Porträt

Die Frau, die aus den Führungskräften 
liebenswürdigere Menschen macht

In jungen Jahren war das Lebensmotto von Anna Gamma: kämpfen, kämpfen und nochmals kämpfen. Nach Jahren der Suche und dank jungen Frauen in Not fand die Geschäftsleiterin des Lassalle-Instituts den Zugang zu ihrer Spiritualität 
und lehrt heute Führungskräfte, die Stille zu ertragen und in ihr den Weg zu einer menschlicheren Führung zu finden.

Durchdringend ist ihr Blick und zugleich vertrauenserweckend und sanft. Schnell wird klar, dass Anna Gamma die Welt mit anderen Augen betrachtet, als es gemeinhin üblich ist. In ihrem eleganten dunkelblauen Kostüm mit langem Rock könnte man sie auch der Sparte «Bank» zuordnen. Sie lacht: «Wenn Sie mich beim Meditieren fotografieren wollen, müsste ich mich umkleiden.»

Die Räume strahlen Ruhe aus, es ist still an diesem Mittag. Das ist kein Zufall. Stille ist die Basis der Zen-Meditation, und diese ist die Basis der Arbeit des Lassalle-Instituts, das die ausgebildete Pädagogin und promovierte Psychologin seit nunmehr sieben Jahren leitet. In ihren Seminaren will sie Führungskräfte dazu bewegen, in ihrem Alltag nicht nur ihre mentale, sondern auch ihre spirituelle Intelligenz zu nutzen. Für Gamma ist Wertschöpfung ohne Wertschätzung undenkbar. «Der erste Schritt ist, zunächst einmal still zu werden», erklärt sie. «Das ist gar nicht so einfach.» 60000 Gedanken, so schätze man, denken wir Menschen im Schnitt pro Tag. «Es ist laut in unseren Köpfen. Unser Geist plappert munter vor sich hin. Und das nicht mal kreativ. Die Gedanken drehen sich nämlich meistens im Kreis.»

Auf dem Weg der Stille kommen Führungskräfte mehr in Einklang mit sich selbst. Körper und Geist werden gleichermassen präsent. «Die spirituelle Intelligenz hilft, den flüchtigen Geist zu zähmen. Wenn wir unser spirituelles Potenzial fördern, verändern sich auch die mentale und die emotionale Intelligenz.»

Ein ganz besonderes Faible für Grenzgänger und heikle Situationen

Gamma sagt, sie selbst sei durch die Spiritualität intelligenter geworden, will heissen freier, eigenständiger in ihrem Denken und in den Entscheidungen. Dabei hat sie den Weg dorthin eigentlich erst spät eingeschlagen. Aufgewachsen mit acht Geschwistern in einem kleinen katholischen Dorf im St. Galler Rheintal, wird es der jungen Anna dort schnell zu eng. Religiös erzogen, befreit sie sich von diesen Fesseln, tritt aus der Kirche aus und bezeichnet sich selbst als Atheistin. Sie ist immer auf der Suche, nach was, weiss sie selbst nicht so genau. Gamma besucht das Lehrerinnenseminar, anschliessend studiert sie Psychologie in Zürich. Ihr Lebensmotto damals: kämpfen, kämpfen, kämpfen. Und sie merkt: Damit kommt sie nicht weiter. Damals, Ende der 1970er Jahre, fühlt sie sich haltlos, stürzt in eine tiefe Sinnkrise, hat einen ungewissen Weg vor sich.

Dann trifft sie auf Pia Gyger, die eine langjährige Wegbegleiterin werden sollte und der sie ihren Zugang zum christlichen Glauben verdankt. Gamma studiert fortan intensiv die Bibel, fragt als Psychologin, wie Jesus Beziehungen gelebt hat. Parallel dazu taucht sie ein in die Welt der Zen-Meditation. Gyger leitet zu dieser Zeit eine Therapiestation für junge Frauen in entwicklungskritischen Situationen zwischen Klinik, Strasse und Gefängnis. Sie bietet Gamma einen Job an, und die junge Psychologin entscheidet sich, endlich Verantwortung für ihr Leben und das anderer Menschen zu übernehmen. «Ich kam von der Universität, hatte einige Zusatzausbildungen absolviert und stand vor den Mädchen und dachte: ‹Und jetzt?› Das waren ganz neue 
Dimensionen.»

