Mehr Mut im Management: Muster brechen und Experimente wagen
In der Managementrhetorik betonen wir längst das Ende der stabilen und eindeutigen Welt. Unser tägliches faktisches Handeln in Organisationen steht jedoch meist in krassem Gegensatz dazu. Technokratisch geschult, versuchen wir, mit einer kausalen Logik immer neue Wege zur Beherrschung komplexer Systeme zu finden. «Mehr desselben» lautet das Reaktionsmuster im «täglichen Wahnsinn».
So wurde etwa in einem Finanzdienstleistungskonzern festgestellt, dass einige wenige Mitarbeitende im Aussendienst den im Rahmen von Dienstreisen angebotenen Wäscheservice missbrauchten, indem sie auch die Schmutzwäsche der Familie waschen liessen. Sofort reagierte das Management mit einem bürokratischen «Wäscheerlass». Die Verantwortlichen reflektierten nicht darüber, ob diese Regelung und deren Durchsetzung ganz neue, den ursprünglichen Schaden bei weitem übertreffende Kosten verursachen. Zudem ist die Energie zum «kreativen Systembetrug» unendlich gross, vor allem dann, wenn man ihn geradezu provoziert. Denn die Wenigen, die den Service schamlos missbrauchten, werden vermutlich nie zu disziplinieren sein, da sie stets Wege finden werden, den Erlass zu umgehen.
Perfektionieren des Bestehenden ist der falsche Weg
Der längst überwunden geglaubte tayloristische Mess- und Kontrollwahn schlägt nicht nur mit voller Wucht in der Wirtschaft zu, sondern inzwischen auch im Gesundheits- und Pflegesektor, in Kindergärten und in Schulen. Unsere mittlerweile siebenjährige Forschung hat gezeigt, dass ein «Mehr desselben» nicht nur den Aspekt der Kontrolle betrifft. Daneben gehören Steuern, Standardisieren, rationales Entscheiden, Beschleunigen, die Suche nach kurzfristigem Erfolg und die Rechtfertigung des eigenen Handelns durch bestehende Sachzwänge zu den immer noch dominanten Mustern im Führungs- und Managementalltag. Sie werden reflexhaft aus dem Hut gezaubert, sobald Führung gefordert ist. Diese Muster werden in Universitäten, Business Schools und unternehmensinternen Weiterbildungen (an)trainiert und muten in ihrer bestehenden Logik seltsam stabil an. Manchmal scheint es, dass sie in ihrem kulturellen Kern umso unverrückbarer sind, je mehr die oberflächliche Veränderungs- und Reformrhetorik um sich greift. Es sind die Selbstverständlichkeiten, die wir nicht mehr hinterfragen. Letztlich nehmen wir die Muster, in denen wir gefangen sind, einfach nicht (mehr) wahr – so skurril sie aus einer gewissen Distanz auch erscheinen mögen. Und genau diese Muster basieren wiederum auf Prämissen, deren kritische Reflexion dringend notwendig ist.
- Welches Bild haben wir von den Menschen in unseren Organisationen? Werden sie als unmündig betrachtet und müssen deshalb permanent kontrolliert, standardisiert und mit Anreizen «gefüttert» werden? Oder trauen wir ihnen Eigenverantwortung zu und gehen davon aus, dass sie ihre Arbeit motiviert und gewissenhaft ausführen und sich selbst kontrollieren können?
- Wie wird mit Komplexität umgegangen? Wird unter Einsatz des Managementinstrumentariums und der «glorreichen» Führungsmuster mit aller Macht versucht, das «Übel Komplexität» zu reduzieren? Oder werden Unschärfe und Vielfalt akzeptiert, vielleicht sogar gezielt gefördert?
- Welche Erwartungen werden an die Rolle einer Führungskraft gestellt? Herrscht das Bild von den mächtigen und umfassend informierten Entscheidern vor, die das Unternehmen – wie ein Kapitän – von der Brücke aus steuern und auf jede Frage die passende Antwort geben können (müssen)? Oder verbindet man Führung mit Beziehungsgestaltung und mit dem Stellen von Fragen, die das Unternehmen weiterbringen?
Es ist an der Zeit, über diese Prämissen nachzudenken und verstärkt an der Haltung von Führung und Management zu arbeiten. Schliesslich haben wir in unseren Organisationen zu lange einseitig auf die Perfektionierung des Bestehenden gesetzt. Führung erlangt erst dann eine neue Zukunfts- und Handlungsfähigkeit, wenn sie konsequent an den Rahmenbedingungen arbeitet – anstatt das Falsche noch perfekter tun zu wollen. Immer neue und präzisere Instrumente helfen nicht weiter, gefordert sind Experimente mit dem Unhinterfragten, mit einem Gegenentwurf zur Logik des «Mehr desselben».
