«Es ist doch genügend Arbeit da»
Daniela Merz, CEO der Dock Gruppe, bietet nicht nur Langzeitarbeitslosen eine Wiedereinstiegsmöglichkeit in die Arbeitswelt. Sondern sie will, überzeugt von dieser Aufgabe, nun auch dabei helfen, weitere Sozialfirmen aufzubauen – sodass bald mehr Anbieter die Arbeitslosen unterstützen können.
Daniela Merz hat einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. (Foto: Sabine Schritt)
Ein herzliches Willkommen, zwei, drei persönliche Worte, und schon ist das Eis gebrochen. Es menschelt bei Daniela Merz, Geschäftsführerin der Dock Gruppe St. Gallen. Sie fühlt sich nicht so fit heute, doch schnell scheint dies im Gespräch verflogen. Sie nimmt sich Zeit und ist gleich in ihrem Element, denn es geht um ihre Aufgabe, die mehr ist als nur ein Job.
Was Merz tut, ist eigentlich naheliegend, aber erst seit einiger Zeit findet es in der Öffentlichkeit vermehrt Beachtung. Sie bringt mit ihrer Sozialfirma Langzeitarbeitslose wieder in die Arbeit und verhilft ihnen damit wieder zu einem würdevollen, in die Gesellschaft integrierten Leben.
«Bis jetzt war Arbeitslosigkeit in der Schweiz meist ein vorübergehendes Phänomen», sagt Merz. «Man hatte das Gefühl, das lässt sich irgendwie heilen. Tatsache ist einfach, dass heute viele Menschen nicht mehr 100 Prozent der geforderten Leistung erbringen können, die Anforderungen der Wirtschaft sind in den letzten Jahren massiv gestiegen, andere können nicht immer eine volle Leistung erbringen. Der erste Arbeitsmarkt fordert aber kontinuierlich 100 Prozent Leistungsfähigkeit ab. Also was sollen wir tun? Sie alle berenten? Das kann sich niemand leisten.»
Eine Beschäftigung für 1000 Franken: «Immerhin ein Anfang»
Merz weiss: Langzeitarbeitslose haben die gleichen Wünsche wie wir alle. Sie möchten gebraucht werden, etwas wert sein und sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten etwas leisten können. Viele Arbeitslose bräuchten keine teuren Massnahmen und Therapien, ist Merz überzeugt. «Sie brauchen einfach eine Arbeitsstelle. Mal ehrlich, zu Hause zu bleiben , ist zwar ganz lustig, aber wenn man nach drei Wochen nicht weiss wohin, stellt sich Hoffnungslosigkeit ein. Dann ist eine Beschäftigung für 1000 Franken immerhin ein Anfang, oder?»
Dass sie einmal eine Sozialfirma leiten würde, daran hatte Merz im Traum nicht gedacht. Während ihres Schuldienstes will sie sich berufsbegleitend in Betriebswirtschaft weiterbilden. «Doch Lehrer und Betriebswirtschaft an der Uni, das scheint sich irgendwie nicht zu vertragen», erzählt sie. Sie wechselt in die Wirtschaft, macht die Ausbildung zur Betriebswirtschafterin auf anderem Weg und steigt später bei einer Informatikfirma als Partnerin und Geschäftsführerin ein. Sie ist ein Mensch, der nicht viel plant, der Gelegenheiten nimmt, wie sie kommen. Viele Entscheidungen in ihrem Leben sind aus Gelegenheiten entstanden, die sie einfach genutzt hat.
Arbeiten aus dem Ausland zurückgeholt
In der Informatikfirma arbeitet auch ihr Mann und es ist klar, das kann auf Dauer nicht die Lösung sein. Ihr Mann ist es, der auf das entscheidende Inserat stösst: «Schau, die suchen dich», meint er zu ihr, als er 2002 die Stellenausschreibung der Stiftung für Arbeit entdeckt. Sprich: Sie suchen jemanden mit einer betriebswirtschaftlichen Fachausbildung, mit pädagogischem oder sozialpolitischem Hintergrund, politischer Erfahrung sowie Führungserfahrung. Bingo. Wie gut, dass sie dem Schuldienst den Rücken gekehrt hat und bereits Führungserfahrung vorweisen kann, ausserdem bekleidet sie damals bereits das Amt der Sozialvorsteherin der Gemeinde Herisau. Merz zögert einen Moment und überlegt sich, ob sie tatsächlich in diesen Bereich gehen soll. Sie geht dann buchstäblich in letzter Minute ins Rennen und bekommt den Job.
