HR Today Nr. 7&8/2021: HR-Innovation

«Die Büchse der Pandora ist geöffnet»

HR eilt der Ruf voraus, altbacken, verwaltend und langsam zu sein. Ein Gespräch mit Gero Hesse, HR-Experte und Blog- sowie Podcast-Herausgeber von «saatkorn».

Alle sprechen von HR-Innovation. Was ist das eigentlich?

Gero Hesse: Eine Innovation ist die Einführung von etwas Neuem, vorher nicht Dagewesenem. Entsprechend ist HR-Innovation eine Entwicklung von HR-Themenfeldern, -Tools, -Prozessen oder -Ansichten. Doch weshalb entstehen Innovationen? In der Regel, weil sich Rahmenbedingungen verändern und alte Denkweisen oder Prozesse nicht mehr zeitgemäss sind. Wir leben in einer Zeit, in der sich viele externe Anstösse für Veränderungen im HR ergeben. Etwa durch die digitale Transformation, den demografischen Wandel und sich ändernde gesellschaftliche Wertkonstrukte. Einige der Fragestellungen, die gerade diskutiert werden und auf das HR eine Auswirkung haben, sind, mit welchen Technologien wir künftig Mitarbeitende erreichen und Bewerbende finden, welche Berufsbilder für eine Organisation relevant sind und welche Wertvorstellungen Auswirkungen auf das Unternehmen haben.

Beispiele für HR-Innovationen?

Gute Beispiele aus der Vergangenheit sind beispielsweise die Umstellung von Papier- auf elektronische Bewerbungen, der Wechsel von Print- zu Online-Stellenanzeigen, oder die papierlose Gehaltsabrechnung. Abseits der Technologie aber auch die Diskussion zum Sinn und Zweck einer Organisation. Grundlegend ist auch die Veränderung von HR als administrativ-transaktionale versus strategisch-transformative Disziplin oder über die Modelle von Dave Ulrich hinausgehend das Weiterdenken von HR als strategische Managementfunktion. In der florierenden HR-Start-up-Szene finden sich zahlreiche Innovationen: beispielsweise das Social-Start-up Bean United mit nachhaltig produziertem Bürokaffee oder die Recruiting-Plattform matched.io für Entwicklerinnen und Entwickler. Die Bandbreite ist enorm.

Ab welchem Zeitpunkt ist eine Innovation bereits wieder überholt?

Das lässt sich pauschal nur schwer beantworten. Vermutlich, wenn die Rahmenbedingungen sich so verändert haben, dass das einstmals Neue wieder nicht in die Zeit passt. Daher gefällt mir der Begriff «New Work» überhaupt nicht. Er enthält ja bereits implizit das Ende seiner eigenen Gültigkeit. Mir gefällt «Better Work» viel besser, denn wir werden nie an den Punkt kommen, an dem sich Arbeitsprozesse und -umfelder nicht weiter verbessern lassen.

Inwiefern ist Innovation an Digitalisierung geknüpft?

Die Digitalisierung ist oft ein grundlegender Treiber für Veränderung. Durch die Technologie hat sich besonders im Recruiting viel verändert. So ist es in Konzernen mittlerweile normal, Bewerbungen über Applicant Tracking Tools zu administrieren oder Stellenanzeigen auf relevanten Plattformen automatisiert auszuspielen. Auch die Personalentwicklung ist von der Digitalisierung stark betroffen. Die hybride Lernweise unterscheidet sich massiv von früher üblichen Schulungen. Damals brachten Firmen Mitarbeitende für ein paar Tage in Hotels zusammen, um ihnen im Frontalunterricht Wissen zu vermitteln. Die Norm ist heute eher ein Mix aus Self-Learning am Bildschirm und Vor-Ort-Lernen. Alltäglich ist zudem, Mitarbeitende per Employee Self Service bei der Urlaubsplanung, bei der Gehaltsabrechnung oder auch bei der Weiterbildung zu unterstützen.

Gibt es auch nicht digitale HR-Innovationen?

