Raus aus der Komfortzone, ran an die Kuh

Michael Utecht verbrachte zehn Sommer als Älpler in den Schweizer Bergen und produzierte Käse. Dabei entwickelte er eine neue Form von Outdoor Coaching für Führungskräfte.

Es ist schon fast kitschig: Unterhalb der verschneiten Felsformationen erstrecken sich Meere von Blumen und Gräsern. Dazwischen, wie mit einem Pinsel hingetupft, ein paar Berghütten und in einer dieser Hütten steht Michael Utecht. Es ist noch früh am Morgen, aber der Milchkessel vor ihm ist bereits bis zum Rand gefüllt. Um halb fünf ist Utecht aufgestanden, hat 20 Kühe in den Stall getrieben und gemolken. Jetzt nimmt der Älpler ein Baumwolltuch und tunkt die Arme tief in den Kessel, hinein in die exakt 50 Grad heisse Flüssigkeit, und schon hängt ein schwerer Klumpen im Tuch. Das wird der erste Käse von heute, ein zweiter und dritter werden folgen.

Heute stehen fünf Männer mit Utecht um den Kessel. Es sind leitende Bauingenieure eines deutschen Konzerns. Zwecks Teambildung sind sie in die Schweizer Berge gekommen. Denn das ist – neben der Käseherstellung über dem offenen Feuer – Utechts Spezialität: Der erfahrene Coach bringt Führungskräfte in Situationen, in denen sie noch nie waren. Eben: mitten hinein in eine traditionelle Alpwirtschaft. Gemeinsam übernachten die Gäste in einfachen Schlafstuben, stehen früh auf, müssen vor Tagesanbruch schon körperlich arbeiten. «Was wir hier machen, ist nicht vergleichbar mit einem Coaching in einer Hotelanlage», resümiert einer der Ingenieure. «Wir bemalen keine Flipcharts, sondern sind vollkommen ausserhalb unserer Komfortzone unterwegs.»

Sinnstiftend und nachhaltig

Drei Tage lang sind die Grossstädter Teil des Alpbetriebs. Sie misten die Ställe aus und machen unter Anleitung Käse – bei jedem Wetter und zu ungewohnten Tageszeiten. Den meisten gefällt das raue Leben gut. Ein Manager aus Köln, der kürzlich zum Einzelcoaching in die Berge kam, hat bei seiner Abreise gesagt: «Die Natur lehrt, die Relationen wieder zu sehen und sich selbst nicht so wichtig zu nehmen.» Der Mann war gekommen, um mit Utecht seinen beruflichen Standort zu bestimmen und über Veränderungsoptionen nachzudenken. Er ging mit Muskelkater (vom Wandern und Kühe treiben) sowie einem frischen, klaren Blick auf seine Karriere.

Utecht vertraut schon lange auf die besondere Wirkung von Outdoor Coachings und Teambildung. Beides hat er auf der Alp, wo er selbst etliche Sommer verbracht hat, neu definiert. «Es geht nicht darum, dass die Teams gemeinsam ein Floss bauen, das hinterher demontiert und dann verbrannt wird», sagt er. In seinen Seminaren übernehmen die Kleingruppen – in der Regel sechs bis sieben Personen – echte Verantwortung: für die Tiere, für die Umwelt, für einen realen Betrieb. «Ein nachhaltiges und sinnstiftendes Erlebnis das verbindet.»

So bietet er beispielsweise auch auf der nordfriesischen Insel Sylt mehrtägige Aufenthalte an. Thema hier: Austernzucht. Diese ist aufwändig: Die empfindlichen Schalentiere müssen regelmässig von Algen befreit sowie gewendet und geschüttelt werden. Dabei müssen die Teams sich nach den Gezeiten richten. Ähnlich wie auf der Alp gibt die Natur den Rhythmus vor.

Auch der Naturschutz spielt eine zentrale Rolle. Die Teams übernehmen für einen Tag ein sogenanntes Spülsaum-Monitoring, das heisst, sie sammeln und analysieren den Müll, den das Meer unentwegt an den Strand spült. Denn nur bei bester Wasserqualität können die Austern gedeihen.