Das Denken in der gewohnten Logik erscheint risikoloser
Nicht nur bei der Rekonstruktion unserer Erlebnisse mit über 40 Musterbrechern, sondern auch im Rahmen der beratenden Begleitung verschiedenster Organisationen haben wir erkannt, dass Experimente ein mächtiges Mittel sind, um am konkreten Musterbruch zu arbeiten. Sie unterscheiden sich vom klassischen Projektdenken fundamental, sind ergebnisoffen – und nicht dogmatisch vorstrukturiert. Sie entstehen im betroffenen System und zeigen dort ihre irritierende Wirkung. Es erfordert den Mut des Managements, sich auf einen Prozess mit unbekanntem Ende bewusst einzulassen und aus diesem zu lernen. Dieser Mut fehlt häufig, da das Denken in der gewohnten Projektlogik mit Kick-Offs und Meilensteinen nicht nur jahrelang trainiert wurde, sondern vor allem auch risikoloser erscheint. Wer als Führungskraft Best Practices nach allen Regeln der Projektkunst kopiert, muss keine Angst haben, dass er im Falle des Scheiterns zur Rechenschaft gezogen wird. So spielt es keine Rolle, wenn man feststellen muss, dass trotz wohlklingender, aber austauschbarer Projekt namen wie «Change 2012», «Fit for Future» oder «Leidenschaftsinitiative plus» Veränderungen nicht gelebt werden.
Selbstverantwortung, Transparenz und Abschaffung von Regelwerken
Einen anderen Weg beschreiten experimentelle Unternehmer:
- Andreas Glemser, Inhaber der 1998 von ihm gegründeten COCOMIN AG in Leinfelden-Echterdingen bei Stuttgart, startete 2005 mit seinen damals 50 Mitarbeitenden ein durchaus gewagtes Experiment. Er stellte ihr Vertrauen und ihre Selbstverantwortung radikal auf die Probe. Obwohl gut 90 Prozent der Akquise über ihn liefen und eine Reihe wichtiger Mandate anstanden, entschied er sich dazu, für vier Monate mit seiner Familie auf Weltreise zu gehen und während dieser Zeit nicht erreichbar zu sein. Viele sprechen von Selbstorganisation, hier wurde die Tragfähigkeit der Idee radikal erprobt. Mit der Folge, dass Glemser nach seiner Rückkehr arbeitslos war, nicht etwa, weil es sein Unternehmen nicht mehr gab, sondern weil seine Mitarbeitenden eigenständiger und erfolgreicher agierten als zuvor. Umsätze wurden gesteigert, neue Kunden gewonnen, innovative Produkte lanciert. Seitdem kann sich der Inhaber den wirklichen strategischen Fragen zuwenden, für die er vor seinem Experiment nie Zeit hatte.
- Der Cellist Julian Fifer gründete 1972 mit einigen befreundeten Musikern das Orpheus Chamber Orchestra. Das Experiment lautete: «Verzicht auf den Dirigenten». Wenn Sie so wollen, ging es um die Frage, ob ein Orchester eine Beethoven-Symphonie auch ohne eine zentrale Führungsfigur einstudieren und professionell aufführen kann. Das Experiment wurde zum Geschäftsmodell und das Orpheus Chamber Orchestra zur Stammbesetzung der Carnegie Hall. 2001 erhielt es den Grammy, spielte mittlerweile in 400 Konzertsälen weltweit und kann mit den wohl zufriedensten Musikern in der Orchesterszene aufwarten. Die Musiker erklären ihren Erfolg damit, dass sich jeder einbringen und somit «mitsteuern» kann. Schliesslich wird das Orchester vom Kollektiv gelenkt und kontrolliert.
- Im Schindlerhof in Nürnberg-Boxdorf, einem der meistausgezeichneten Tagungshotels in Deutschland, experimentierte der Inhaber, Klaus Kobjoll, mit Verletzbarkeit durch Transparenz. Er legte seinen Mitarbeitenden sämtliche Unternehmenszahlen offen, erklärte sogar den Lehrlingen zweimal jährlich die Bilanz. Seine Kontrolle erreicht er mittlerweile konsequent über Vertrauen, das sich in absoluter Offenheit äussert. Wenn ein Unternehmer seinen Mitarbeitenden gegenüber ein Höchstmass an Transparenz walten lässt, dann begibt er sich in eine Position, die ihn verletzlich macht. Natürlich wären die Mitarbeiter auf Grund der Offenheit in der Lage, die Informationen auch missbräuchlich zu nutzen. Doch genau das Zeigen einer «offenen Flanke» ist die Basis einer Vertrauensbeziehung. Und nur Mitarbeitende, die alles über das Unternehmen wissen, können auch Verantwortlich damit umgehen.