Wenn wir an die demografische Entwicklung denken, zeigt sich, dass wir in vielen Ländern auf eine Talentknappheit zusteuern. Vor diesem Hintergrund lassen sich innovative Ansätze wie zeitliche und örtliche Flexibilisierung von Arbeit, die Diskussion um Sinnhaftigkeit von Arbeit oder die Veränderungen in moderner Personalführung betrachten. Gäbe es genügend Arbeitskräfte, hätten wir keine New-Work-Diskussion. Erst der Arbeitsmarkt und die Personalknappheit führen dazu, dass Arbeitgebende über New Work nachdenken und sich entsprechend aufstellen.

Wieso muss HR innovativ sein und kann nicht bleiben, wie es ist?

Die Rahmenbedingungen verändern sich gerade massiv. Dies wirkt seit einigen Jahren, wenn auch eher schleichend. Corona hat sich als Katalysator für die Technologisierung und das neue Verständnis der Arbeitswelt entpuppt. Die Büchse der Pandora ist geöffnet: Was vor der Pandemie noch «nice to have» war, wird zum Must-have. Arbeitgebende müssen sich entsprechend anpassen, weil sie sonst mittelfristig keine Mitarbeitenden mehr gewinnen oder halten können.

Wo hapert es im HR?

Aus meiner Sicht am meisten an Optimismus und Risiko-Affinität. HR eilt der Ruf voraus, altbacken, verwaltend und langsam zu sein. Das sind keine guten Voraussetzungen, um Arbeit in einer dynamischen, global vernetzten Welt neu zu gestalten. Darum geht es jedoch. HR hat die einmalige Chance, transformativ zu werden. Eine ganze Reihe von Unternehmen experimentieren bereits mit neuen Organisationsformen, fokussieren auf Employee Experience oder machen Mitarbeitende zu Beteiligten, indem diese Anteile am Unternehmen erwerben können. Das ist schon extrem demokratisch gedacht und verlangt eine ganz andere Art von Personalmanagement als in autokratisch organisierten Unternehmen. Leider sind viele leitende HR-Mitarbeitende beruflich in anderen Zeiten sozialisiert worden und drohen den Anschluss zu verlieren. Dabei ist die aktuelle Zeit eine riesige Chance für HR.

Inwiefern wäre die Abschaffung des HR eine Innovation?

Im Sinne der Innovationsdefinition wäre das tatsächlich für die allermeisten Organisationen etwas grundlegend Neues. Ich würde HR aber nicht abschaffen. Vielmehr befürworte ich eine Neudefinition von HR. Weg vom Begriff Human Resources, der assoziiert, Menschen seien gleich viel wert wie Maschinen oder Kapital, hin zu einem Begriff, der auf die Beziehungen zwischen Menschen fokussiert und wertschätzender sowie respektvoller ist. Deshalb gefällt mir der Begriff «Human Relations». Das hätte auch den Vorteil, dass die Abkürzung weiterhin HR bleibt. Die Fragen, die HR in dieser Neudeutung in erster Linie zu beantworten hätte? Wie wollen wir miteinander umgehen? Welche Tools und Prozesse benötigen wir, wenn Wertschätzung und Respekt wichtig sind? Wie kreieren wir ein vielfältiges Unternehmen? Wie stellen wir sicher, dass sich Mitarbeitende mit ihren individuellen Bedürfnissen berücksichtigt fühlen? Letztlich geht es um das Thema Unternehmenskultur.

Wer verändert diese Kultur?

Wer, wenn nicht HR, sollte massgeblich eine attraktive, moderne und mitarbeitendenzentrierte Kultur aufbauen? Der oder die CFO oder CEO mit Sicherheit nicht. Ich plädiere deshalb für eine starke, moderne HR-Funktion unter dem Label «Human Relations». Denn darum geht es am Ende: die Beziehungen zwischen den Menschen, die zusammen eine Organisation bilden.

Gero Hesse

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Gero Hesse ist Experte für Employer Branding, Recruiting, HR-Start-ups und New Work. Mit seinem mehrfach ausgezeichneten Blog und Podcast «SAATKORN» liefert er seit 2009 Inspirationen für eine bessere Arbeitswelt.

 

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Christine Bachmann ist stellvertretende Chefredaktorin von HR Today. cb@hrtoday.ch

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