«Ich helfe den Kids, aber ich bin keine Psychologin mit einem Helfersyndrom»
Sie findet theoretische Physik hochphilosophisch, besiegte eine tödliche Krebskrankheit und ist nicht nur die erste weltliche, sondern auch die erste weibliche Rektorin der Klosterschule Disentis. Als solche lehrt Geneviève Appenzeller-Combe ihren Schülern nicht nur den Pflichtstoff, sondern fordert sie auf, ihre Leben eigenverantwortlich zu gestalten.
Geneviève Appenzeller-Combe: «Je näher und länger wir an den Kids dran sind, umso besser können wir eine Beziehung aufbauen. Und Erziehung ist nur über Beziehung möglich.» (Foto: Sabine Schritt)
Es ist kurz nach Mittag und sie kommt gerade aus dem Speisesaal. Jeden Tag um 12.15 Uhr treffen sich alle Schüler und einige Lehrer der Klosterschule Disentis zur gemeinsamen Mahlzeit. Mit strenger Platzordnung, Externe links, Interne rechts. «So können wir gleich sehen, wenn jemand fehlt», sagt Geneviève Appenzeller-Combe. Die Mahlzeiten gehören also zum Pflichtprogramm. Hier gibt es kein Buffet, wie in anderen Mensen, sondern ein Tagesmenü und es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. Es gibt auch nur zwei Angestellte. Die Schüler der Oberstufe bedienen, die Schüler der Unterstufe räumen ab und spülen das Geschirr.
Die Eltern wollen für ihre Kinder keinen Rummel à la St. Moritz
Ihr Lachen ist gewinnend, ihre Herzlichkeit umwerfend. Appenzeller-Combe leitet seit Januar 2009 die Klosterschule Disentis. Bisher standen stets Mönche der Klosterschule vor – noch niemals ein Weltlicher. Dass sie auch noch als erste Frau an der Spitze eine neue Ära der Klosterschule einläutet, ist eine grosse Herausforderung. Für sie selbst, aber auch für die Mönche. Es gilt, alte Traditionen zu pflegen und mit den heutigen Ansprüchen an eine moderne Schule in Einklang zu bringen. «Es scheint mir, dass es gut ineinander greift», sagt die Rektorin, ein ganz leichter Akzent schwingt mit.
Sie wuchs französischsprachig im Wallis auf. Für die Position bringt die 48-Jährige Erfahrung sowohl aus ihrer Arbeit an einer staatlichen sowie aus einer privaten Reformschule mit. Sie kennt den Spagat, den eine Privatschule machen muss zwischen finanzieller Verantwortung und staatlichen Rahmenbedingungen, sehr gut. Derzeit absolviert sie berufsbegleitend ein Managementstudium in St. Gallen. So scheint es, war sie die ideale Besetzung, und die Mönche mussten sich nicht entscheiden zwischen einem Lehrer und einem Kandidaten aus der Wirtschaft.
Mit 20 ging Appenzeller-Combe zum Physikstudium nach Zürich. Dort lernte sie auch ihren Mann kennen, einen Mathematikstudenten. Nach dem Studium arbeitete sie zwei Jahre als Assistentin und Tutorin und entdeckte dabei ihre Leidenschaft, Wissen weiterzugeben. Die Konsequenz: Das Diplom für das höhere Lehramt. Im Grunde aber gehört ihre Liebe der Philosophie. Warum sie dann nicht Philosophie studiert hat? «Theoretische Physik ist auch hochphilosophisch», lacht sie. Mit Appenzeller-Combe als Schulleiterin demonstriert die Klosterschule ganz klar ihren Willen, für die Anforderungen einer neuen Zeit offen zu sein. In Ihrer Präsentation während des Einstellungsprozesses machte die Kandidatin dem Wahlgremium dann auch keine Illusionen, was ihre Pläne für die Schule anging. «Wir müssen unsere Schwäche zur Stärke ausbauen», ist für sie klar.
Die Schwäche ist in dem Fall die weite Entfernung von den Ballungsgebieten, was aber wiederum eine grosse Stärke bedeuten kann. «Das wollen unsere Eltern. Sie wollen keinen Rummel, kein St. Moritz für ihre Kinder, sondern möglichst wenig Ablenkung und viel Natur.» Sie möchte die Klosterschule Disentis als Sprachzentrum ausbauen, auch weil ihr eine multikulturelle Ausrichtung sehr am Herzen liegt. «Wir haben fünf Sprachen am Gymnasium, inklusive Romanisch.» Im August startet der erste Deutschkurs für Fremdsprachige.
