HR Today Nr. 6/2019: Praxis – Selbstoptimierung 2

Höher, schneller, weiter

Unsere Zukunft soll immer automatisierter werden. Und automatisierter bedeutet dabei immer auch weniger anstrengend, weniger teuer und weniger fehleranfällig. Doch wären wir in einer 
solchen Zukunft glücklicher?

In QualityLand ist alles optimiert. Genau genommen sogar am optimiertesten, denn alles andere als ein Superlativ ist in QualityLand verboten. In seinem Roman beschreibt Marc-Uwe Kling eine Welt, in der Algorithmen unsere Bedürfnisse besser und früher erkennen als wir selbst. Werden nicht bestellte Produkte per Drohne angeliefert, können sie nicht mehr zurückgegeben werden. Denn das hiesse, dass wir uns besser kennen als der allwissende «TheShop»-Algorithmus.¹ In QualityLand wissen selbstfahrende Autos, wann wir wohin möchten. Lästige Beziehungsprobleme sind ebenfalls ein Ärgernis der Vergangenheit: Verheirateten werden bessere Partnerinnen respektive Partner vorgeschlagen und die dadurch obsolet gewordenen alten Beziehungen werden automatisch beendet. Die gesellschaftliche Bedeutung eines Menschen reflektiert sich in dieser Welt in seiner Bewertung, die zwischen 1 bis 100 liegt. Dazu passend kreiert ein Algorithmus individuelle Realitäten. Social-Media-Profile haben dabei auch jene, die gar keinen Account eröffnet haben, wobei diese Profile über einen Chatbot bewirtschaftet werden. Selbstverständlich automatisiert! Die besten Aussichten, um Präsident zu werden, hat ein Mitglied der Fortschrittspartei und Android, der alle Fakten kennt und dadurch optimal, ähhh, am optimalsten entscheidet.

Streben nach Optimierung

Dieses satirisch-literarische Zukunftsszenario beschreibt eine automatisierte und glücksmaximierte Welt, in der es keine grossen Unsicherheiten und Entscheidungsprobleme gibt. Aber auch keine Freiheiten. In vielem erinnert der Roman an die landauf-, landab an Digitalisierungsmeetings, Zukunftskonferenzen und auf sozialen Medien geführten Diskussionen. Trotz ihres fiktiven Charakters überraschen die im Roman beschriebenen Szenarien nicht und die vom ETH-Professor Dirk Helbing in «Machine Intelligence: Blessing or Curse? It Depends on Us!»² skizzierten «realen» Zukunftsaussichten lesen sich stellenweise verblüffend ähnlich.

Die Ursprünge des menschlichen Wunsches nach Selbstoptimierung lassen sich in der Motivationstheorie des US-amerikanischen Sozialpsychologen David McClelland³ erkennen. Dieser ging davon aus, dass wir neben der Affiliation («Zugehörigkeit zur Gruppe»), vor allem Macht («besser als andere») und Leistung («besser als wir selbst») anstreben. Auch in den vom Psychotherapeuten Klaus Grawe beschriebenen vier Grundbedürfnissen⁴ können wir in der Suche nach Lust und der Minimierung von Unlust sowie dem Wunsch nach Kontrolle und Orientierung Hinweise auf das menschliche Streben nach Optimierung erkennen. Sogar die Neurowissenschaften und deren Fachkoryphäe Karl Friston propagieren mit dem free-energy principle⁵, dass das menschliche Gehirn grundsätzlich versucht, Überraschungen zu minimieren. Ist das optimierte QualityLand in der echten Welt also ein Ort, an dem wir die Zukunft möglichst genau kennen, jegliche Unsicherheiten ausschalten und den ganzen Tag unseren Lustgewinn maximieren? Und falls ja: Wie kommen wir letztlich dahin?

