Die neue Zivilprozessordnung – Auswirkungen auf das Arbeitsrecht
Per 1. Januar 2011 ersetzte eine neue, gesamtschweizerisch geltende Zivilprozessordnung die alten kantonalen Verfahrensvorschriften. Die neuen Regeln weichen teilweise einschneidend vom bisher gewohnten Prozessieren ab.
Schlichtungsverfahren: Im Kanton Zürich wurden Klagen an den Arbeitsgerichten bislang ohne vorgängige «Sühnverhandlung» eingeleitet. Neu ist auch bei arbeitsrechtlichen Klagen zunächst ein Schlichtungsverfahren durchzuführen – im Kanton Zürich beim Friedensrichter:
- Persönliches Erscheinen: Dabei müssen die Parteien persönlich erscheinen. Sie können sich aber durch einen Anwalt begleiten lassen. Juristische Personen sollten eine leitende Person entsenden, welche über die Streitsache orientiert und schriftlich ermächtigt ist, einen Vergleich abzuschliessen. So können Streitfälle vor Ort abschliessend gelöst werden. Müssen dagegen Widerrufsfristen zwecks Rücksprache mit der Arbeitgeberin vorgesehen werden, gefährdet dies den Vergleich. Bei Vergleichsverhandlungen sollte man zudem darauf achten, ökonomische Überlegungen im Zweifelsfall über Emotionen zu stellen.
- Protokollierung: Das Gesetz sieht keine Protokollierung der Parteiaussagen im Schlichtungsverfahren vor. Im Kanton Zürich sind die Friedensrichter ausdrücklich angewiesen, Notizen von Aussagen der Parteien nur als Gedankenstützen niederzuschreiben und später zu vernichten. Werden in der Schlichtungsverhandlung also beweisrelevante Aussagen getroffen, können sich die Parteien später nicht auf ein Protokoll berufen. Dies scheint ein gewichtiger Nachteil. Die Gerichtspraxis wird zeigen, wie weit Mitglieder der Schlichtungsbehörden später im Hauptprozess als Zeugen angerufen werden können – und wie weit sie sich dann noch zu erinnern vermögen. Fraglich auch, ob es helfen könnte, eigene Aktennotizen über das Schlichtungsverfahren zu verfassen.
- Klagebewilligung: Kommt im Schlichtungsverfahren keine Einigung zustande, wird der Klägerschaft die Klagebewilligung ausgestellt. Jetzt kann die Klage beim sachlich zuständigen Gericht eingereicht werden.
Sachliche Zuständigkeit: Die sachliche Zuständigkeit bleibt nach wie vor Sache der Kantone. In Kantonen, in denen spezialisierte Arbeitsgerichte vorgesehen sind, profitieren die Parteien von der hohen Fachkompetenz der Richter. Im Kanton Zürich standen bisher nur in den Städten Zürich und Winterthur Arbeitsgerichte zur Verfügung, deren Urteile allerdings in der Fachwelt hohe Ausstrahlungskraft genossen. Neu sind im Kanton Zürich für den ganzen Kanton Arbeitsgerichte vorgesehen, denen (bei Streitwerten über 30 000 Franken) Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter als Beisitzer angehören. Sobald die Klage eingereicht ist, bleibt das Prozessieren für Streitwerte bis 30 000 Franken (wie bisher) einfacher, während die Prozessführung für höhere Streitwerte hohe Anforderungen stellt:
Streitwert bis 30 000 Franken: Nach Klageeinreichung gelten im Arbeitsrecht für Streitwerte bis 30 000 Franken besondere Verfahrenserleichterungen, die das Prozessieren vereinfachen:
- Vereinfachtes Verfahren: Der Gesetzgeber beabsichtigte, mit einem vereinfachten Verfahren Regeln aufzustellen, die die Prozessführung «laientauglich» gestalten, also Anwaltskosten ersparen. So ist das Verfahren beispielsweise vorherrschend mündlich. Weiter soll das Gericht den Parteien aktiv helfen und «durch entsprechende Fragen darauf hin[wirken], dass die Parteien ungenügende Angaben zum Sachverhalt ergänzen und die Beweismittel bezeichnen» (Art. 247 ZPO).
- Sachverhaltsabklärung von Amtes wegen: Das Gericht stellt den Sachverhalt von Amtes wegen fest und erhebt auch die Beweise von Amtes wegen. Die Richter sind also weder an die Tatsachenbehauptungen der Parteien noch an deren Beweisanträge gebunden. Die Parteien dürfen sich aber nicht darauf verlassen, sie könnten sich zurücklehnen und alle Arbeit dem Gericht überlassen. Denn die Parteien trifft eine Mitwirkungspflicht und die Richter sind nicht verpflichtet, den Sachverhalt von sich aus auszuforschen.