Mittelfristig möchte die Rektorin auch Chinesisch anbieten. Sie selbst spricht drei Landessprachen sowie Englisch. Natürlich lernt sie nun auch Romanisch. «Wir haben noch eine sehr starke regionale Verankerung. Zu uns kommen 80 Prozent Bündner. «Das wird sich sehr bald ändern, denn die Geburtenrate ist hier massiv gesunken: minus 42 Prozent in den letzten 10 Jahren, nochmals minus 30 Prozent in den nächsten 10 Jahren.» So soll ein aktuelles Projekt motivierte Tessiner Jugendliche ansprechen.
Die geografische Abgeschiedenheit und die Ruhe, auf die die Schulleiterin setzt, sind nicht unbedingt das, was sich Jugendliche wünschen. Dessen ist sie sich wohl bewusst. «Ich nehme nur Jugendliche auf, die das auch wirklich wollen, die sich reiben wollen an den Extremen zwischen modernem Leben und der Welt des Klosters. Das ist für sie eine grosse Chance.» Die Jugendlichen würden im Kloster mit einem Verzicht konfrontiert, einem Verzicht auf all das, was in ihrem Alter attraktiv ist: «Kein Lohn, kein Auto, keine Familie, kein Sex, keine Selbstbestimmung – das versteht ein Jugendlicher überhaupt nicht. Sie halten das für verrückt. Das ist eine Provokation. Dann reden sie mit dem Mönch und merken, der ist ja gar nicht bekloppt! Jugendliche, die die Sehnsucht in sich spüren nach mehr als nur dem normalen Alltag, die werden hier bei uns glücklich.»
Von den Ärzten abgeschrieben, überlebte sie eine tödliche Krankheit
Das Benediktinerkloster liegt auf einer Anhöhe im 2300-Seelen-Dorf Disentis und prägt das Ortsbild. Ihm verdankt die Bündner Gemeinde ihren rätoromanischen Namen – «Mustér», der sich aus dem lateinischen Wort für Kloster «monasterium» ableitet. Das Kloster wurde um das Jahr 700 gegründet, 1881 entstand das Gymnasium. Seit 1972 werden auch Mädchen aufgenommen. Mittlerweile unterrichten 15 Prozent Mönche und 85 Prozent weltliche Lehrpersonen rund 200 Schülerinnen und Schüler. Etwa ein Drittel davon lebt im Internat.
Die Welle der Missbrauchsvorwürfe in kirchlichen Einrichtungen, die seit Wochen die Öffentlichkeit erschüttern, hat auch die Klosterschule Disentis erreicht. «Mir sind offene Kommunikation und Fachkompetenz wichtig.» Seit einem Jahr, also schon bevor die Thematik hochkam, kommt eine erfahrene Psychologin einen Tag pro Woche in die Schule. «Sie wird von Schülerinnen und Schülern als neutrale Ansprechperson bei allen möglichen Schwierigkeiten geschätzt», sagt Appenzeller-Combe. Im April wird sie eine Informationsveranstaltung für die ganze Schülerschaft zum Thema Übergriffe gestalten (Was ist ein Übergriff? Was kann ich tun?). «So sind wir gut vorbereitet, falls auch mal bei uns ein Übergriff durch eine Lehrperson Thema wäre.»
Mit Begeisterung und Stolz zeigt mir Appenzeller-Combe ihre Schule, ich spüre, wie ihr Herz für das Wohl der Schüler schlägt. Die Schüler, die uns unterwegs begegnen, grüssen freundlich und aufgeschlossen. Bereitwillig lassen sie uns einen Blick in die Schlafräume werfen und im Aufenthaltsraum sieht man an den Laptops und Musikanlagen, dass die Welt hier nicht draussen bleibt. Die Jungen wohnen im Hauptgebäude, die Mädchen bewohnen ein separates Haus unterhalb des Klosters. Die Unterrichtsräume sind teilweise mit neuester Technik ausgestattet, daneben finden sich auch ganz schlichte Räume ohne technischen Firlefanz, die Stühle im Halbkreis angeordnet, ohne klobige und trennende Tischreihen dazwischen. «Hier bei Pater Urban finden die lebhaftesten Diskussionen statt», so Appenzeller-Combe.
