«Es ist keine Schande, Geschäfte zu machen, aber anständig müssen sie sein»
Mit Hilfsgütern kommt der Schweizer Fleischproduzent Urs Angst in den Neunzigerjahren zum ersten Mal nach Rumänien. Als er merkt, wie begehrt seine Würste dort sind, beschliesst er, zu bleiben – und nimmt den Kampf auf: gegen Korruption und halsbrecherische Einfuhrzölle. Dabei behält er stets die Menschen im Blick, die auf seine Hilfe angewiesen waren.
Urs Angst: «Ich rate Managern, eher dazu zu stehen, keine Visionen zu haben und keine Zeit zu vertrödeln im Formulieren von Leitbildern, Strategien oder weit gesuchten Zielsetzungen.» (Foto: Sabine Schritt)
Nur langsam erholt sich Rumänien ab 1990 nach dem Sturz des kommunistischen Regimes von Misswirtschaft und Folgen der Diktatur Ceausescus. Die zivile Bevölkerung leidet unter Armut, die Lebensmittelversorgung ist zusammengebrochen, grundlegende Menschenrechte müssen wiederhergestellt werden. Da erhält der Zürcher Metzger Urs Angst eine Anfrage des Chefredaktors einer Boulevardzeitung, ob er sich an einem Hilfskonvoi beteiligen könne: für die hungernden Menschen in Rumänien. Angst sagt zu – auch mit dem Hintergedanken, vielleicht dort «irgendwo im Osten» irgendwann geschäftlich Fuss fassen zu können. «Ich wusste wirklich nicht, wo Rumänien genau liegt», gesteht Angst.
Rumänien statt Bora Bora – der liebe Gott ist schuld
Das Vorhaben, ins Ausland zu expandieren war keineswegs neu. Schon vorher hatte sich Angst ernsthaft um die Zukunft seines Unternehmens gesorgt. Mitte der Achtzigerjahre war der Markt gesättigt, diverse Fleisch- und Tierskandale taten ihr Übriges. «Zudem waren bereits 70 Prozent des Lebensmitteleinzelhandels in den Händen der beiden Grossverteiler Coop und Migros, die über eigene Fleischbetriebe verfügten», erzählt Angst. Für ihn gab es nur zwei Möglichkeiten: in der Schweiz bleiben, aber raus aus dem Fleischgeschäft oder im Fleischgeschäft bleiben und raus aus der Schweiz. Für die erste Möglichkeit fehlte das Know-how.
Für das Auslandsgeschäft hatte Angst eigentlich seinen Traum Bora Bora favorisiert. «Leider ist es nicht so einfach, zu sagen, da gefällt es mir, da mache ich jetzt meine Würste.» Für das Projekt «Ausland» gab es eine schier unendliche Zahl von geografischen Möglichkeiten. «Diese alle zu eruieren, ist für einen Mittelständler, der mit dem Daily Business ausgelastet ist, ein Ding der Unmöglichkeit. Und Unternehmensberater nehmen einem nicht nur alle Fragen und alle Probleme ab, sondern in der Regel auch all das Geld, das man für das Projekt vorgesehen hat», scherzt Angst. Der liebe Gott oder der Zufall sei daran schuld, dass es eben Rumänien sein sollte. Seine Würste sind 1992 in Rumänien heiss begehrt und er beschliesst, die Chance zu packen.
Aufbauarbeit mit Anstand und Geschäftssinn
Angst engagiert einen jungen Tierarzt, der mit ihm das Abenteuer riskiert. Sie gründen eine GmbH mit der Idee, Produkte aus der Schweiz zu exportieren und mit dem Erlös in dem Land etwas aufzubauen. Pro Transport gehen zehn Tonnen Fleisch und Würste nach Rumänien. «Die waren an einem Nachmittag weg», so Angst. Die Schweizer Herstellungskosten betragen das Zehnfache des Verkaufspreises. Doch Angst macht weiter, immer auch die Menschen im Blick, die auf sein Fleisch warten. Die Behörden erheben einen Einfuhrzoll von 60 Prozent, auch das kann Angst nicht stoppen. Die Lösung: nicht exportieren, sondern vor Ort selbst produzieren. In einem alten Dorfschlachthaus richtet er eine kleine Produktion ein, ausgestattet mit Occasionsmaschinen und einer Investition von 100 000 Franken. Die Produktionskapazität betrug rund 400 Kilogramm pro Tag. «Die grösste Herausforderung war die Beschaffung des Rohmaterials, selbst Putzlappen oder Seife mussten wir aus der Schweiz mitbringen», erzählt der Unternehmer. Angst ist nun regelmässig in Rumänien und staunt: «Ein Haufen Leute wartete schon morgens früh vor der Tür auf die Öffnung des Geschäftes.»
