Autisten sind Spezialisten, arbeiten fehlerfrei und viel schneller als üblich
Arbeit statt Rente. In Dänemark zeigt ein kleines Beratungsunternehmen, wie wenig es braucht, um autistische Fachkräfte zu integrieren – und dies auch noch zu marktüblichen Löhnen. Von diesem cleveren Geschäftsmodell profitieren letztlich alle. Selbst das HR-Management der Kunden hat positive Wirkungen auf das gesamte Unternehmen festgestellt.

Mitarbeiter von Specialisterne am bisherigen Firmensitz in der Kommune Hoje Taastrup. (Foto: zVg)
Die Geschäftsräume von Specialisterne in Hoje Taastrup, einem Vorort der dänischen Hauptstadt Kopenhagen, sind freundlich und funktional eingerichtet, pro Büro maximal sechs Computerarbeitsplätze. Die meisten der hier arbeitenden Angestellten eignen sich nicht für die Arbeit in Grossraumbüros, wie B., der nicht mit Namen genannt werden möchte, erklärt: «Ich kann zehn Gesprächen gleichzeitig folgen. Glaub mir, das ist kein Spass.» Der junge Informatiker bereitet sich gerade auf die Zertifizierung ISAP vor, eine Prüfung, über die ein IT-Spezialist heutzutage offenbar verfügen muss.
Geduldig erklärt B., welcher Art und von welchem Nutzen diese Prüfung ist, wie Anwender, Markt und Wissenschaft darüber diskutieren – so lange, bis sich bei seinem Gegenüber angesichts der Fülle von Zahlen und Begriffen komplette Verwirrung einstellt. Eine typische Situation in der Begegnung mit Menschen, die unter einer der Wahrnehmungsstörungen leiden, die zum autistischen Spektrum gezählt werden. In Gesprächen fällt es ihnen oft schwer, Prioritäten zu setzen, in Abertausenden von Details den roten Faden zu finden.
So speziell seine Mitarbeitenden auch sind, in einer Hinsicht ist Specialisterne jedoch ein ganz normales IT-Beratungsunternehmen: eines nämlich, das sich bemüht, die Fähigkeiten seiner Angestellten gewinnbringend auf dem Markt anzubieten. «Wir arbeiten zu marktüblichen Honoraransätzen», erklärt Geschäftsführerin Lisbeth Andersen. «Höchstens eine Spur günstiger.» Zu den Aufträgen, die Specialisterne annimmt, gehören das Testen von Software, Qualitätsprüfungen im IT-Bereich oder die Übertragung grosser Datenmengen – kurz: alles, was ein Zahlenflair, eine ausserordentlich ausgeprägte Konzentrationsfähigkeit und Genauigkeit verlangt. Genau durch diese Eigenschaften zeichnen sich Specialisterne-Mitarbeitende aus.
Gründliche Abklärung der Begabungen
Wer sich bei Specialisterne bewirbt, durchläuft erst einmal eine fünf- bis sechsmonatige Probephase, in der die Begabungen und Neigungen sehr genau geprüft werden. Eine beliebte Aufgabe ist das Programmieren eines Lego-Roboters. «Damit beweisen die Kandidaten, dass sie komplexe Prozesse bewältigen und nach klaren Anweisungen handeln können», erklärt Henning Saietz, «Quality Developer» bei Specialisterne, wie er sich selbst nennt und zuständig dafür, die Kompetenzen der Angestellten aufzubauen und gegebenenfalls auch zu aktualisieren. Saietz blickt auf eine lebenslange Karriere als IT-Fachmann zurück.
Zwar fühlen sich viele Autisten zur Computerarbeit hingezogen, erklärt Saietz, «einige merken dann aber, dass es etwas ganz anderes ist, mit Computern zu arbeiten, als mit ihnen zu spielen.» Ausbildung und Lebensläufe seiner Kandidaten könnten unterschiedlicher nicht sein: Die einen verfügen über einen Universitätsabschluss, einige über eine Berufsausbildung, andere sind schon früh aus dem Schulsystem entlassen worden. Allen gemeinsam ist, dass sie an einem bestimmten Punkt die Ansprüche von Arbeits- und Privatleben nicht mehr vereinen konnten. Durchschnittlich zwei von drei Kandidaten finden bei Specialisterne eine Beschäftigung, das heisst ein Teilzeitpensum von rund 30 Wochenstunden. Da sie schneller ermüden als «Neurotypicals», wie symptomfreie Menschen von ihnen genannt werden, können sie kein Vollzeitpensum leisten. Dennoch bezahlt Specialisterne ein marktübliches Vollzeithonorar. Die Differenz zwischen der tatsächlich geleisteten und der ausbezahlten Zeit wird von der zuständigen Behörde getragen. Anderweitige Unterstützung wie Subventionen oder steuerliche Erleichterungen erhält das Unternehmen nicht.