Das Herzstück, die Klosterkirche, ist durchflutet von warmen Sonnenstrahlen, die die sieben prächtigen Altäre aus den Jahren 1572 bis 1735 zum Leuchten bringen. Auch für Appenzeller-Combe ist dies ein Ort der Kraft und Ruhe. Hierhin zieht sie sich oft zurück. «Mein Lieblingsplatz.» Sie stammt aus einem sehr religiösen Elternhaus, wurde römisch-katholisch erzogen. Ihre Familie hat ihr aber gewisse Freiheiten gelassen. «Es war für sie okay, wenn auch sicher schwer, dass ich mit 17 nicht mehr mit ihnen in den Gottesdienst ging, sondern alleine in eine andere Pfarrei, wo der Pfarrer meinem damaligen Bedürfnis mehr entsprach», erinnert sie sich. «Vielleicht hat genau das dazu beigetragen, dass ich mich als Jugendliche nicht von der Kirche entfernt, sondern in der kirchlichen Jugendarbeit engagiert habe.»
Dann erfuhr ihre Spiritualität eine intensive Wendung. Sie war 33, als sie an Lymphdrüsenkrebs erkrankte. Der Tumor zwischen Herz und Lunge war 24 Zentimeter gross, inoperabel. Sie rang nach Luft. Die Ärzte gaben ihr noch drei Wochen. «Das Schlimmste ist, wenn die Ärzte sagen: Wir können nichts mehr für Sie tun. Es war wie die letzte Ölung», erinnert sie sich. «Ende, aus, fertig.» Sie kämpfte dafür, dass sie doch noch eine Chemotherapie bekam. Sie mobilisierte alle Kräfte und stellte sich vor, wie in ihr nun «energetisch alles in Ordnung kommt und das Immunsystem den Tumor frisst», erzählt sie, und wenn sie darüber spricht, so ruhig und mit starrem Blick, kann man nur erahnen, welches Leid eine solche Diagnose mit sich bringt.
Sie will mehr als nur den blossen Unterrichtsstoff beibringen
Heute gilt sie als geheilt. Der Tumor ist verschwunden, auch die Metastasen in der Lunge: «Alles weg», sagt sie. «Es ist ein Wunder.» Gewiss ist: Ohne diese Erfahrung wäre sie heute nicht der Mensch, der sie ist. Die Krankheit habe ihr unglaubliche Gelassenheit gegeben und bedingungsloses Gottvertrauen. Heute ist Appenzeller-Combe überzeugt, dass alles, was kommt, irgendeinen Sinn hat. Und: «Es gibt Sachen, die wirklich wichtig sind, und andere, die sind eben nicht so wichtig.»
Auch im Schulalltag schlägt sich diese Haltung nieder. Selten regt sie sich über Kleinigkeiten auf. Sie sagt ihren Schülern: «Erkennt eure Chancen und gestaltet euer Leben.» Plötzlich platzt ein 15-Jähriger in unser Gespräch. Er ist sehr aufgewühlt. «In einer halben Stunde habe ich für dich Zeit», sagt die Rektorin, denn sie hat gleich erkannt: Er war den Tränen nahe. Immer wieder werde auch Mist gebaut oder würden Grenzen überschritten. «Wir muten den Jugendlichen zu, mit unseren Regeln umzugehen, und überlegen von Fall zu Fall: Wo können wir eine Ausnahme machen, wo müssen wir streng sein? Wenn der Jugendliche sein Unrecht einsieht und kooperiert, ist das für mich völlig in Ordnung. Wer jedoch uneinsichtig ist, dem kann ich hier auch nichts beibringen», sagt die zarte Frau mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldet. Und wenn sie das Gefühl hat, jemand will sie hintergehen, ist sie unerbittlich. «Ich helfe den Kids, wo ich kann, aber ich bin keine Psychologin mit Helfersyndrom.»
In der Schule, sagt Appenzeller, habe sie gelernt, dass man das Wichtige nicht in der Schule lernt. «Ich habe mich schrecklich gelangweilt, ausser im Philosophieunterricht.» Sie war eine gute Schülerin, hätte aber alles genauso gut aus Büchern lernen können. «Genossen habe ich nur die Stunden, in denen echte Persönlichkeiten unterrichtet haben.» Auch heute noch faszinieren sie Menschen mit Visionen. Menschen, die hohe Werte und hohe Ideale durchsetzen und auch vorleben wollen. «Was mich reizt, ist ein Umfeld mit Leuten, die mehr brauchen als nur normal.» Ein normales Unternehmen mit nur normalen Leuten, das wäre ihr langweilig. Und eine Schule ohne Internat wäre ihr auch zu wenig. «Je näher und länger wir an den Kids dran sind, umso besser können wir eine Beziehung aufbauen. Und Erziehung ist nur über Beziehung möglich.»