Die Stiftung für Arbeit wurde 1997 von der Stadt St. Gallen, vom Gewerbeverband, vom Gewerkschaftsbund und den beiden Landeskirchen gegründet mit dem Ziel, für ausgesteuerte Langzeiterwerbslose Arbeitsplätze zu schaffen und eine mittel- und längerfristige Integration in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Heute beschäftigt die Dock Gruppe AG in ihren Docks rund 950 ausgesteuerte Arbeitslose an neun Standorten. Sie übernehmen Arbeiten aus dem Industriebereich von Montage bis Qualitätskontrolle, die in der Schweiz nicht mehr kostendeckend ausgeführt werden können. Es sind Arbeiten, die aus dem Ausland zurückgeholt wurden oder die sonst in Billiglohnländer ausgelagert würden. Die besten Mitarbeiter der Sozialfirma haben die Chance, wieder eine Stelle zu finden, und können diese dann sofort antreten. Die Sozialfirma arbeitet im zweiten Arbeitsmarkt und ist sorgfältig darauf bedacht, den ersten Arbeitsmarkt möglichst nicht zu konkurrenzieren.
Auch die Nachbarländer sind aufmerksam geworden
Merz bewegt sich auf politisch unwegsamem Gelände. «Langzeitarbeitslosigkeit ist ein schwieriges Thema, das bringt keine Wählerstimmen», das ist ihr wohl bewusst. «Wer will als Hochlohnland schon zugeben, dass wir Menschen haben, die nicht in den ersten Arbeitsmarkt passen?» Der Staat könne es sich nicht leisten, Arbeitslosigkeit nur zu verwalten. Eigenverantwortung, Anreizsysteme und Leistungsförderung sind Merz’ Stichworte. «In der Arbeitsintegration ist es eine finanzpolitische Frage: Kann Herr Meier arbeiten, müssen wir zahlen oder nicht? Arbeitsintegrationsprogramme sind in der Regel teuer, 2000 Franken pro Monat Beschäftigung sind keine Seltenheit.»
An diesem Punkt setzt die sozialunternehmerische Idee von Daniela Merz an. Die Überlegung dabei ist bestechend einfach: Die Sozialfirma soll so viel durch Kundenaufträge erwirtschaften können, dass die Beschäftigung eines Langzeitarbeitslosen für die zuweisende Gemeinde praktisch kostenneutral ist. Der Arbeitnehmer erhält statt Sozialbezüge einen Lohn für adäquate Arbeit. In dem Moment, wo keine Mehrkosten entstünden, sei die Beschäftigung eine rein sozialpolitische Frage und keine finanzpolitische mehr: «Bringt es Herrn Meier etwas, zu arbeiten, und machen wir es ihm möglich? – Niemand muss das Gefühl haben, wir werfen das Geld zum Fenster hinaus. Herr Meier bekommt durch die Arbeit in der Sozialfirma Wertschätzung und neue Lebensperspektiven und die Chance, seinen Lebensunterhalt wieder selbst verdienen zu können.»
Mit diesem Modell hat Merz ihr Ziel erreicht, aus den finanzpolitischen Diskussionen ein Stück weit herauszukommen. Und das Konzept findet Beachtung, nicht nur in der Schweiz, auch die Nachbarländer sind aufmerksam geworden. In den letzten Jahren ist die Sozialfirma gewachsen und für andere Schweizer Gemeinden attraktiv geworden. Das zeigt, dass der Bedarf da ist. Eine Übungsfirma als Beschäftigungstherapie, das kommt für Merz nicht in Frage. Wer will denn üben? Sie fand Klavierüben schon «blöd». «Es ist doch genügend Arbeit da», sagt sie, und die Unternehmen zögen mit. Merz steht mit voller Leidenschaft hinter ihrem Job, wohl auch deshalb, weil sie ihn mit ihrem Menschenbild prägen kann. «Schlussendlich muss sich jeder selbst helfen, und das funktioniert auch am besten.» Damit wird klar: Sie hat kein Helfersyndrom, sondern will Hilfe zur Selbsthilfe geben, sehen, wie die Menschen aufstehen und sich von ihrer Opferrolle befreien. Dabei ist sie auch ganz Betriebswirtschafterin. Wertschöpfung und Wertschätzung schliessen sich für Merz keinesfalls aus, im Gegenteil: «Das hat viel miteinander zu tun.»
Von furchtbarer Ehrlichkeit und Loslassen-Müssen
Als sie die direkte operative Leitung des Betriebs in St. Gallen 2009 in andere Hände abgeben muss, hat sie, auch wenn sie weiterhin CEO der Dock Gruppe ist, das Gefühl, alles werde ihr genommen. Ein schmerzhafter Prozess des Loslassens, der sie mit tiefliegenden Ängsten konfrontiert und sie Seiten an sich selbst entdecken lässt, auf die sie nicht nur stolz ist. «Loslassen ist etwas Schwieriges für jemanden, der noch nicht 40 Jahre alt ist. Ich habe den direkten Kontakt zu unseren Arbeitnehmenden sehr geliebt», gesteht sie. In solchen emotionalen Momenten gehe es bestimmt nicht immer nur professionell zu.