Im Therapieheim kommt sie in Kontakt mit Frauen in Nöten: Borderline, Prostitution, Magersucht, Drogensucht. «Es ging oft um Leben und Tod, die jüngste Drogenabhängige war erst zehn Jahre alt.» Mit 29 übernimmt Gamma die Leitung der Einrichtung. Nach kurzer Zeit schon hätten die jungen Frauen ihr gezeigt, dass alle ihre «wunderbaren Ausbildungen» nicht viel taugten. Die entscheidende Frage hiess: Was heilt denn wirklich? «Von diesen Frauen habe ich gelernt, dass nur in Beziehungen psychische Verletzungen wirklich heilen können.» Und sie lernt, das Leben zu lieben.

Immer wieder kommt Gamma mit den unterschiedlichsten Menschen in Grenzsituationen. Berührungsängste hat sie keine. Im Gegenteil: Sie hat ein ganz besonderes Faible für Grenzgänger. Immer wieder ist sie gefragt worden, Führungsaufgaben zu übernehmen. Es scheint, als hätte sie ein Händchen dafür. «Menschen und Institutionen zu führen, habe ich nirgends studiert, es war mir wohl auch ein Stück weit in die Wiege gelegt.»

Nach sieben Jahren im Therapieheim wird sie in die Leitung des Katharinawerks in Basel gewählt. Zehn Jahre ist sie dort als Ausbildungsleiterin tätig, trägt massgeblich dazu bei, dass die katholische Frauengemeinschaft sich nach und nach auch für Männer, Ehepaare und Menschen anderer Konfessionen und Religionen öffnet.

Den Führungskräften beibringen, Meister ihrer Gefühle zu werden


1995 gründen Pia Gyger und Pater Niklaus Brantschen das Lassalle-Institut, um Führungskräfte zu befähigen, eine ethisch getragene Wertekultur in allen Bereichen der Gesellschaft umzusetzen. In ihrer Funktion im Lassalle-Institut steht Anna Gamma im ständigen Austausch mit Chefs und Managern. Sie begleite sie darin, Meister ihrer Gefühle und nicht weiter Gefangene ihrer Gedanken zu sein, sagt sie. Aus eigener Erfahrung weiss Gamma, dass in der Ausbildung vor allem das mentale Potenzial gefördert wird.

Gamma verwendet gerne das Bild eines Autos, das mehrere Antriebssysteme hat, von denen uns Menschen aber nur eines bekannt ist. Schon in der Schule wird ihrer Meinung nach viel zu sehr auf Kopfwissen und zu wenig auf Erfahrungswissen gesetzt. «Man wird belohnt, wenn man repetitiv das ausspucken kann, was einem vorher gesagt wurde, aber eigenständiges Denken wird dabei nicht 
gelernt.»

Denken lernen müssten, so Gamma, auch viele Führungskräfte neu. Führung darf ihrer Meinung nach nicht primär über Kennzahlen, Quartalsabschlüsse und Boni erfolgen. «Ich kann Führungskräften sehr schnell deutlich machen, dass auch sie mit spiritueller Intelligenz unterwegs sind.« Es gehe darum, diese nutzbar zu machen. Und zwar nicht nur, um den Profit zu steigern, sondern auch, um die Lebensqualität zu verbessern und die Menschen menschlicher werden zu lassen. Grosse Entdeckungen seien nie durch mentale Prozesse gemacht worden. Gammas Erfahrung zeigt, dass tatsächlich ein Umdenken in Unternehmen stattfindet. «Aber es braucht seine Zeit.»

