HR-Organisation

Wie entbürokratisieren wir das HR?

Mit der zunehmenden Standardisierung, Prozessoptimierung und «Industrialisierung» der HR-Arbeit wächst der 
Eindruck, das HR sei an vorderster Front daran beteiligt, dass die Bürokratie ausufert. 
Was können das HR und Führungskräfte tun, damit alles wieder etwas einfacher wird?

In unserer komplexen Zeit wächst der Wunsch nach Einfachheit und Übersichtlichkeit. Immer mehr Führungskräfte und HR Professionals leiden unter komplizierten Systemen und überregulierten Managementmethoden. Viele Unternehmen versuchen, der vorhandenen Komplexität mit noch mehr Komplexität zu begegnen.

Natürlich sieht sich niemand selbst als Bürokrat. Es gehört zum guten Ton, über die Bürokratie zu lästern, so wie übers schlechte Wetter. Im Gegensatz zum Wetter ist die Bürokratie aber menschengemacht und damit veränderbar. Gerade wir als HR Professionals müssen uns das immer wieder dick hinter die Ohren schreiben.

Die Komplexitätsfalle

Kein HR-Profi, keine Personalchefin entwickelt bewusst überkomplizierte, bürokratische HR-Systeme, um die Organisation damit über kurz oder lang lahmzulegen. Und doch werden regelmässig äusserst komplexe Lösungen zwar mit viel Fachwissen, aber ohne Augenmass entwickelt. Das Unterfangen wird begleitet von der guten Absicht der HR-Menschen, der Linie Topqualität zu liefern und den unterschiedlichsten Anspruchsgruppen gerecht zu werden. Das führt dann zu ausgeklügelten «Lösungen», die bestenfalls auf dem Papier bestechen, im Praxistest aber kläglich scheitern. So sind heute beispielsweise die meisten Salärsysteme und Bonusmodelle viel zu kompliziert, schwierig zu erklären und in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden ungerecht und intransparent. Wenn nur die Projektleiterin eines neuen Systems wirklich begreift, wie es funktioniert, und die Linienvorgesetzten und Mitarbeitenden mehrheitlich Bahnhof verstehen, wird die Wirkung bescheiden sein. Die Kosten für die Entwicklung und Einführung aber unter Umständen sehr hoch.

Das künstliche Formulieren von KPIs (Zielgrössen) in einer Balanced Scorecard, das Nachführen von Stellenbeschreibungen, das Ausfüllen komplizierter Beurteilungsbögen oder ein langwieriger Budgetierungsprozess kostet viel unproduktive Zeit und dient möglicherweise nur der internen Rechtfertigung. Andere, wichtigere Dinge für die nachhaltige Unternehmensentwicklung bleiben auf der Strecke. Am Schluss zählen aber zufriedene Kunden und effektive Resultate, nicht ausgefeilte Planungen oder schöne Formulare.

Einfach ist nicht leicht 

Was wir heute brauchen, sind Konzepte, die so weit wie möglich von Komplexität befreit sind. Die decken dann zwar nicht mehr jede Eventualität ab, haben aber die Chance, mehr Wirkung zu erzielen. Wer hat schon Lust, sich durch mehrseitige Service Level Agreements, langatmige Gebrauchsanweisungen für die nächste Mitarbeiterbeurteilungsrunde oder Personalreglemente in Juristendeutsch zu kämpfen? Manchmal reicht eine Seite mit den wesentlichen Punkten. Der Rest ist Führungssache und gesunder Menschenverstand.

Es gibt natürlich keine Rezepte und keine Pauschalbeurteilung, die für jedes Unternehmen passen. Es gibt aber eine Grundhaltung. Und die heisst: Einfacher ist besser und weniger ist mehr. Das bedeutet in der praktischen Umsetzung vor allem Mut zum Verzicht, Mut zur Prioritätensetzung und Mut zur Führungs- und Eigenverantwortung. Das ist alles andere als einfach, weder leicht in der Konzeption noch ohne Anstrengung in der Umsetzung. Aber inspirierend und lohnend.

Der Drang zur Schriftlichkeit

Im Internet kennzeichnen Leser Veröffentlichungen, die nicht auf den Punkt kommen, immer öfter mit «TLDR» (= too long – don’t read) – das zeigt, wonach der Zeitgeist verlangt. Gerade im deutschsprachigen, aber auch im angelsächsischen Raum lieben wir die Schriftlichkeit, um Unsicherheit zu vermeiden. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Bürokratie fröhlich wuchert.

2022 wurden weltweit jeden Tag rund 330 Milliarden E-Mails pro Tag verschickt und empfangen. Bei einer solchen Informationsflut laufen wir Gefahr, viele gute Absichten zu pervertieren. Nämlich dann, wenn Risikovermeidung und Regeln wichtiger werden als das Ziel – und Bürokratie am Ende reiner Selbstzweck ist. Alles muss heute geplant, budgetiert, standardisiert und gemessen werden. Das Vertrauen in die vorhandenen selbstregulierenden Kräfte in den Organisationen ist sehr bescheiden.