Veränderte Denkstrukturen

Die praktischen Tätigkeiten werden durch Theorie untermauert. «Am Anfang steht ein Team-Check-up», erklärt Utecht. Es gehe darum, die Stärken der jeweiligen Gruppe herauszufinden und diese gezielt auszubauen. Utecht lässt die Reflexionen immer wieder in den Tagesablauf einfliessen. Dazu nutzt er unter anderem anonymisierte Fragebögen sowie Methodenbausteine von INSIGHTS MDI®. Für das ganzheitliche Diagnostikinstrument zur Talenterkennung und Potenzialentwicklung ist Utecht zertifiziert. Dass seine theoretischen Interventionen durch die ungewohnten Handgriffe in freier Natur auf besonders fruchtbaren Boden stossen, davon ist er überzeugt: «Ein neues Umfeld fördert neue Denkstrukturen. Dadurch kommt man gemeinsam schneller ans Ziel.» Nur wenn sich die Teams rasch organisieren, effizient kommunizieren und eng zusammenarbeiten, können sie die Herausforderungen meistern. «In der ungewohnten Umgebung tritt vieles, was im Arbeitsalltag unterschwellig mitschwingt, deutlicher zu Tage und lässt sich dann leichter auflösen.»

Weil sein Angebot in den Schweizer Bergen in den letzten Jahren stark gefragt war, viele Gruppen aber für einen zweiten Besuch gerne etwas anderes ausprobieren wollten, sind Konzepte für die weiteren Orte entstanden. Nebst der Austernzucht ist aktiver Dünenschutz auf der Insel Borkum eines davon. «Durch den Klimawandel ändert sich die Vegetation und die Dünen drohen zu verbuschen», sagt Utecht. Dem wirken die Teams entgegen. Parallel dazu gibt es erste Unterrichtsstunden im Strandsegeln.

Auf einem Bauernhof nicht weit vom deutschen Wiesbaden steht ebenfalls der Umgang mit Tieren im Vordergrund. Auf dem «Falkenhof» des ehemaligen Sternekochs Franz Keller leben Rinder, Gänse, Hühner und Schweine. In der Hofküche kommen nur gesunde Produkte jenseits der industriellen Massenware zum Einsatz. Für die Teams, die auf dem Falkenhof übernachten, steht neben einem Kochkurs samt Galadinner auch ein pferdegestütztes Coaching auf dem Programm. «Das Pferd wird dabei ohne Zaumzeug, nur mit Sprache und Körpersprache dirigiert», erklärt Utecht. Eine Übung, die vor allem auf Führungskräfte zugeschnitten ist, denn mithilfe der sensiblen Pferde wird das kommunikative Feingefühl trainiert.

Für Utecht stehen insbesondere die zwischenmenschlichen Aspekte im Vordergrund. Nach den intensiven Tagen am Strand, im Stall oder in den Bergen könne sich die Gruppe deutlich besser einschätzen. Das helfe nicht nur, die Effizienz zu steigern, sondern erhöhe auch die individuelle Motivation. «Das Vertrauen untereinander wird gefördert, die Stärken des Einzelnen können besser zutage treten.» Die Bauingenieure bestätigen das. Beim wohlverdienten Alp-Frühstück nach der morgendlichen Käseproduktion fasst es einer der Manager so zusammen: «Man bekommt hier oben ein ganz anderes Gefühl für die Kollegen, sogar für ihre Gestik und Mimik und die Zwischentöne in den Gesprächen. Diese wenigen Tage haben uns als Team wirklich einen riesigen Schritt vorangebracht.»

Michael Utecht

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Michael Utecht war vor seiner Selbstständigkeit für Global Player wie SAP und Compaq in der Unternehmenskommunikation tätig. Heute ist er Dozent an der Universität St. Gallen sowie an der Universität der Künste in Berlin.

Als Kommunikationstrainer und Outdoor Coach unterstützt er seit vielen Jahren Führungskräfte des höheren und mittleren Managements bei ihren Auftritten und ihrer Kommunikation. Seine Seminare bietet er nebst der Schweiz auch auf Sylt, Borkum und im Wispertal an. Alle Teambildung- und Coaching-Angebote finden Sie auf www.3grat.com.

 

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Astrid Herbold ist freie Journalistin aus Berlin. Ihre Texte erscheinen unter anderem in Der Tagesspiegel, Zeit Online und Die Zeit.

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