- Im knapp 140 000 Mitarbeiter zählenden amerikanischen Electronic Discounter «Best Buy» experimentiert man seit 2001 mit einer Idee, die inzwischen unter dem Etikett «Results-Only Work Environment» – kurz: ROWE – bekannt wurde. Vor dem Experiment hatte man trotz aller klassischer Motivationsversuche mit einer 65-prozentigen Personalfluktuation pro Jahr zu kämpfen. Deshalb startete eine kleine Gruppe von Managern den Versuch, ohne die typischen Motivierungstools die Arbeitszufriedenheit zu steigern: Man schaffte alles ab, was die Entstehung von Selbstmotivation verhinderte. Seitdem macht man sich in der Konzernzentrale vergeblich auf die Suche nach jeglichem Regelwerk, das die Koordination und die Zusammenarbeit von Mitarbeitenden sicherstellen soll. Es spielt bei Best Buy keine Rolle, wann jemand seine Aufgaben erledigt und an welchem Ort er das tut. Selbst die Teilnahme an Sitzungen steht ihm frei. Das Einzige, was kontrolliert wird, ist das Ergebnis. Der Erfolg dieses Versuchs ist überwältigend: eine um 35 Prozent gestiegene Produktivität und ein Rückgang der Rate freiwilliger Kündigungen um bis zu 90 Prozent.
Auch abgebrochene Experimente sind lehrreich
Dass Experimente auch zeigen können, wozu eine Organisation noch nicht reif ist, das illustriert folgendes Beispiel:
Robert Keller, promovierter Zoologe und ehemaliger Leiter des Fachbereichs Tiergartenbiologie an der Universität Zürich, wechselte vor Jahren ins Management eines Warenhauses. Inspiriert durch Beobachtungen der Mantelpaviane, bei denen alle Entscheidungen, trotz strenger hierarchischer Rangordnung, von dem gesamten Kollektiv getroffen werden, experimentierte er mit «öffentlichen Sitzungen». Mitarbeitende konnten den Besprechungen der oberen Führungskräfte wie in einem Boxring zusehen. Vorgesetzte, die in ihren Teams diese Art von Sitzung zuliessen, gewannen deutlich an Akzeptanz. Es funktionierte auf den ersten Blick also sehr gut. Dass er dennoch den Versuch abbrechen musste, lag daran, dass die jeweils untergeordnete Führungsebene durch die Öffentlichkeit aller Entscheidungen ihre eigene Autorität untergraben sah und dem Druck nicht standhielt. Nicht jede Organisation verträgt also jede Art des Experiments. In diesem Fall gab Transparenz Rollenspiele(r)n keine Chance. Es liegt in der Natur der Sache, dass Experimente auch scheitern können. Dennoch sind auch abgebrochene Experimente äusserst wertvoll. Neben einem enormen Erkenntnisgewinn werden Impulse für neue gezielte Experimente geliefert – im Beispiel von Herrn Keller könnten diese das Selbstbewusstsein und das Selbstverständnis der zweiten Führungsebene zum Thema haben.
Führungskräfte profilieren sich durch Fragen, nicht durch Antworten
Experimente sind nicht mit fahrlässigem Herumprobieren gleichzusetzen. Sie erfordern zwar Mut, haben aber mit russischem Roulette nichts zu tun, da sie zunächst nur in einzelnen «Keimzellen» beginnen. Wenn man sich auf Experimente einlässt, können sich Systeme radikal verändern. Es werden Energien freigesetzt, die Organisationen lebenswerter und erfolgreicher machen. Dazu erforderlich sind Führungskräfte, die ihre Rolle als «Ermöglicher» und nicht als «omnikompetente Silberrücken» verstehen. Sie profilieren sich weniger durch Antworten, sondern vielmehr durch eine andere Art von Fragen, die eine Reflexion über die dominanten Führungsmuster – entgegen dem klassischen Reflex – ermöglichen:
- Wie viel richtungsloser wird der Kurs der Organisation durch gezielte Steuerung?
- Wie sehr gleiten uns die Dinge durch ständige Kontrolle aus der Hand?
- Wie viele neue Sonderfälle werden durch Standardisierung hervorgebracht?
- Welche lähmenden Gefühlsausbrüche erzwingt Rationalisierung?
- Wie viel Zukunft verlieren wir Tag für Tag durch das Streben nach kurzfristigem Erfolg?
- Wie behäbig werden unsere Organisationen, indem wir sie zu beschleunigen versuchen?
- Warum steigt fortwährend der Rechtfertigungsdruck, obwohl wir allen Sachzwängen gerecht werden?