Ein Blick in die Wirtschaftswelt lohnt sich, denn diese liefert uns nützliche Hinweise zur Optimierung und Maximierung. «What gets measured gets done!» Im Vermessen liegt die Lösung. Schien dieser Leitsatz lange Zeit primär in Organisationen Gültigkeit zu haben, findet er in neuerer Zeit zunehmend auch Eingang in unser Privatleben. Und so betrachten wir im Jahr 2019 Dashboards mit KPIs nicht nur bei der Arbeit, um den Geschäftserfolg zu optimieren, sondern als Folge der Quantified-Self-Bewegung zunehmend auch in unserem Privatleben, um uns selbst zu «verbessern».

Agile Transformation

Doch was bedeutet das? Der Weg führt über die Optimierung unseres Verhaltens und dieses, da scheint sich die Forschung in grossem Stil einig zu sein, resultiert aus Umwelteinflüssen und unserer biologischen Anlage. «Optimiert» wird heute dementsprechend unsere Biologie als auch unsere Umwelt. «Optimierung» erwarten wir zunehmend in jedem Lebensbereich. Die Palette an Angeboten hierzu reicht von der einmaligen Diagnose (etwa, um Stärken mit dem CliftonStrengths Assessment oder Pränataldiagnose mit dem NIPD zu evaluieren) bis hin zur dauerhaften Überwachung (mit einem Fitbit Tracker oder Langzeit-EKG). Vom einmaligen Training (Personaltraining oder Business-Seminar) bis hin zum continuous improvment process (Kaizen) und von der entscheidungsoptimierten Umwelt (Nudging/Choice Architecture) über die optimierte Nahrungsergänzung (cognitive enhancers order LSD-microdosing) bis hin zur indirekten (Epigenetik) oder direkten (CRISPR/Cas-Methode) Veränderung der DNA.

Doch zurück zur Welt der Wirtschaft. In seinem unterdessen einschlägig bekannten Buch «Reinventing Organizations»⁶ beschreibt der ehemalige McKinsey-Berater Frederic Laloux die heute fast schon klassische auf Effizienz, Gewinnmaximierung und Rationalität getrimmte Organisation. Doch ist diese Form der Organisation überhaupt noch zeitgemäss? Es scheint, als gelänge die Zähmung der zunehmenden Komplexität, dem zentralen Charakteristikum der vielzitierten VUCA-Welt⁷, am besten mit einer auf Ganzheitlichkeit, Selbstorganisation, Sinnhaftigkeit und Dezentralisation fokussierten Organisationsform. Und so machen sich nicht nur im Silicon Valley, sondern zunehmend auch in der Schweiz immer mehr namhafte und grosse Firmen auf den Weg der agilen Transformation.

Braucht die komplexe Welt von heute mit ihren zunehmend agilen Organisationen auch eine neue Art von «selbstoptimierten Menschen»? Agile Menschen quasi? Dies ist eine Frage, die man im Zusammenhang mit der agilen Transformation immer wieder hört.

Echte Selbstwirksamkeit

Die vorher anhand weniger Beispiele beschriebenen Methoden bieten zweifelsohne Chancen für ein selbstoptimiertes und damit hoffentlich auch glücklicheres Leben. QualityLand wird Realityland! Und dennoch fühlt sich der Hauptprotagonist des Buches, Peter Arbeitsloser, unglücklich. Und, so wage ich zu spekulieren, geht es einigen der selbstoptimierenden Protagonisten der Quantified-Self-Bewegung in Realityland.

Richten wir den Blick nochmals auf die vier Grundbedürfnisse von Klaus Grawe. Was vorher noch nicht gesagt wurde: Nebst der Suche nach der Lust, der Minimierung von Unlust und dem Wunsch nach Kontrolle und Orientierung exis-tieren zwei weitere Grundbedürfnisse: die Erhaltung und Erhöhung des Selbstwertes und der Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit zu anderen Menschen. Könnte es sein, dass diese letzteren zwei in der Selbstoptimierungseuphorie ein wenig in den Hintergrund gerückt sind und wir zu stark auf die Karte Lustmaximierung und Kontrolle gesetzt haben?