Anstrengender Alltag
Das Leben als Autist ist anstrengend – so viel wird im Gespräch mit Kandidaten und Angestellten von Specialisterne sehr schnell klar. «Autisten haben keinen Filter, um Geräusche, Gerüche, Lichtreflexe und ähnliches auszuschalten – alles dringt gleichzeitig und ungehindert auf sie ein», erklärt Andersen, «das führt entsprechend schnell zu Ermüdung.» Den meisten Autisten falle es auch schwer, nonverbale Kommunikation zu interpretieren. «Es ist nichts, was sie intuitiv können.» Zwar sei es ihnen durchaus möglich, das Sozialverhalten der Umgebungsgesellschaft zu erlernen, doch dies müsse bewusst und in ständiger kognitiver Verarbeitung geschehen. «Ungefähr so, wie wir das Autofahren mühsam lernen müssen.»
In Bewerbungsgesprächen sei dies ein schwerwiegender Nachteil, bestätigt Mette Abrahamsson. Die muntere 22-Jährige arbeitet seit drei Jahren bei Specialisterne, auch sie nach einer frustrierenden Abfolge verschiedener Engagements und kurz bevor ihr die definitive Abschiebung in die Frührente drohte. In Vorstellungsgesprächen habe sie jeweils überlegt, welche Antwort wohl von ihr erwartet würde, während bereits die nächste Frage gestellt wurde. «Meistens habe ich falsch getippt», erklärt sie lakonisch. Auf einem Arbeitsmarkt, auf dem Sozialkompetenz auf Platz 1 der Anforderungsliste steht, ist dies ein grosses Handicap. Inzwischen habe sie aber sogar Teamarbeit gelernt, sagt sie, sichtlich stolz. «Man kann alles lernen. Aber es ist schwierig und ermüdend.»
Herausforderung in Sachen Kommunikation
Autisten brauchen eine umfassendere Betreuung als symptomfreie Arbeitnehmende. Entsprechend weit geht das Engagement der Firma für ihre Angestellten – weiter als im Arbeitsleben in der Regel üblich. «So weit, wie unsere Angestellten es wünschen oder brauchen», erklärt Andersen. Sie und ihr Stellvertreter sind jederzeit erreichbar, tagsüber und auch nachts. Wenn jemand morgens nicht rechtzeitig zur Arbeit erscheint, wird abgeklärt, warum. Wer akut an einer Depression leidet – die häufigste Co-Diagnose für Autisten – wird ermuntert, sich trotzdem in den Geschäftsräumen aufzuhalten. «Hier muss niemand den anderen etwas vormachen», erklärt Abrahamsson, «wir haben alle ab und zu Schwierigkeiten.»
Die Atmosphäre in der firmeneigenen Cafeteria ist freundlich, beinahe familiär. Mette Abrahamsson, die demnächst ihre erste eigene Wohnung bezieht, holt sich von Andersen Rat in Sachen Umzug. Die anderen Angestellten – alle exzellent Englisch sprechend – nehmen die Gelegenheit wahr, vor einer Journalistin ein paar Mythen aus der Welt zu räumen: «Wir seien nicht sozial, heisst es – aber das stimmt nicht: Wir mögen Gesellschaft, sehr sogar. Was ich nicht mag, ist, wenn die anderen mich nicht verstehen», sagt einer der Kandidaten und ein anderer stimmt ihm zu: «Ich soll abhängig von Routine sein? Im Gegenteil: Ich mag Abwechslung. Ich möchte einfach gerne wissen, was los ist.»
«Die Vielfalt unter Autisten ist erheblich grösser als diejenige unter Neurotypicals», ist Saietz überzeugt, «einfach deshalb, weil sie die Maske der Gesellschaft nicht tragen. Sie sind ganz ungeschminkt.» Für Andersen, die eine Karriere als Managerin in der IT-Branche hinter sich hat, war dies der Hauptgrund, weshalb sie die Stelle als Geschäftsführerin im Januar 2007 angenommen hat. «Hier muss ich Arbeit und Privatleben weniger trennen», sagt die fünffache Mutter, «das gefällt mir. Es sind nicht zwei getrennte Welten, es ist ein Leben.» Puncto Intensität, Organisation und Arbeitsprozessen sei die Arbeit für Specialisterne genau wie jeder herkömmliche Job, sagt sie, «vom Klima und den Softfaktoren her ganz anders.» Sie habe anders zu kommunizieren gelernt, erzählt Andersen. «Sehr viel genauer, sehr viel klarer.» Auch musste sie sich angewöhnen, sehr viel mehr von sich preiszugeben, ihre Emotionen zu erklären: «Ich bin wütend, ich bin traurig, ich bin zufrieden.»