Viele Ehemalige seien tatsächlich liebenswürdigere, offenere und positivere Menschen geworden.  Manche gingen heute in Sitzungen und sagen: «Lasst uns eine Minute still sein und achtsam atmen», damit auch wirklich jeder geistig da ist und die Sitzung effektiver wird. «Wir brauchen Menschen, die in sich selbst verankert sind. Menschen, die aus ihrer inneren Mitte leben und daraus ihre Arbeit gestalten. Kampf wird dann abgelöst durch Kooperation, welche so die Basis von kokreativen Prozessen wird.» Schliesslich habe jeder Mensch in jedem Moment die Möglichkeit, etwas zu beeinflussen. «Ich kann Sie anschauen und denken: ‹Ist das eine komplizierte Frau!› oder ‹Typisch deutsch!› oder ich kann Sie anschauen und denken: ‹Sympathisch.› Und – alles wirkt. Auf Sie und auf mich. Hat man diese Dimensionen entdeckt, ist das Leben ein einziges Abenteuer.»

Bereits früh hat sich Gamma bedingungslos dafür entschieden, das Leben mit allen Facetten kennenzulernen. Zwischen 1996 und 2002 unternimmt sie zahlreiche Versöhnungsreisen rund um den Erdball. Gerufen von einer inneren Stimme an die «dunklen» Orte der Welt, verbringt sie einige Tage im Konzentrationslager Auschwitz im heutigen Polen. Sie meditiert auf der Ausladerampe, auf der über eine Million Menschen aus den Viehwaggons gestiegen sind.

Zum täglichen Programm gehört das Lernen genauso wie die Meditation

Sie begibt sich auf Spurensuche nach Trinity Site in New Mexico, dort, wo am 16. Juli 1945 die erste Atombombe explodierte. Sie arbeitet in Peace Camps mit traumatisierten Soldaten, die nach Kriegen nur schwer in ein normales Leben zurückfinden. Und sie reist in das Herz des Balkans, in den Kosovo, begegnet dort den Menschen und der Geschichte des ehemaligen Jugoslawiens. Ihre Reisen, sagt sie, wurden für sie zu einem inneren Weg von Unsicherheit zu Gewissheit, von Panik zu Vertrauen, von Ohnmacht zur Freude am Tun.

Aktuell engagiert sie sich für ein Projekt, das die Gründer des Instituts vor sieben Jahren auf den Weg gebracht haben: Jerusalem – Open City for Learning World Peace. Es basiert auf der Erkenntnis, dass Jerusalem ein Brennpunkt ist, in dem sich wichtige Probleme der Menschheit heute fokussieren. «Es gibt keinen Frieden auf unserem Planeten ohne Frieden im Nahen Osten und es gibt keinen Frieden im Nahen Osten, ohne Frieden in Jerusalem. Ich biete mit meinen Mitarbeitern im Institut einen Hafen für dieses Projekt.» Kooperation statt Kampf ist heute ihr Lebensmotto, das sie sich für die gesamte Menschheit wünscht. «Wir müssen auf globaler 
Ebene mehr kooperieren lernen.»

Lernen gehört für Gamma zum täglichen Programm, genauso wie Yoga und Meditieren. Sie lebt ihren Glauben jeden Tag, und sie geniesst ihre Arbeit, mit der sie ihre Berufung zum Beruf machen konnte. Sie lebt immer mehr im Einklang mit ihrem tiefsten Wesen. Ob sie nun angekommen ist? «Nein. Ich bin auf dem Weg. Sagen wir, ich bin angekommen auf meinem Weg.»

Anna Gamma

ist Jahrgang 1950. Sie wuchs in Widnau und St. Margrethen auf, absolvierte das Lehrerinnenseminar in Rorschach und schloss 1979 ihr Psychologiestudium an der Universität Zürich mit der Promotion ab. Sie wendet sich dem christlichen Glauben zu und geht parallel den Weg des Zen-Buddhismus. Seit 2003 ist sie Geschäftsleiterin des Lassalle-Instituts in Bad Schönbrunn, ist als Zen-Lehrerin, Dozentin, Autorin und Coach tätig.

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