Sicherlich maximieren individualisierte Social-Media-Newsfeeds unsere Lust (… und vielleicht auch Sucht?). Doch maximiert die dadurch zunehmend fehlende Auseinandersetzung mit anderen Meinungen auch unser aller Glück? Eine Welt, in der uns Algorithmen durch immer bessere Daten-Selfies Wunschprodukte- und Bedürfnisse vorhersagen, verspricht vordergründig mehr Lust und Kontrolle, sie beraubt uns aber auch der Möglichkeit, echte Selbstwirksamkeit zu erfahren. Denn dies heisst, herausfordernde Situationen zu überwinden und daraus resultierende Erfolge zu erleben.

Weniger Selbstoptimierung

Vielleicht liegt der Schlüssel zur echten Selbstoptimierung ja nicht in mehr, sondern in weniger selbst? Die Forschungsarbeiten des Organisationspsychologen Adam Grant⁸, einer der zehn einflussreichsten Management-Denker unserer Zeit und einer von Fortune’s 40 under 40, legen dies nahe. So entdeckte Grant in seinen Forschungsarbeiten, dass die erfolgreichsten Organisationsmitglieder weder egoistische Nehmer noch rein auf Balance bedachte Ausgleicher sind. Am weitesten kommen in Unternehmen altruistische Geber⁹, also Menschen, die gerne helfen, dabei aber ihre eigenen Bedürfnisse nicht vergessen. Vielleicht resultiert also weniger Selbst-optimierung in mehr Nähe und Zugehörigkeit und einem stabileren Selbstwert – einem der Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben.

Ebenso wenig wie wir die Komplexität der VUCA-Welt mit immer mehr KPIs meistern, lässt sich auch das eigene Leben mit immer mehr Kontrolle und Selbstvermessung bewältigen. Wirtschaftliche Probleme haben Organisationen dann, wenn sie den Kunden vergessen und sich nur noch mit sich selbst beschäftigen. Analog  dazu zeichnen sich viele Lebensprobleme durch einen ungesunden, sprich übersteigerten Fokus nach innen aus. Beispielsweise Formen der Angst, Depression oder auch die narzisstische, primär mit sich selbst beschäftige Persönlichkeit. Vielleicht ist die Zeit auch auf individueller Ebene reif für eine «agile Transformation». Dies erfordert aber Vertrauen. Und Kontrolle ist das Gegenteil davon.

Buchtipp: Quality Land

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Alles läuft rund – Arbeit, Freizeit und Beziehungen sind von Algorithmen optimiert. Trotzdem beschleicht Maschinenverschrotter Peter Arbeitsloser immer mehr das Gefühl, dass mit seinem Leben etwas nicht stimmt. Warum werden Maschinen immer menschlicher, aber Menschen immer maschineller? Marc-Uwe Kling hat die Verheissungen und das Unbehagen der digitalen Gegenwart zu einer Zukunftssatire verdichtet, die lange nachwirkt.

Quellen:

¹ https://www.edge.org/response-detail/26194

² https://www.telekom.com/en/company/digital-responsibility/details/machine-intelligence-429070

³ https://de.wikipedia.org/wiki/David_McClelland

https://de.wikipedia.org/wiki/Konsistenztheorie_von_Klaus_Grawe

https://www.nature.com/articles/nrn2787

http://www.reinventingorganizations.com/

⁷ https://de.wikipedia.org/wiki/VUCA

https://www.adamgrant.net/bio

https://www.adamgrant.net/give-and-take

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Rafael Huber ist promovierter Psychologe und Neurowissenschaftler und arbeitete mehrere Jahre in der Forschung. Seit Juni 2019 ist er Wirtschaftspsychologe und Senior Management Consultant bei der Dot Consulting AG. Davor arbeitete er als Dozent und Berater am IAP Institut für Angewandte Psychologie an der ZHAW.

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