und zu handeln?
Es gibt vier philosophische Kompetenzen: Humor, Mut, Staunen und Skepsis. Als Kinder lieben wir sie alle, aber in der Regel werden sie uns im Laufe unseres Lebens aberzogen. Wenn wir klein sind, staunen wir viel mehr, sind mutiger und lachen oder lächeln bis zu 400 Mal am Tag. Für Erwachsene ist oft schon das Zuhören bis zum Ende eines Satzes schwierig und wir beenden die Sätze von anderen. Aber in ein Gespräch reinzugehen und so zu tun, als ob man das zum ersten Mal hörte, und darüber zu staunen, das ist eine unglaubliche Kompetenz. Denn stellen Sie sich vor, Sie staunen über eine Idee des Kollegen, anstatt sie als Bedrohung zu empfinden, dagegen zu gehen und sie abzuwürgen.
Über etwas staunen, das ich nicht zum ersten Mal höre?
Ja klar. Hören ist nicht gleich Zuhören. Mit Staunen und gezieltem Nachfragen, wie etwas konkret gemeint ist, kann man eine ganz andere Dynamik erzielen, als wenn man auf der Basis psychologischer Erklärungszusammenhänge die Aussagen anderer bewertet und interpretiert. Damit sind die Missverständnisse vorprogrammiert.
Für wen hält die Philosophie etwas bereit?
Für alle. Die Ansätze der Philosophie kann man gut in jeder Form von Gesprächsführung nutzen. Sie ist die Grundlage von allem und alle anderen Geisteswissenschaften sind aus ihr heraus gewachsen.
Charlotte Friedli: «Philosophie hält für alle etwas bereit.» (Foto: Markus Forte)