Wer aus der Geschlechterreihe tanzt, ist oft ein Talent
Männer in frauentypischen Berufen und Frauen, die in männerdominierte Branchen gehen, verfügen über bessere Schulleistungen als der Durchschnitt. Es lohnt sich für Betriebe, ihnen Stolpersteine aus dem Weg zu räumen.
Frau im Führerstand: Ein (noch) ungewohntes Bild. (Foto: SBB)
Prinzipiell stehen in der Schweiz sowohl Männern als auch Frauen sämtliche Berufe offen. So schliesst jedes Jahr eine grosse Zahl junger Erwachsener eine Lehre im kaufmännischen Bereich oder im Detailhandel ab. Doch in vielen Berufen, in denen sich ein Fachkräftemangel abzeichnet, kommt der Nachwuchs fast ausschliesslich aus einem Geschlecht. Junge Frauen lassen sich zu Fachfrauen Betreuung und Gesundheit ausbilden, während junge Männer Ausbildungen zum Informatiker, Elektroinstallateur oder Polymechaniker bevorzugen. Auch an den Fachhochschulen schlossen im Jahr 2010 gerade mal 14 Prozent Männer mit einem Bachelor im Bereich der Gesundheitsberufe ab. In den Technik- und Informatikberufen gingen nur 6 Prozent der Bachelordiplome an Frauen. Ein grosser Teil des Arbeitskräftepotenzials dieser Berufsfelder liegt folglich brach. Dies trägt zum Fachkräftemangel in diesen Branchen bei.
Warum sind Technikerinnen und Pflegefachmänner immer noch so selten?
Der Bedarf an Fachkräften in den Technik-, IT-, Gesundheits- und Lehr-Berufen wird voraussichtlich weiter steigen. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig herauszufinden, weshalb nur so wenige Frauen in den Ausbildungen zur IT-Spezialistin oder zur Elektrotechnikerin zu finden sind und warum sich nur so wenige junge Männer zu Logopäden und Gesundheitsfachangestellten ausbilden lassen. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60) des Schweizerischen Nationalfonds hat sich eine Forschungsgruppe an der Universität Basel(1) zum Ziel gesetzt, die dahinterliegenden Faktoren und Mechanismen der Geschlechtersegregation in der Schweizer Ausbildungs- und Berufswelt genauer zu beleuchten.
Hierfür untersuchte die Forschungsgruppe die Ausbildungsverläufe von 6000(2) Jugendlichen. Diese füllten im Jahr 2000 beim Abschluss der obligatorischen Schule als etwa 16-Jährige den PISA-Test aus und wurden seither in Abständen zu ihrem weiteren beruflichen Werdegang befragt. Zusätzlich wurden mit 33 ausgewählten Personen rund 10 Jahre nach Schulabschluss Interviews zu ihren Erfahrungen in Ausbildung und Beruf geführt.
Personen in untypischen Berufen bringen überdurchschnittliche Fähigkeiten mit
Wer sind die Männer und Frauen, die geschlechtsuntypische Ausbildungswege verfolgen? Wie die Auswertungen zeigen, sind es nicht die schwachen Schüler und Schülerinnen, die in untypische Berufe gedrängt werden, weil sie anderenorts den Einstieg nicht schaffen. Im Gegenteil: Wer als Mann einen Abschluss in einem frauentypischen oder als Frau einen solchen in einem männertypischen Berufsfeld anstrebt, bringt oft überdurchschnittliche Schulleistungen mit. Sowohl im Lesen als auch in der Mathematik haben diese jungen Erwachsenen im PISA-Test signifikant besser abgeschnitten als Gleichaltrige, die geschlechtstypische Ausbildungswege eingeschlagen haben. Darüber hinaus zeichnen sie sich durch eine überdurchschnittliche Selbstwirksamkeit aus. Das heisst, sie bringen die Überzeugung mit, dass sie erreichen, was sie sich vornehmen.