In ihren Augen sind Entschlossenheit und der eiserne Wille, den Schülern mehr beizubringen als nur blossen Unterrichtsstoff. Zum Beispiel dass sie darüber nachdenken, was sie zu den Menschen gemacht hat, die sie sind. «Die Schüler müssen lernen, welche Rolle ihre Kultur und ihre Konfession dabei spielen. Nur dann können sie verstehen, woher das aktuelle wissenschaftliche Denken kommt. Zum Beispiel warum die chinesische Medizin nie und nimmer in Europa hätte geboren werden können.»
Die Schulleiterin will die Ressourcen der Kinder sichtbar machen, indem sie diese am richtigen Ort einsetzt. Sie will den Jugendlichen die Chance geben, Verantwortung zu üben und Führungserfahrungen zu machen, zum Beispiel indem sie ein Studium beaufsichtigen, die Postgruppe leiten oder den Computerraum betreuen. Die Schüler sollen später nicht von ihren Schwächen überrascht werden oder sich gar nur von ihnen leiten lassen. Daher will die Schule jedem Einzelnen vermitteln, was er weniger ertragen kann, als andere, was ihn verwundbar macht und auf welche Stärken er dann zurückgreifen kann. «Ich habe nur Mühe damit, wenn jemand in die Opferrolle verfällt. Das gilt nicht nur für die Schüler, auch für die Angestellten», so Appenzeller-Combe. Es sei einfach ihre bejahende Grundhaltung, die es verbiete, Schüler zu erniedrigen, zu demütigen oder eine Klasse pauschal runterzumachen. «Das ist nicht benediktinisch.»
Lernen, wie man sich in einem Gottesdienst mit Anstand langweilt
Auch katholische Rituale gehören zum Schulalltag. «Unsere Kinder hier müssen nicht besonders fromm sein, aber ich erwarte, dass sie diese Möglichkeiten nutzen, um Erfahrungen zu sammeln.» Und es gehöre auch zur Erziehung, dass sie lernen, sich eine Stunde im Gottesdienst mit Anstand zu langweilen, und dass man das auch überlebt – «Später werden sie ja auch an unzähligen langweiligen Sitzungen teilnehmen müssen.»
Als Mutter einer 16-jährigen Tochter ist sie auch privat in puncto Erziehung gefordert und lernt immer wieder dazu. «Eltern müssen in sich ruhen», ist Appenzeller-Combe überzeugt. Sie dürfen ihre Kinder nicht brauchen, um glücklich zu sein. Das bringe eine gesunde Distanz: Ich bin nicht mein Kind. Umgekehrt hält sie es auch so. Vier Tage in der Woche wohnt sie in Disentis, in der Nähe des Klosters. «Ich vermisse meine Familie sehr, denn ich liebe sie unendlich, aber ich bin in mir selbst zuhause. Ich brauche keine äusserliche Heimat. Das macht so ein Leben möglich, ohne dass ich mich zerrissen fühle.»
Geneviève Appenzeller-Combe
ist Jahrgang 1962. Sie wuchs in Sitten im Wallis mit zwei Brüdern auf und wurde römisch-katholisch erzogen. 1988 schloss sie an der ETH Zürich ihr Physikstudium ab, heiratete einen Studienkollegen. Zwei Jahre war sie als Assistentin am Institut für Quantenelektronik tätig. Sie sattelte um und erlang das Diplom für das höhere Lehramt. Acht Jahre unterrichtete sie am kantonalen Gymnasium Rämibühl in Zürich und weitere acht Jahre an der privaten Reform- und Internatsschule Ecole d’Humanité in Hasliberg. Appenzeller-Combe spricht drei Landessprachen. Nach einem sechsmonatigen Sabbatical an der Universität Florenz trat sie im Januar 2009 ihre Funktion als Rektorin der Klosterschule Disentis an. Derzeit besucht sie einen berufsbegleitenden Managementlehrgang an der FH St. Gallen. Sie ist verheiratet und hat eine 16-jährige Tochter. Die Familie lebt in Islisberg, vier Tage die Woche wohnt Appenzeller-Combe in Disentis, unweit des Klosters.