Doch in dieser Kultur, in der die CEO auch mal einen emotionalen Ausbruch haben darf und das auch ihren Mitarbeitern zugesteht, gedeihen Menschlichkeit und Vertrauen. Daniela Merz kann ganz furchtbar ehrlich sein, aber selbst auch mit Ehrlichkeit gut umgehen. «Eine Führungskraft», sagt Merz, «kann nur erfolgreich sein, wenn sie authentisch ist.» Mit einem Geltungsdrang werde es schwierig und mitunter auch unanständig. Auch sie muss sich ab und zu fragen: Geht es mir darum, dass es meinen Mitarbeitern gut geht, oder geht es mir darum, Chef zu sein? Einen solchen Moment habe sicher jeder Chef schon einmal erlebt. «Aber wenn man sich selbst spürt, reflektiert und zu erkennen gibt, hat Führung sehr viel mit der eigenen Persönlichkeit zu tun.»
Keine Angst vor künftiger Konkurrenz
Was den ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ihr soziales Engagement angehe, sei sie ganz fest von ihren Eltern geprägt. Ihr Vater ist Gerichtspräsident und ihr Vorbild darin, Verantwortung zu übernehmen, einen Entscheid zu treffen und dafür geradezustehen. Ihre Mutter führt Sektionen privater sozialer Institutionen wie Pro Juventute. Mit ihrem Mann ist Merz bereits seit 12 Jahren verheiratet. Sie lernen sich im Ausgang kennen, noch bevor die politische Karriere ihres Schwiegervaters, Ex-Bundesrat Hans-Rudolf Merz, Fahrt aufnimmt. Damals ist dieser Ständerat und «warnt» sie: Die Familie heiratet man mit. Der prominente Name macht es ihr nicht immer leicht. Es habe sicher einige Vorteile mit sich gebracht, die ihr nicht so bewusst seien. «Aber man trägt auch die schweren Zeiten mit. Schlagzeilen wie ‹Merz lügt› sind schwer zu verdauen, auch als Schwiegertochter.» Auch habe man versucht, sie zu instrumentalisieren, «als könne ich ihm sagen, was er zu tun hat», lacht sie.
Merz hat ein klares Anliegen: das Dock-Modell weitertragen. Mit der neuen Firma Pro-Dock will sie Unterstützung, Beratung und Schulung für jene anbieten, welche das Modell mit einer eigenen Firma weiterentwickeln wollen. «Langzeitarbeitslosigkeit ist ein Thema. Und wir sind alle nicht mehr vor ihr sicher.» Die Dock Gruppe sei da bloss ein Tropfen auf den heissen Stein. Künftige Konkurrenz macht Merz nicht Bange. «Wenn es andere Sozialfirmen gibt, dann wird es einen anderen Drive geben, ein Umdenken. Deshalb ist es wichtig, dass noch mehr das fortsetzen, was wir begonnen haben.»
Daniela Merz ist Jahrgang 1972 und machte zunächst eine Ausbildung zur Primarlehrerin. Berufsbegleitend bildete sie sich zur Betriebswirtschafterin weiter. Bis 2002 leitete sie eine Softwarefirma. Anschliessend übernahm Merz die Geschäftsführung der Stiftung für Arbeit. 2009 wurde das operative Geschäft aus der Stiftung für Arbeit herausgelöst und in die Dock St. Gallen überführt. 2010 wurden die Tochterfirmen in der Dock Gruppe AG fusioniert. Diese ist eine 100-prozentige Tochterfirma der Stiftung für Arbeit und betreibt, unter CEO Daniela Merz, eine Sozialfirma mit neun Produktionsstandorten: Arbon, Buchs, St. Gallen, Gossau, Winterthur, Zürich, Limmattal, Luzern und Basel-Stadt. 2010 erhielt das Unternehmen den Preis für soziale Innovation der Stiftung Paradies. Ihre Erfahrungen hat Daniela Merz zusammen mit Lynn Blattmann in einem Buch zusammengefasst.
20 Sekunden mit Daniela Merz
Ein Buch: «Der Vorleser» von Bernhard Schlink
Ein Film: «Die Katze auf dem heissen Blechdach» mit Paul Newman und Elisabeth Taylor
Ein Lieblingsessen: Shabu Shabu (japanisches Nationalgericht)
Buchtipp
Lynn Blattmann, Daniela Merz: Sozialfirmen. Plädoyer für eine unternehmerische Arbeitsintegration. Verlag Rüffer & Rub, 2010