Diese Ergebnisse liefern auch für Betriebe wichtige Erkenntnisse: Sie brauchen bei der Anstellung von Mitarbeitenden des untervertretenen Geschlechts nicht zu befürchten, dass diese schlechtere Voraussetzungen mitbringen, sondern sie haben mit erhöhter Wahrscheinlichkeit sogar Personen mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten vor sich. Es lohnt sich also in frauendominierten Branchen, (Lehr-)Stellen bewusst an männliche Bewerber zu vergeben, und in männerdominierten Branchen, vermehrt Bewerberinnen zu berücksichtigen.
Stolperstein Nr. 1: Reicht der Lohn für eine Familie?
Wie die Studie weiter zeigt, kann jedoch insbesondere die Familiengründung für junge Erwachsene mit geschlechtsuntypischen Berufen zum Stolperstein werden. Männer wie Frauen fragen sich, wie sie ihren Beruf mit ihren Familienplänen in Einklang bringen sollen. Mehrere Männer in frauentypischen Berufen befürchten, in ihrem Beruf nicht genügend zu verdienen, um später eine Familie ernähren zu können. Auch wenn sie ihren Beruf sehr gerne ausüben, halten sie bereits nach einträglicheren Tätigkeiten Ausschau. Ein Pfleger erzählt: «Wenn man eine Familie gründen möchte, ist man beinahe verpflichtet, als Krankenpfleger eine Weiterbildung zu machen und zu schauen, dass man zu ein wenig mehr Geld kommt.»
So planen die befragten Pfleger schon früh nächste Schritte weg von der Pflege am Krankenbett hin zu einer Tätigkeit als Anästhesiespezialist, Berufsschullehrer oder Heimleiter.
Stolperstein Nr. 2: Nur minderwertige Teilzeitarbeitsplätze?
Frauen in männertypischen Berufen thematisieren demgegenüber in erster Linie das Problem, zukünftige familiäre Verpflichtungen mit einer Berufstätigkeit zu vereinbaren, in welcher Vollzeitarbeit die unhinterfragte Norm ist. Sie befürchten, dass es ihnen als Mutter nicht mehr möglich sein wird, ihre heutige Arbeit weiter auszuüben, und sie auf weniger herausfordernde Tätigkeiten ausweichen müssen. Eine Elektrikerin beispielsweise erwartet, bei einer Reduktion des Erwerbsumfangs wegen Mutterschaft ihre Arbeit auf der Baustelle gegen eine aus ihrer Sicht viel weniger attraktive Stelle im Büro oder im Lager ihres Betriebs eintauschen zu müssen. Und eine Gärtnerin erklärt analog: «Als Gärtnerin Teilzeit, da müsste ich irgendwo an einer Kasse in einem Gartencenter arbeiten. Der Rest ist meistens Vollzeit.»
Stolperstein Nr. 3: Ist der Beruf kompatibel mit Familie?
Die erwartete Unvereinbarkeit von Beruf und Familie kommt nicht erst dann zum Tragen, wenn ein Kinderwunsch tatsächlich realisiert wird. Sie kann Jugendliche mit geschlechtsuntypischen beruflichen Interessen und Fähigkeiten von vornherein davon abhalten, diese weiterzuverfolgen. Wie die Analysen zeigen, wünschen sich Frauen, die eigenen Kindern bereits als 16-Jährige eine hohe Bedeutung zuweisen, signifikant häufiger frauentypische Berufe und sind sieben Jahre später auch viel öfter in frauentypischen Berufen tätig.
Diese Ergebnisse zeigen, dass Jugendliche schon vor der Berufswahl erwarten, dass sich ein geschlechtsuntypischer Beruf später nur schwer mit familiären Verpflichtungen vereinbaren lässt. Dieser Zusammenhang erklärt vermutlich einen massgeblichen Teil der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Ausbildungs- und Berufswelt. Er stellt einen zentralen Grund dar, weshalb es bis heute nicht mehr Polymechanikerinnen und Kinderbetreuer gibt. Aus Sicht der Betriebe heisst dies, es stünde eine potenziell viel grössere Zahl an begabten jungen Erwachsenen mit geschlechtsuntypischen Interessen zur Verfügung, die als Fachkräfte zu gewinnen wären.