In dem Moment, sagt Angst, sei ihm zum ersten Mal ernsthaft der Gedanke gekommen, dass man hier nicht nur helfen könne, sondern tatsächlich ein Geschäft machen könne. «Das ist ja keine Schande, aber anständig muss es sein.» Auf der Suche nach einer passenden Lokalität für den Ausbau seines Geschäftes stösst er auf einen grossen Betrieb in Bukarest, Wert heute rund 200 Millionen Euro. 1300 Mitarbeiter produzieren rund sechs bis sieben Tonnen Fleischwaren. Nach Angsts Kalkulation könnte man mit 200 Mitarbeitern die dreifache Menge produzieren. «1000 Leute auf die Strasse setzen, fand ich aber nicht einen so guten Start», erinnert sich Angst. Deshalb verwirft der Unternehmer die Betriebsübernahme. Im Rahmen eines Versteigerungsverfahrens erwirbt Angst schliesslich eine Bauruine in Buftea, rund 20 Kilometer nordwestlich der rumänischen Hauptstadt Bukarest.
Das Unternehmen
Während des 2. Weltkrieges bauten Urs Angsts Eltern ihre Metzgerei an der Lehenstrasse in Zürich auf, später zogen sie in die Rosengartenstrasse. In den Fünfzigerjahren erfolgten die ersten Grosslieferungen an die Migros. Als Angst mit seinem Bruder 1970 die Unternehmensleitung übernahm, wurden 90 Prozent des Umsatzes mit der Migros erreicht. Um die Abhängigkeit von nur einem Kunden zu reduzieren, bauten die Brüder den Gastro- und Cateringbereich aus. Seit 1987 hat die Firma Angst ihr Domizil im Alten Schlachthof, einem 100 Jahre alten Backsteingebäude, gegenüber dem Zürcher Letzigrund-Stadion. Hier konzentriert sich die gesamte Produktion. Das Unternehmen beliefert täglich mehr als 600 Gastronomiebetriebe, Metzgereien und Detaillisten im Grossraum Zürich. Das Sortiment erstreckt sich von Frischfleisch in allen Konfektionierungsstufen bis zu Tiefkühlpositionen von Fleisch, Fisch und Geflügel, über 100 Sorten von Wurstwaren und zusätzlich einer breiten Palette an Convenience-Artikeln und Fertigmenüs. Ein Cateringteam organisiert Verpflegungen von 100 bis zu 10000 Personen. Angst lässt im Lohnauftrag schlachten, pro Woche rund 1000 Schweine, 200 Kälber und 100 Rinder.
Mit seinem Bruder hat Angst sich zu der Zeit inzwischen völlig zerstritten, das Rumänienprojekt bringt das Fass zum Überlaufen. 1992 tritt Angst aus der eigenen Schweizer Firma aus, gründet ein Unternehmen in Rumänien und hofft, von der vom Parlament just verabschiedeten Osthilfe in Höhe von 800 Millionen Franken profitieren zu können. «Ich war überzeugt, davon eine Kleinigkeit abzubekommen, denn: Gibt es ein besseres Projekt, als inländisches Rohmaterial mit inländischen Arbeitskräften zu dringend benötigten Lebensmitteln zu verarbeiten?»
Eine internationale Entwicklungsbank offeriert Angst einen Kredit zu neun Prozent. Den lehnt er ab und verfolgt lieber seine ganz eigene Art der Osterweiterung. Er kratzt all seine Ersparnisse zusammen und finanziert Kauf und Umbau der Liegenschaft ohne Fremdbeteiligung. Die Erfahrung in der Schweiz hatte Angst gezeigt, dass man ohne eine eigene starke Marke als Hersteller sehr schnell von Grossverteilern abhängig werden kann. Das soll ihm in Rumänien nicht passieren. Deshalb plant er dort, zügig eigene Verkaufsstellen einzurichten.
