Sie öffnet die Tür, schaut mich mit ihren durchdringenden blauen Augen an – und ich fühle mich irgendwie ertappt. Was denkt sie jetzt über mich? Weiss sie jetzt, wer ich bin? Ich stehe Tatjana Strobel gegenüber, es ist kein unbehagliches Gefühl, aber doch bin ich etwas unruhig. Der Expertin für Menschenkenntnis sind solche Gefühle ihrer Gesprächspartner bewusst. «Aber das macht gar nichts», sagt sie locker, während sie ihre langen roten Haare auf den letzten Drücker noch schnell zurechtmacht. Ich beginne mich langsam zu entspannen und vergesse, dass ich vermeiden will, mich zu «outen». Nicht nur mit meiner Mimik, sondern ebenfalls mit der Stimme und der Körpersprache. Mit der Hand über den Tisch wischen, Haare zurückstreichen, blinzeln oder die Hände in den Hosentaschen versenken: All jene Dinge, die wir täglich tun, sagen etwas darüber aus, wie wir sind, als Mensch.
Tatjana Strobel hat sich der Faszination Mensch vor einigen Jahren verschrieben. Alles beginnt damit, dass sie ein Seminar bei einem Gesichtsleser besucht und dieser sie auf ihr Drängen hin in die Geheimnisse seines Fachs einweiht. Damit ist es um Strobel geschehen, das lässt sie von nun an nicht mehr los. «Anhand von über 300 Merkmalen in unserem Gesicht lässt sich auf unsere Charaktereigenschaften schliessen», erklärt sie. Die Geschichte der Physiognomik, auf die ihre Tätigkeit zurückzuführen ist, folgt einer 4000 Jahre alten Tradition. Die Physiognomik kommt im Ursprung aus Asien und Ägypten, sie ist unter anderem Bestandteil der Ayurveda-Lehre und der traditionellen chinesischen Medizin.
Strobels Leidenschaft für ihr Tun ist unverkennbar, wenn sie zu analysieren beginnt. Engstehende Augen gehören zu einem Menschen, der sehr fokussiert ist, grosse Augen lassen auf einen sehr neugierigen und wissbegierigen Menschen schliessen. Volle Lippen sind ein Indiz für einen gefühlsbetonten Menschen, schmale Lippen finden sich eher bei Menschen, die gerne mit Zahlen, Daten, Fakten umgehen. Je breiter die Nase, desto mehr Durchhaltevermögen schreibt sie dem Menschen zu. Klingt im ersten Moment etwas unglaubwürdig. Da liegt doch die Frage auf der Hand, wie es sein kann, dass Gesichtsmerkmale unseren Charakter begründen sollen, sind diese uns doch in die Wiege gelegt worden. «Wenn wir genau hinsehen, merken wir, dass sich unser Gesicht sehr wohl im Laufe der Zeit verändern kann», sagt Strobel. «Je nach Erfahrungen, Belastungen oder Glückssträhnen in unserem Leben.»
Vertriebsdirektorin von 115 Filialen – und dann schmeisst sie alles hin
Strobel hat eine bewegte Kindheit in Baden-Baden. Als sie drei Jahre alt ist, kommt ein Brüderchen mit einer geistigen Behinderung auf die Welt. Tatjanas Beobachtungsgabe und Empathie wird bereits jetzt geschärft. Immer wieder muss sie sich in ihren Bruder, der sich auch später im Leben nicht verständigen kann, hineinfühlen, wissen, was er gerade denkt und braucht, wie es ihm geht. Die dreizehnjährige Tatjana bekommt schliesslich ein weiteres Geschwisterchen, und weil die Mutter sehr viel Zeit für den anderen Jungen aufbringen muss, sorgt der Teenager Tatjana für den Nachzügler. Bis sie beschliesst, auf
eigenen Beinen zu stehen, und früh von zu Hause weggeht.
Nach der Fachhochschulreife in Bühl/
Baden absolviert die stets sozial engagierte Frau eine Ausbildung zur Erzieherin, studiert anschliessend Sozialpädagogik. Sie finanziert alles selbst, arbeitet nebenbei als Promoter und Kellnerin und entdeckt dabei schnell ihre Fähigkeit, «Menschen von Dingen zu überzeugen, von denen diese noch gar nicht wissen, dass sie sie wollen», schmunzelt sie.
Ihr Studium interessiert sie zwar sehr, doch schnell wird klar, als dauerhafter Job ist das nichts für sie. Die Pädagogin schafft es, in ein Traineeprogramm der Kosmetikfirma Wella aufgenommen zu werden. Dort geht sie durch die Schule des Managements, der Führung und des Marketings – und landet schliesslich im Vertrieb. Ihr Ansatz für Erfolg ist, dass sie wissen will, wer der Mensch ist, dem sie ihr Produkt verkaufen will. Sie be-ginnt, sich mit allem zu beschäftigen, was den Menschen ausmacht: Körpersprache, Kommunikationstraining, NLP (Neurolinguistische Programmierung), Transaktionsanalyse und Physiognomie. Doch was ihr noch fehlt, ist eine Methode, die sie vor allem sehr schnell zu einem Ergebnis bringt.