Talentierten jungen Erwachsenen die Stolpersteine aus dem Weg räumen
Die Vereinbarkeitsproblematik ist bekannt. Viele Betriebe haben bereits grosse Anstrengungen unternommen, das Zusammenspiel von Familie und Beruf zu verbessern. Bisherige Anstrengungen konzentrierten sich jedoch primär auf Frauen. Eine wichtige Erkenntnis des vorliegenden Forschungsprojekts ist, dass die Unvereinbarkeitsproblematik für Frauen und Männer gleichermassen zum Stolperstein werden kann – ganz besonders, wenn sie in geschlechtsuntypischen Berufsfeldern tätig sind.
Sollen tatsächlich mehr Männer die fehlenden Fachkräfte in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Kindergärten ersetzen, so führt kein Weg daran vorbei, die Lohnniveaus dieser Berufe zu erhöhen. Und sollen vermehrt Frauen die Lücken als IT-Spezialistinnen und Technikerinnen füllen, reicht es nicht, Teilzeitarbeitsplätze lediglich in Form von anforderungsarmen Beschäftigungsnischen auf Abstellgleisen anzubieten. Die Herausforderung für das Human Resources Management besteht darin, die Arbeitsorganisation und die Entlöhnung in allen Branchen und Tätigkeitsprofilen für verschiedene Lebensentwürfe zu öffnen – unabhängig davon, ob es Frauen oder Männer sind, die das finanzielle Auskommen oder die Betreuung in einer Familie sicherstellen. Damit können Betriebe nicht nur die Diversität in ihren Teams erhöhen, sondern auch begabte Arbeitskräfte gewinnen.
Forschungsprogramm und Veranstaltung
Die Studie «Geschlechterungleichheiten in Ausbildungs- und Berufsverläufen» ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms «Gleichstellung der Geschlechter» (NFP 60). Die Forscherinnen und Forscher des NFP 60 untersuchen, warum in der Schweiz weiterhin Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern bestehen. In 21 Projekten erarbeiten sie fundiertes Wissen zu allen zentralen Bereichen der Gesellschaft. Im Mittelpunkt steht die Analyse der Arbeitswelt, der Bildungs- und Karrierechancen sowie der Familien und Privathaushalte. Das NFP 60 wird im Auftrag des Bundesrates vom Schweizerischen Nationalfonds durchgeführt. HR Today hat in einer Serie bereits zwei Studien vorgestellt. Im vierten und letzten Teil der Serie erhalten Sie Einblick ins Forschungsprojekt «Mehr Chancengleichheit bei der Berufswahl»: Ausgabe 11/2013 (erscheint am 30. Oktober).
Meeting Point Forschung und Praxis
am 12. September um 18.15 Uhr in Zürich
HR Today fördert den Wissenstransfer zwischen Forschenden und Praktikern: Erfahren Sie mehr über die aktuellen Forschungsergebnisse der NFP-60-Projekte. Nach einer kurzen Projekt-Präsentation wird der Austausch zwischen Ihnen und den Forschenden im Mittelpunkt stehen.
Die NFP-60-Studien, die vorgestellt werden:
- «Geschlechterungleichheiten in Ausbildungs- und Berufsverläufen»: Prof. Andrea Maihofer (Leiterin Zentrum Gender Studies, Basel).
- «Frauen in Ingenieur-Berufen – gesucht und respektiert?»: Anja Umbach-Daniel (Projektleiterin Rütter + Partner).
Moderation: Marc Benninger (Chefredaktor HR Today Westschweiz)
Bitte melden Sie sich direkt an unter:
http://de.amiando.com/ULLTTEQ.html
- 1 Infos zum Projekt und zur Zusammensetzung der Forschungsgruppe: www.genderstudies.unibas.ch
- 2 Für die Analysen wurde auf die Daten der Schweizerischen Längsschnittstudie TREE (www.tree-ch.ch) zurückgegriffen, welche die Ausbildungs- und Erwerbsverläufe Jugendlicher dokumentiert.