Informatikfachkräfte – verzweifelt gesucht
Wegen dieser Spezialbedürfnisse werden vor einem Einsatz in einem Kundenunternehmen die Rahmenbedingungen genau abgeklärt. «Der Aufwand vorher ist grösser als bei vergleichbaren Unternehmen», bestätigt Peter Forsting, Direktor der dänischen Tochtergesellschaft von CSC, einem der weltweit grössten Software- und IT-Dienstleistungsunternehmen. «Normalerweise können wir – etwas plakativ ausgedrückt – die Berater irgendwohin setzen und erwarten, dass sie sofort Topleistung erbringen. Mit Specialisterne kommen Berater ins Haus, die eine ganze Menge Bedingungen stellen.» Wie sind die Lichtverhältnisse? Gibt es sehr viel Lärm? Ist der Arbeitsplatz in der Nähe einer stark frequentierten Türe?
Die Anfangsinvestition lohne sich dennoch, meint Forsting, der die «Spezialisten» regelmässig mit dem Testen von Softwareprogrammen betraut. «Diese Tests sind ein Gebiet, in dem die Leistung sehr gut messbar ist», erklärt er. Daher könne er mit Bestimmtheit sagen, dass die Arbeit von Specialisterne so gut wie fehlerfrei erledigt werde und vor allem bedeutend schneller als üblich. Da solche Tests hauptsächlich monotone Routinearbeit bedeuteten, sei sie bei seinen eigenen Mitarbeitenden höchst unbeliebt: «Niemand, der sie einmal gemacht hat, will diese Arbeit ein zweites Mal machen. Lieber sucht er sich einen neuen Job.» Auch auf dem dänischen Arbeitsmarkt sind Informatikfachkräfte schwer zu finden.
Auch auf Seiten von Specialisterne muss genau abgeklärt werden, was die Angestellten an ihrem zukünftigen Arbeitsplatz brauchen, um gut arbeiten zu können. Wichtig sei, dass im Kundenunternehmen jemand als Ansprechperson fungiere, nicht nur für die «Spezialisten», sondern auch für die Mitarbeitenden des Auftraggebers. Die Betreuung bleibe zwar nach wie vor Aufgabe des Specialisterne-Managements, doch sei es nötig, dass jemand vor Ort anwesend sei. Und wenn auch nur, um dafür zu sorgen, dass Kaffee- und Lunchpausen eingehalten werden. «Einige unserer Mitarbeitenden vergessen schlicht, zu essen», erzählt Andersen.
Gute Akzeptanz bei Mitarbeitenden
Natürlich hätten seine Mitarbeitenden anfänglich skeptisch auf die ungewöhnlichen neuen Kollegen reagiert, bestätigt Forsting. In Meetings sei über Autismus und über den Einsatz der Specialisterne-Mitarbeitenden detailliert informiert worden. Nach mehreren erfolgreichen Projekten sei die Stimmung heute im Haus ganz anders. Viele der Mitarbeitenden seien stolz, Geschäftspartner der durch Medienberichte mittlerweile landesweit bekannten Specialisterne zu sein. Forsting will sogar einen spürbaren Einfluss auf das Personalmanagement und die Unternehmenskultur seiner Firma beobachtet haben – einen guten Einfluss, wie er betont. «Heute fragen wir sehr viel genauer nach, was das einzelne Individuum braucht, um optimal arbeiten zu können.» Bei der Zusammenstellung neuer Teams etwa kämen diese Erkenntnisse positiv zum Tragen.
Unter dem Etikett der «Corporate Social Responsibility» oder gar der Wohltätigkeit will Forsting das Engagement von CSC ausdrücklich nicht verstanden wissen. Wie in jedem anderen Geschäftsverhältnis setze er Specialisterne dort ein, wo eine professionelle Leistung zu konkurrenzfähigem Preis erbracht werde. Die wichtigste Erkenntnis für ihn sei: «Sie sind nicht behindert. Sie sind Spezialisten.»
Specialisterne
Als Thorkil Sonne hörte, dass sein damals dreijähriger Sohn autistisch sei, konnte er die Diagnose nicht akzeptieren. Oder besser gesagt: die Behauptung, der Junge würde niemals ein «normales» Leben führen können. «Man spricht immer nur von Defiziten», beklagt Sonne, «warum nicht auch von den ausserordentlichen Fähigkeiten?»
Im Jahr 2004 gründete Sonne Specialisterne (dänisch für Spezialisten), eine Firma, die für Unternehmen der IT-Branche Outsourcing-Lösungen anbietet. Dabei nutzt sie die besonderen Fähigkeiten von Autisten und setzt sie gewinnbringend ein. Heute arbeiten rund 30 Angestellte fest für Specialisterne, entweder in den Räumlichkeiten der Firma oder direkt bei den Kunden. Der erste «Spezialist» wurde 2007 bereits von einem Kunden abgeworben – zur grossen Freude aller Beteiligten. Specialisterne expandiert gegenwärtig nach England und Indien. Interesse sei auch in verschiedenen europäischen Nachbarländern vorhanden.