«Auch Entschleunigung muss effizient sein»
Eine Handvoll Menschen unterzieht sich einem fünftägigen Anti-Stress-Seminar. Eine Woche ohne Handy, dafür mit literweise Fastentee. So beginnt das Freilichttheaterstück «Abefahre! – Stressfrei in 5 Tagen». Die Autorin und Regisseurin spricht im Interview darüber, warum sie der Burnout-Thematik ein Theaterstück gewidmet hat und was sie am wachsenden Industriezweig des Bäume-Umarmens und des Lach-Yogas kritisiert.
Livia Anne Richard, Autorin und Regisseurin des Freilichttheaterstücks «Abefahre! – Stressfrei in 5 Tagen». (Bild: zVg)
Frau Richard, was hat Sie motiviert, der Burnout-Thematik ein Theaterstück zu widmen?
Livia Anne Richard: Burnout ist in aller Munde. Litten unsere Vorfahren noch an mehrheitlich orthopädischen Schäden, hat sich das Burnout – obwohl es bis dato nicht als medizinische Diagnose anerkannt ist – zur Gesellschaftskrankheit Nummer eins gemausert. Immer mehr vor allem grössere Firmen haben verstanden, dass eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter, die oder der in ein Burnout rutscht, dem Unternehmen sehr teuer zu stehen kommt. Meine Recherche hat sich nicht auf das Lesen von Literatur und Sekundärliteratur beschränkt. Ich habe mit Glücksforschern, Ärzten, Psychologen, Coaches und Psychotherapeuten gesprochen.
Wo setzt Ihr Stück an?
Ich habe über die letzten Jahre beobachtet, wie ein komplett neuer Anti-Burnout-Industriezweig entstanden ist. Ein Industriezweig der Entschleunigung, des innere-Ressourcen-Wiederentdeckens, des richtigen Atmens und Meditierens, des Bäume-Umarmens und des Lachyogas. Dies alles in möglichst kurzer Zeit – auch Entschleunigung muss effizient sein. Das Paradoxe daran ist: Nicht alle, aber viele Firmen schicken ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht etwa in solche Seminare, damit diese umdenken, sich weniger Druck machen und kürzertreten, sondern damit sie nach dem Kurs – frisch gestärkt – noch strammer im Hamsterrad treten können.
«Wir arbeiten nicht primär, um möglichst müde zu werden»
Das Thema Burnout ist nicht gerade ein leichter Stoff für ein Freilichtspiel, wie bringen Sie die Thematik auf die Bühne?
Das Stück «Abefahre! – Stressfrei in 5 Tagen» kommt im leichten Mantel einer Komödie daher und setzt eine Handvoll Menschen, vom Lehrer über die alleinerziehende Mutter über die HR-Fachfrau bis zum Verkaufsleiter, eine Woche lang der freien Natur aus. Hier erfahren sie von Resilienz-Coach Ivo Sommer und der Psychologin Rosmarie Eichmann, die diese Aussenstation der Klinik Blau betreuen, dass sie alle ihre Handys abgeben müssen. Zudem wird gefastet, denn es soll ein äusserlicher und innerlicher Reinigungseffekt entstehen. Nicht alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind freiwillig hier. Ich habe jede der Übungen, die im Stück vorkommen, selber an Seminaren erprobt. Der Selbstversuch war sehr wichtig. Ich will mich ja über diese Kurse und Übungen nicht lustig machen, sondern sie so realitätsnah wie möglich darstellen.
Ohne allzu viel zu verraten: Was erwartet die Zuschauer im Verlaufe des Stücks?
Die Kursteilnehmerinnen und -Teilnehmer bemühen sich zu Beginn des Seminars alle, einen souveränen unverletzbaren Eindruck zu hinterlassen. Bei der Vorstellungsrunde fragt man sich, was diese scheinbaren Winner-Typen in einem Anti-Burnout-Programm verloren haben. Durch Gespräche und Übungen aber fallen nach und nach die Masken und hinter den Arbeitstieren kommen Menschen hervor, Menschen mit ihren Sorgen und Nöten, mit ihren Lebens-Rucksäcken und ja: Mit ihrem Stress. Am Schluss des Stücks reibt man sich verwundert die Augen. Kein einziger ist der, den er zu Beginn des Kurses zu sein vorgegeben hatte. Und das wiederum ist ein Faktor, der natürlich auch Stress bedeutet: Wer sich ständig verstellen muss, ist niemals in der Komfortzone, ist ständig bemüht, sich so zu geben und zu zeigen, wie die Gesellschaft, wie der Vorgesetzte, wie die Kollegen im Büro das erwarten.
Freilichttheater Gurten: ABEFAHRE! – Stressfrei in 5 Tagen
20. Juni – 30. August 2018, Gurten Park im Grünen, Wabern
Eine Handvoll Menschen unterzieht sich einem fünftägigen Anti-Stress-Seminar. Eine Woche ohne Handy, dafür mit literweise Fastentee. Doch nicht alle sind freiwillig in diesem Seminar.
Am Ende der Woche ist jedoch keiner mehr der, den er zu Beginn des Seminars vorgegeben hat zu sein. Und in einem Fall führt die Aufdeckung der wahren Identität eines Kursteilnehmers beinahe zu einem Nervenzusammenbruch des Anti-Stress-Coaches. Langsam beginnt man zu verstehen, dass es mit dem «Abefahre!» eben nur dann klappt, wenn man zuerst einmal das Ausrufezeichen hinter dem Wort entfernt. www.theatergurten.ch