Ein ermutigendes Praxisbeispiel liefert seit vielen Jahren der amerikanische Detailhändler Nordstrom. Dieses Unternehmen verzichtet bewusst, soweit es geht, auf schriftliche Regeln und Weisungen. Das «Mitarbeiterhandbuch» besteht aus folgendem Text:

«Set both your personal and professional goals high. We have great confidence in your ability to achieve them. Our only rule: Use good judgement in all situations.»

Nordstroms einzige Regel für die Mitarbeitenden lautet also: «Benütze täglich deinen gesunden Menschenverstand und handle danach.»

Längst sind die Zeiten vorbei, als die Bürokratie noch in Ärmelschonern daherkam. Die Begriffe wie Best Practice, MbO, Prozessoptimierung, Standardisierung etc. entpuppen sich häufig aber als Schall und Rauch. Die neue Bürokratie ist nicht kleiner geworden, sie klingt nur moderner als die alte. Oft stehen am Anfang von Bürokratie zwei eigentlich tolle Begriffe: Der eine heisst Evaluation, der andere Qualitätssicherung.

Der 3K-Ansatz

Wie können wir die Komplexität reduzieren und den Wirkungsgrad der HR-Systeme und Führungsinstrumente erhöhen? Bewährt hat sich in der Praxis der folgende Dreisprung: Klarheit in der Zielsetzung, Konzentration auf das Wesentliche, Konsequenz in der Umsetzung.

Wenn beispielsweise ein neues HR-System, ein neues Ausbildungsprogramm oder ein neues Führungsinstrument eingeführt werden soll, wird innerhalb von HR die Frage nach der angestrebten Wirkung viel zu wenig  gestellt.  Zu schnell entwickelt man begeistert eine Lösung, ohne präzise zu wissen, was genau erreicht werden soll. Das endet oft darin, dass sich Projektteams verzetteln oder in eine clevere, aber isolierte Lösung verlieben.

Es lohnt sich, Hartnäckigkeit und Zeit zur Klärung des Warum zu investieren. Warum brauchen wir ein anderes Beurteilungskonzept, warum ein neues  Bonusmodell, wozu ein neues Personalinformationssystem? Es geht nicht darum, gute Ideen zu verhindern, sondern Zielsetzungen zu schärfen.

Commitment statt Compliance

Leistung muss im Unternehmen selbstverständlich eingefordert werden. Ob es dazu auch ausgeklügelte Beurteilungssysteme braucht, darf aber hinterfragt werden. Kaum ein HR-Instrument ist so unbeliebt bei Vorgesetzten und Mitarbeitenden wie das «Quali-System». Viel Energie wird heute dafür eingesetzt, die vergangene Arbeit zu rechtfertigen und die zukünftige Arbeit zu begründen. Damit geht immer mehr Zeit dafür drauf, erbrachte Leistung zu zeigen (und weniger dafür, dieselbe effektiv  zu erbringen). Entweder evaluiert man selbst oder man wird evaluiert – mit oft reichlich banalen Einsichten.

Gute Vorgesetzte kennen die Fähigkeiten ihrer Mitarbeitenden sehr gut und brauchen keine formalisierten Evaluatioen, die mit grossem Papierkrieg verbunden sind. Und die schlechten Vorgesetzten werden auch mit den besten Mitarbeiterbeurteilungssystemen nicht besser. Wie viel Zeit verbringen Personalleute heute damit, den Vorgesetzten hinterherzurennen, um diese dazu zu bewegen, ihre Beurteilungsformulare auszufüllen und die entsprechenden Gespräche zu führen? Wir fördern damit Compliance statt Commitment.

Zielvereinbarungen funktionieren übrigens ausgezeichnet auch ohne daran (mechanistisch) gekoppelte Bonuszahlungen. Wichtig an einer Zielvereinbarung ist, die Leute auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören, und nicht, sie einzuengen oder gar ihre vorhandene intrinsische Motivation zu unterhöhlen.

Selbstverständlich braucht es gerade in grösseren Organisationen gewisse Standards, die festgehalten werden sollen. Aber noch viel mehr braucht es gesunden Menschenverstand, Respekt, Menschlichkeit und Führungskompetenz.

Füttern verboten

HR-Profis sind täglich gefordert, das HR-Bürokratiemonster im Zaun zu halten und nicht weiterzufüttern; am besten mit der Grundhaltung: Einfacher ist besser und weniger ist mehr. Dafür braucht es aber ein gemeinsames Verständnis der HR-Verantwortlichen und der Geschäftsleitung. Das muss bewusst thematisiert und strategisch definiert werden.

Je einfacher ein Konzept, je übersichtlicher die Strukturen, je klarer die Ausrichtung, desto grösser ist die Wirkung auch bei komplizierten Problemen. Es braucht auch nicht immer neue Konzepte und Instrumente. Die grösste Wirkung wird häufig erzielt, indem man die vorhandenen Strategien und guten Konzepte ernsthaft und mit Nachdruck umsetzt, wenn man dafür sorgt, dass die Führungskräfte auch wirklich hinter diesen stehen, und – auch ganz wichtig! –  für die konkrete Umsetzung und Entfaltung die nötige Zeit einräumt.

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Armin Haas hat 25 Jahre Führungserfahrung im operativen und strategischen Personalbereich. Er arbeitet heute als HR-Experte und Berater für People Management, HR-Strategie und Leadership. Er ist Netzwerkpartner von hr4hr und woche53-Coach.

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