Bitte bleib
In den vergangenen zwei Jahren haben mehr Menschen ihren Arbeitsplatz gekündigt als in der Zeit davor. Das liegt zum einen an den Auswirkungen der Corona-Pandemie – aber nicht nur. Oft ist es eine Mischung aus Burnout, Unzufriedenheit, mangelnder Wertschätzung und zunehmender Distanz zu Job und Kolleginnen.
Stay-Interviews sollten immer offene, informelle Gespräche sein. (Bild: iStock)
Der Fachkräftemangel führt dazu, dass Mitarbeitende immer mehr Job-Angebote von anderen Unternehmen bekommen. Gleichzeitig werden psychologische Hürden abgebaut, wenn Mitarbeitende im Homeoffice verstärkt auf die eigenen Bedürfnisse schauen und die persönliche Beziehung zum Arbeitsumfeld distanzierter wird. Diese Distanz führt auch dazu, dass Anzeichen einer Kündigungsbereitschaft nicht oder zu spät erkannt werden. Was bleibt, ist meist nur noch das Austrittsgespräch, nachdem die Kündigung eingereicht wurde.
Stay-Interview statt Austrittsgespräch
Austrittsgespräche sind wegen des Lernfaktors wichtig, weil hier zumindest die Gründe für die Kündigung erfasst werden können. Am Weggang der Mitarbeitenden können sie aber nichts mehr ändern. Um noch vor der Kündigung anzusetzen und gegensteuern zu können, bieten sich deshalb sogenannte Stay-Interviews an. Solche Gespräche zielen darauf ab, mögliche Kündigungsgründe bereits im Vorfeld zu erkennen, ihnen entgegenzuwirken und die Mitarbeitenden so im Unternehmen zu halten.
Um Stay-Interviews erfolgreich umzusetzen, braucht es vonseiten HR eine proaktive Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, dass Mitarbeitende kündigen könnten. Viele Unternehmen verschliessen die Augen und vertrauen darauf, dass durch die regelmässigen Feedbackgespräche alles geklärt ist. Umso grösser ist die Überraschung, wenn Mitarbeitende – vermeintlich aus dem Nichts heraus – das Unternehmen verlassen wollen.
Was wäre, wenn …?
Während in Austrittsgesprächen mit Betroffenheit das Warum besprochen wird, drehen sich Stay-Interviews schon viel früher um die Frage: «Wenn du jetzt kündigen würdest, was wäre der Grund dafür?». Dass man diese Frage nicht einfach in den Raum wirft und die Mitarbeitenden vorbereitet werden sollten, versteht sich von selbst. Denn die Aktion kann schnell nach hinten losgehen, wenn anschliessend über Zweck und Absicht der ungewöhnlichen Interviews gerätselt wird. Alle sollten von vornherein über den Sinn der Stay-Interviews aufgeklärt werden, denn erst, wenn ein sicherer Gesprächsrahmen bereitet ist, kann ein ehrlicher Austausch stattfinden.
Stay-Interviews von Entwicklungsgesprächen trennen
Stay-Interviews sollten immer als offene, informelle Gespräche und getrennt von den bisherigen Feedback- und Entwicklungsgesprächen geführt werden. Das Ziel der Gespräche liegt klar darauf, eine Einschätzung zu den Faktoren zu erhalten, die für den Verbleib der Mitarbeitenden im Unternehmen entscheidend sind oder sein könnten. Neben dem Gehalt sind dies vor allem Fragen nach dem Arbeitsklima, der Unternehmenskultur oder den Werten, die im Betriebsalltag häufig nicht so gelebt werden, wie es vielleicht einmal angedacht war.
«Wie fühlst du dich in deiner Rolle?», «Wirst du ausreichend gefördert und gefordert?» oder «Was würdest du gerne ändern, wenn du könntest?» sind gute Fragen, um ein Stimmungsbild zu erstellen. Genauso kann aber auch direkt danach gefragt werden, welche persönlichen Ziele die Mitarbeitenden haben, was ein Grund für einen Jobwechsel wäre und warum genau jemand im Unternehmen bleibt. Entscheidend ist, dass HR die Belange der Mitarbeitenden ernst nimmt und nicht aus Angst vor den Antworten die Augen verschliesst.
Motivation statt Ungewissheit
Nur wer gut kommuniziert, kann unerwarteten Kündigungen vorbeugen. Transparenz und Teilhabe führen meist dazu, dass sich Mitarbeitende ernst genommen fühlen, Selbstbewusstsein aufbauen – und dadurch automatisch gerne im Unternehmen bleiben. Es kann motivierend sein, wenn Mitarbeitende befähigt werden, Probleme offen anzusprechen und Teil der Lösung zu werden.
Um unabhängig vom Einzelfall Ableitungen zu treffen, sollte HR die Ergebnisse dokumentieren und auswerten. Während bei individuellen Problemen im besten Fall unmittelbar Abhilfe geschaffen werden kann, sollten die Verantwortlichen schauen, dass sie wiederkehrende Probleme strukturell behandeln.
Konkrete Massnahmen
Wichtig ist, dass aus den Erkenntnissen konkrete Massnahmen abgeleitet und umgesetzt werden. Insofern sollten Stay-Interviews nur geführt werden, wenn seitens der Unternehmensführung auch ein echter Wille zur Weiterentwicklung und Veränderung vorhanden ist. Die gute Absicht fällt HR sonst schnell auf die Füsse, wenn in Folgegesprächen immer wieder dieselben Themen aufploppen und keine Entwicklung erkennbar ist.
Alle Gespräche sollten streng vertraulich geführt werden. Daten können anonymisiert gespeichert und langfristig ausgewertet werden, zum Beispiel um die Entwicklung des Arbeitsklimas über einen bestimmten Zeitraum zu erfassen. So werden Massnahmen sinnvoll mit der tatsächlichen Entwicklung verknüpft und Erfolge sichtbar.