Den Führungskräften beibringen, Meister ihrer Gefühle zu werden
1995 gründen Pia Gyger und Pater Niklaus Brantschen das Lassalle-Institut, um Führungskräfte zu befähigen, eine ethisch getragene Wertekultur in allen Bereichen der Gesellschaft umzusetzen. In ihrer Funktion im Lassalle-Institut steht Anna Gamma im ständigen Austausch mit Chefs und Managern. Sie begleite sie darin, Meister ihrer Gefühle und nicht weiter Gefangene ihrer Gedanken zu sein, sagt sie. Aus eigener Erfahrung weiss Gamma, dass in der Ausbildung vor allem das mentale Potenzial gefördert wird.
Gamma verwendet gerne das Bild eines Autos, das mehrere Antriebssysteme hat, von denen uns Menschen aber nur eines bekannt ist. Schon in der Schule wird ihrer Meinung nach viel zu sehr auf Kopfwissen und zu wenig auf Erfahrungswissen gesetzt. «Man wird belohnt, wenn man repetitiv das ausspucken kann, was einem vorher gesagt wurde, aber eigenständiges Denken wird dabei nicht gelernt.»
Denken lernen müssten, so Gamma, auch viele Führungskräfte neu. Führung darf ihrer Meinung nach nicht primär über Kennzahlen, Quartalsabschlüsse und Boni erfolgen. «Ich kann Führungskräften sehr schnell deutlich machen, dass auch sie mit spiritueller Intelligenz unterwegs sind.« Es gehe darum, diese nutzbar zu machen. Und zwar nicht nur, um den Profit zu steigern, sondern auch, um die Lebensqualität zu verbessern und die Menschen menschlicher werden zu lassen. Grosse Entdeckungen seien nie durch mentale Prozesse gemacht worden. Gammas Erfahrung zeigt, dass tatsächlich ein Umdenken in Unternehmen stattfindet. «Aber es braucht seine Zeit.»
Viele Ehemalige seien tatsächlich liebenswürdigere, offenere und positivere Menschen geworden. Manche gingen heute in Sitzungen und sagen: «Lasst uns eine Minute still sein und achtsam atmen», damit auch wirklich jeder geistig da ist und die Sitzung effektiver wird. «Wir brauchen Menschen, die in sich selbst verankert sind. Menschen, die aus ihrer inneren Mitte leben und daraus ihre Arbeit gestalten. Kampf wird dann abgelöst durch Kooperation, welche so die Basis von kokreativen Prozessen wird.» Schliesslich habe jeder Mensch in jedem Moment die Möglichkeit, etwas zu beeinflussen. «Ich kann Sie anschauen und denken: ‹Ist das eine komplizierte Frau!› oder ‹Typisch deutsch!› oder ich kann Sie anschauen und denken: ‹Sympathisch.› Und – alles wirkt. Auf Sie und auf mich. Hat man diese Dimensionen entdeckt, ist das Leben ein einziges Abenteuer.»
Bereits früh hat sich Gamma bedingungslos dafür entschieden, das Leben mit allen Facetten kennenzulernen. Zwischen 1996 und 2002 unternimmt sie zahlreiche Versöhnungsreisen rund um den Erdball. Gerufen von einer inneren Stimme an die «dunklen» Orte der Welt, verbringt sie einige Tage im Konzentrationslager Auschwitz im heutigen Polen. Sie meditiert auf der Ausladerampe, auf der über eine Million Menschen aus den Viehwaggons gestiegen sind.
Zum täglichen Programm gehört das Lernen genauso wie die Meditation
Sie begibt sich auf Spurensuche nach Trinity Site in New Mexico, dort, wo am 16. Juli 1945 die erste Atombombe explodierte. Sie arbeitet in Peace Camps mit traumatisierten Soldaten, die nach Kriegen nur schwer in ein normales Leben zurückfinden. Und sie reist in das Herz des Balkans, in den Kosovo, begegnet dort den Menschen und der Geschichte des ehemaligen Jugoslawiens. Ihre Reisen, sagt sie, wurden für sie zu einem inneren Weg von Unsicherheit zu Gewissheit, von Panik zu Vertrauen, von Ohnmacht zur Freude am Tun.
Aktuell engagiert sie sich für ein Projekt, das die Gründer des Instituts vor sieben Jahren auf den Weg gebracht haben: Jerusalem – Open City for Learning World Peace. Es basiert auf der Erkenntnis, dass Jerusalem ein Brennpunkt ist, in dem sich wichtige Probleme der Menschheit heute fokussieren. «Es gibt keinen Frieden auf unserem Planeten ohne Frieden im Nahen Osten und es gibt keinen Frieden im Nahen Osten, ohne Frieden in Jerusalem. Ich biete mit meinen Mitarbeitern im Institut einen Hafen für dieses Projekt.» Kooperation statt Kampf ist heute ihr Lebensmotto, das sie sich für die gesamte Menschheit wünscht. «Wir müssen auf globaler Ebene mehr kooperieren lernen.»
Lernen gehört für Gamma zum täglichen Programm, genauso wie Yoga und Meditieren. Sie lebt ihren Glauben jeden Tag, und sie geniesst ihre Arbeit, mit der sie ihre Berufung zum Beruf machen konnte. Sie lebt immer mehr im Einklang mit ihrem tiefsten Wesen. Ob sie nun angekommen ist? «Nein. Ich bin auf dem Weg. Sagen wir, ich bin angekommen auf meinem Weg.»
Anna Gamma
ist Jahrgang 1950. Sie wuchs in Widnau und St. Margrethen auf, absolvierte das Lehrerinnenseminar in Rorschach und schloss 1979 ihr Psychologiestudium an der Universität Zürich mit der Promotion ab. Sie wendet sich dem christlichen Glauben zu und geht parallel den Weg des Zen-Buddhismus. Seit 2003 ist sie Geschäftsleiterin des Lassalle-Instituts in Bad Schönbrunn, ist als Zen-Lehrerin, Dozentin, Autorin und Coach tätig.