Mittlerweile ist sie in die Schweiz gezogen und Vertriebsdirektorin von 115 Filialen der Kosmetikkette Marionnaud, für 600 Mitarbeiter zuständig und trägt volle Umsatzverantwortung. Ein Traumjob, in dem sie alle ihre Stärken bündeln kann. «Nur die Jungs in der Firma hatten damit wohl ein Problem», erinnert sie sich bitter. «Jeden Tag habe ich kontrolliert, ob nicht eines meiner vier Stuhlbeine fehlt.» Sie arbeitet trotzdem oder gerade deswegen wie besessen, rund um die Uhr, inklusive Samstag und Sonntag. Irgendwann sagt ihre innere Stimme: Das kann es doch nicht gewesen sein – und dann passiert ihr dieses schicksalhafte Seminar. Ihr erster Gedanke ist: «Was für ein Unsinn.» Aber weil sie ja von Grund auf neugierig ist, analysiert sie schnell mit, ist von der Seite des Trainers nicht mehr wegzukriegen. Weiterhin auf der Suche, absolviert sie bei ihm sämtliche Kurse. Als die gewünschte Zusammenarbeit nicht zustande kommt, beschliesst Strobel, in der Materie ihren eigenen Weg zu gehen.
«Ich habe also tatsächlich gekündigt», sagt sie, selbst noch verwundert über ihren Mut, den hochdotierten Job hingeschmissen zu haben. Sie reist nach Indien und Sri Lanka, um vor Ort zu erfahren, was die uralte Wissenschaft der Physiognomik noch bereithält. Nach ihrer Rückkehr bastelt sie an einem Geschäftsmodell. «Fast alle, denen ich von meinen Plänen erzählte, haben mich ausgelacht.» Manche stecken sie in die Esoterikecke, «doch damit hat diese Wissenschaft nichts zu tun», betont Strobel eisern. In ihrer Arbeit gehe es darum, die eigene Persönlichkeit neu zu entdecken und zu lernen, anderen Menschen wertschätzend zu begegnen.
Nach düsteren Tagen kommt schliesslich der Erfolg
Das Interesse an ihrer Arbeit ist gross, ihre Seminare durchweg gut besucht. Doch lässt der Erfolg Strobel auch die düsteren Tage zu Beginn nicht vergessen. «Es gab sicherlich viele Momente, in denen ich nicht wusste, ob ich mit meiner Tätigkeit meinen Lebensunterhalt verdienen kann.» Sie will nicht jammern, aber schon klarmachen, dass der Weg zum Erfolg kein Spaziergang ist. «Alle erfolgreichen Menschen, die ich kenne, haben sich alles hart erarbeitet, inklusive der Tage, an denen das Benzingeld knapp war, um zum nächsten Kunden zu kommen, oder das Geld nicht reichte für die Miete.» Auch Strobel fährt für ihre Selbständigkeit volles Risiko. Sie tauscht ihre 200-Quadratmeter-Wohnung gegen ein 14-Quadratmeter-Zimmer in einer WG. Mit 35 Jahren beginnt sie, ihr Leben neu zu ordnen, einen ganz neuen Weg zu gehen.
Strobel lebt und arbeitet heute in einem kleinen Häuschen in Zürich. Vom oberen Stockwerk kann sie den Zürichsee sehen. Neuerdings hat sie in der Stadtmitte einen Büroraum gemietet, weil die eigenen vier Wände zu klein wurden. Ihr Auto von damals, einen Mini One, fährt sie immer noch, und auch sonst ist sie am Boden geblieben. Obwohl sie mittlerweile einem breiten Publikum im deutschsprachigen Raum bekannt ist.
Sie versteht es, ihre Leidenschaft von
Beginn an professionell zu vermarkten, und gibt das Marketing in professionelle Hände. Schliesslich bekommt sie mit einer sechsseitigen Story in der deutschen Frauenzeitschrift «Freundin» eine ganz grosse Plattform. Danach geht es Schlag auf Schlag. Ihr erstes Buch «Ich weiss, wer du bist» ist fast ein Selbstläufer. Sie tritt in TV-Shows und Talksendungen auf, erklärt ihre Arbeit im Radio und schreibt Beiträge für Magazine. Zu Gast bei «Kerner» oder «3 nach 9» überzeugt sie nicht nur durch ihren Charme und ihre Schlagfertigkeit, sondern macht Menschenkenntnis salonfähig. «Nur bei Stefan Raab hatte ich richtig, richtig Angst», gesteht sie. «Wer weiss schon, was dem plötzlich einfällt? Doch er blieb handzahm.»
Immer locker, keine
Starallüren
Sie arbeitet inzwischen bereits am dritten Buch, das sich mit Partnerschaft beschäftigt. Auf die Frage, ob sie Single sei, wird sie ein bisschen nachdenklich. «Ich war eine Weile nicht in der Lage, das für mich zu ändern, weil ich noch etwas verarbeiten musste, aber nun langsam könnte es wieder spannend werden», grinst sie.
In den nächsten Wochen ist Strobel mit den Lesungen zu ihrem aktuellen – ihrem zweiten – Buch (siehe Buchtipp) unterwegs, dann wird sie mit ihrem Team auf dem Kreuzfahrtschiff «Aida» bei einer «Themenreise Mensch» zu Gast sein und dort den Gästen ein umfassendes Programm rund um das Thema Menschenkenntnis bieten. Im nächsten Jahr wird es wahrscheinlich eine eigene Fernsehshow geben, und Strobel tüftelt an Konzepten.
Wie erklärt sie sich selbst ihren Erfolg? «Ich habe den richtigen Zeitpunkt erwischt und werde von PR-Fachleuten ständig unterstützt. Dann glaube ich, dass die meisten Menschen sehr gerne mit mir arbeiten. Ich habe keine Starallüren und bin immer locker. Aber das Wichtigste: Die Menschen sind auf der Suche nach sich selbst. Dabei kann ich ihnen helfen, indem sie sich selbst und andere besser verstehen lernen. In einer virtuellen Welt werden Kontakte von Angesicht zu Angesicht wieder wichtiger werden», sagt Strobel. Sie ist von einer Kehrtwende hin zum persönlichen Dialog überzeugt. Und sie kann dazu nur ermutigen: «Leute, schaut euch an und nehmt einander wieder wahr!»