- Noven: Im Zivilprozess stehen jeder Partei grundsätzlich zwei (mündliche oder schriftliche) Vorträge zu, um ihren Standpunkt darzulegen. Danach wird das Gericht sogenannte «Noven» – also neue Tatsachen und Beweismittel – nur noch berücksichtigen, sofern diese erst nach Abschluss der Parteivorträge entstanden sind. Weil aber das Gericht den Sachverhalt im Arbeitsprozess bis 30 000 Franken von Amtes wegen abklärt, sind hier Noven auch noch nach Abschluss der Parteivorträge zulässig – Vergessenes kann also grundsätzlich nachgetragen werden. Besser scheint allerdings, sorgfältig zu prozessieren und alle Argumente frühzeitig aufzuarbeiten und darzulegen.
- Kostenloses Verfahren: Für arbeitsrechtliche Streitigkeiten bis 30 000 Franken werden keine Gerichtskosten in Rechnung gestellt und es sollte entsprechend auch kein Kostenvorschuss erhoben werden.
Streitwerte über 30 000 Franken: Streitwerte über 30 000 Franken werden im ordentlichen Verfahren geführt:
- Bezeichnung der Beweismittel: Dabei steht der Klägerin mit der Klagebegründung der erste, dem Beklagten der letzte (vierte) Parteivortrag zu. Nach Abschluss der Parteivorträge konnten die Parteien im Kanton Zürich bislang in Ruhe ihre Beweispflicht prüfen. Erst später, in einem separaten Beweisverfahren, mussten sie sich aus dem Arsenal ihrer Beweismittel auf die gewünschte Auswahl festlegen. Mit der neuen Zivilprozessordnung müssen die Beweismittel bereits mit dem zweiten Parteivortrag abschliessend bezeichnet werden. Den Parteien steht also keine Zeit zur Verfügung, die gegenseitigen Vorträge in Ruhe zu verarbeiten und erst dann das Beweisverfahren und die Bezeichnung der Beweismittel vorzubereiten. Diese Regelung stellt erhöhte Anforderungen an das taktische Verhalten der Parteien. Sie sollten sich bereits früh in die gegnerische Prozessposition eindenken. So muss etwa die Klägerin ihre Beweismittel spätestens in ihrem zweiten Vortrag anführen, noch bevor sie den zweiten Vortrag des Beklagten kennt – der ja den letzten Vortrag hält. Die Klägerin sollte also mögliche Standpunkte des Beklagten in seinem zweiten Vortrag gedanklich vorwegnehmen. Ruft die Klägerin beispielsweise einen Zeugen an, den dann auch der Beklagte in seinem zweiten Vortrag anruft, fragt sich, ob die Klägerin möglicherweise den falschen Zeugen angerufen und damit ungewollt Schwachpunkte ihrer eigenen Position offengelegt hat. Gerade in arbeitsrechtlichen Streitigkeiten stellt sich diese Problematik nicht selten, da naheliegenderweise häufig auf Zeugenaussagen von Mitarbeitenden der Arbeitgeberin abzustellen ist. Schon im Mittelalter scherzte man über solche Zeugen: «Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.»
- Kostenvorschuss: Im Kanton Zürich wurden die Kosten des Verfahrens bislang erst nach Abschluss des Prozesses von der unterliegenden Partei bezogen. Nach neuer Zivilprozessordnung kann das Gericht nach Klageeinreichung von der Klägerin einen Vorschuss bis zur Höhe der mutmasslichen Gerichtskosten verlangen. Gewinnt die Klägerin den Prozess, muss ihr der Beklagte zwar diesen Vorschuss rückerstatten. Aber wenn der Beklagte nicht zahlen kann, bleibt die Klägerin auf ihren Kosten sitzen. Manche befürchten, diese Bestimmung sehe ein Prozessieren nur noch für Reiche vor. Arbeitsrechtlich dürfte sich die Vorschusspflicht eher selten zu Lasten klagender Arbeitnehmender richten, da durchschnittliche Arbeitgebende über mehr finanzielle Mittel verfügen dürften als durchschnittliche Arbeitnehmende. Die Frage nach der Bonität kann sich aber stellen, wenn Arbeitgebende gegen Arbeitnehmende klagen, was bekanntlich seltener vorkommt.
Praxistipp: Die Streitwertgrenze von 30 000 Franken erweist sich demnach als entscheidende Weiche für leichteres oder erschwerteres Prozessieren. Da ist es gut zu wissen: Man kann die Höhe des Streitwerts und damit die Verfahrensart und das Kostenrisiko beeinflussen, indem eine Forderung vorerst nur teilweise und unter 30 000 Franken eingeklagt wird. Dies ist zulässig und gilt nicht als Rechtsumgehung.