Er besucht einen Managerkurs, formuliert strategische Grundsätze und ein Leitbild. «Das war aber eigentlich nur Blabla. Ich bin kein grosser Fan von Managerschlagwörtern wie Visionen, die stets gesucht, aber selten vorhanden sind. Oder einem Leitbild, das stets wohl formuliert und in Hochglanz gedruckt, aber dem kaum nachgelebt wird.» Seine einzige Vision im Leben, die von Bora Bora, habe ihn auch nicht weitergebracht, so Angst. Er rät Managern, eher dazu zu stehen, keine Visionen zu haben, und keine Zeit zu vertrödeln im Formulieren von Leitbildern, Strategien.
Vielmehr sich konzentrieren auf das, worauf es ankommt: die Bedürfnisse der Kunden frühzeitig erkennen und rechtzeitig erfüllen. «Ein Ebit von 1,25 Millionen ist für mich keine Zielsetzung, aber zufriedene Kunden und Mitarbeiter, darauf kommt es langfristig an.» Für und mit seinen Mitarbeitern kämpft Angst in seinem Betrieb gegen Unpünktlichkeit und Diebstahl. Die Belegschaft lernt neue Qualitäts- und Hygienestandards kennen. 1993 verunglückt der Bruder bei einem Autounfall tödlich, und Angst übernimmt wieder die Unternehmensleitung in der Schweiz, bleibt aber weiter in Rumänien aktiv. 1995 ist sein erster Verkaufsladen bezugsfertig, 1997 erwirbt er zusätzlich eine Salamifabrik in den Südkarpaten. Auf Bestechungen habe er sich nie eingelassen, sagt er.
Jeder Franken Gewinn wird in Rumänien reinvestiert
Am Schreibtisch in seinem Büro sitzt Angst mitten im Produktionsbereich. Hier ist nichts cheflike oder gar luxuriös. Die Wände schmücken vor allem Fotos seiner drei Söhne. Jeder Besucher merkt schnell, welchen Stellenwert sie in Angsts Leben haben. Um sein Büro herum erstrecken sich die Produktionsräume, in denen täglich 30 Tonnen Fleisch verarbeitet werden. Immer wieder kommt eine Mitarbeiterin herein, braucht ein paar Unterschriften. Angst unterbricht sich selbst während des Interviews und erledigt schnell einige Telefonate, die nicht warten können. Auch gar nicht managermässig sein Outfit, saloppe Hose und Sweatshirt mit Firmen emblem und weisse Gummischuhe, die sich beim Rundgang durch die Produktion bewähren.
5500 Metzger arbeiteten in den Achtzigerjahren in der Schweiz. Heute sind es noch rund 1200. Rumänien wurde zum 1. Januar 2007 Vollmitglied der EU und ist ein aufstrebendes Land, das immer mehr Investoren anzieht. Angst betreibt dort heute drei Produktionsanlagen in Buftea, Sinaia (Karpaten) und Klausenburg (Siebenbürgen) sowie 32 Supermärkte und erzielt einen Jahresumsatz von zirka 90 Millionen Franken. Rund 1000 Menschen arbeiten für das Unternehmen. Den Profit reinvestiert Angst seit 20 Jahren ausschliesslich in sein Rumäniengeschäft. «Ein analytisch denkender Manager käme wahrscheinlich zum Schluss, dass sich das Ganze nicht wirklich gelohnt hat.» Doch Angst ist überzeugt: «Es wäre ein Verbrechen gewesen, Geld aus einem Land zu nehmen, wo die Menschen wirklich an Entbehrung leiden.» Geld, so Angst, sei für viele Menschen die einzige Messgrösse im Leben. «Für mich war die Pionierzeit in Rumänien, der Aufbau mit den Menschen dort, die schönste Zeit in meinem Leben.»
Vor vier Jahren investierte Angst in Vietnam, dort beschäftigt er jetzt 100 Mitarbeiter. In Zukunft will er weniger arbeiten. So recht glauben kann man ihm das nicht.
Urs Angst
wurde 1946 in Zürich geboren. Er besuchte die Primar- und Sekundarschule in Zürich, anschliessend absolvierte er die Handelsschule. Das Geschäft lernte er von der Pike auf bereits in der Metzgerei seiner Eltern. Einen grossen Teil seiner Freizeit verbringt Angst seit Jugendtagen auf dem Pferd. Als Junior wurde er zwei Mal Schweizer Meister. Mit seinen Pferden Garimpeiro und Mr. Blaze nimmt der passionierte Springreiter auch heute noch regelmässig an internationalen Wettkämpfen teil. Urs Angst ist verheiratet und hat drei Söhne im Alter von 24, 20 und 18 Jahren.