Leadership

Angewandte Deep Culture offenbart die verborgene Kulturebene

Die kulturelle Prägung jedes einzelnen Mitarbeiters steht im ständigen Wechselspiel mit der Unternehmenskultur und 
seiner Persönlichkeitsstruktur: Alle zusammen bestimmen das Verhalten eines Menschen. Diese Mehrschichtigkeit und die Interaktion der Faktoren zu erkennen, ist zentral, um ethische Kodizes festzulegen und interkulturelle Konflikte zu lösen.

Der Begriff Deep Culture steht für die verborgene Kulturebene und wird für diejenigen Bestimmungsfaktoren verwendet, welche den Verhaltensgewohnheiten, Motiven, Wertvorstellungen und ethischen Grundregeln der Mitglieder einer Gruppe zugrunde liegen. Diese Bestimmungsfaktoren verschaffen der Gruppe ihren sozialen Zusammenhalt und ihre Identität. Die angewandte Deep Culture bezieht sich auf die Verwendung von Instrumenten, welche diese Bestimmungsfaktoren beschreiben.

Die Instrumente werden dazu verwendet, Unternehmens- und Abteilungskulturen sowie firmeninterne ethische Kodizes zu bilden. Sie kommen sowohl bei Kulturwandel als auch beim intrinsischen Kul
turalignment zur Anwendung, das heisst, wenn es darum geht, sicherzustellen, dass die Elemente einer Unternehmenskultur oder eines ethischen Kodexes untereinander kompatibel sind. Auch beim extrinsischen Kulturalignment, also bei der Frage, ob die Elemente mit der Kultur der lokalen Märkte oder Tochtergesellschaften kompatibel sind, werden diese Instrumente gebraucht; ebenso bei kulturellen Assessments, bei der Analyse und der Auflösung von interkulturellen Konflikten.

Deep Culture liegt unter anderem auch Vertrauen zugrunde. Nationale und multinationale Organisationen verwenden diesen Begriff und andere wie Respekt, Toleranz, Commitment, Transparenz in ihren Leitbildern aber häufig ohne die vertieften Reflexionsmöglichkeiten, welche die angewandte Deep Culture vermitteln kann, mit einzubeziehen.

Deep-Culture-Dimensionen

Zunächst ist es wichtig, nachzuvollziehen, wie die Deep Culture mit dem Unternehmensalltag zusammenhängt. Zu den wichtigsten Bestimmungsfaktoren hinter den Verhaltensmustern, Motiven, Wertvorstellungen und ethischen Grundhaltungen von Vorgesetzten und Mitarbeitern in einer Organisation gehören die folgenden Parameter oder so genannten Deep-Culture-Dimensionen:

  1. 
Wie viel Ermächtigung, Raum für Initiative, Matrixcharakter oder hierarchische Autorität liegt im Unternehmen vor?
  2. 
Wie und mit wie viel Transparenz werden Informationen wann an wen und mit welchen Motiven weitergegeben?
  3. 
Wie ist der Stellenwert von Flexibilität, Risikobereitschaft, Arbeitsicherheit, Informationssicherheit, Vorsichtsmassnahmen bzw. Zukunftsszenarienentwicklung?
  4. 
Wie viel Wert wird auf Eigenverantwortung, individuelle Meinungsbildung, Kompromissfähigkeit, Gruppenloyalität bzw. Konsensentscheidungen gelegt?
  5. 
Wie wichtig sind Proaktivität, materielle Errungenschaften, finanzieller Erfolg, Work-Life Balance bzw. Umweltbewusstsein?
  6. 
Wie streng oder flexibel werden Unternehmensprinzipien und operationelle Abläufe gehandhabt?
  7. 
Welcher Grad an empirischer Anwendung, Strukturierung, Spezialistentum oder ganzheitlicher Betrachtung gilt im Unternehmen?

In der angewandten Deep Culture werden solche Deep-Culture–Dimensionen als Messinstrumente für die Analyse, Gestaltung und das Alignment von Unternehmenskulturen verwendet.
Die Automobil- und die Finanzindustrie beispielsweise sind gegenwärtig mit einem einschneidenden Wertewandel konfrontiert, insbesondere in den entwickelten Märkten. Die angewandte Deep Culture ist hierbei ein unentbehrliches Instrument, um einen Turnaround auf einer fundamentalen Ebene herbeizuführen.

Vertrauen ist relativ

Beim Bereich Vertrauen sind mehrere der genannten Dimensionen im Spiel. Vertrauen besteht in vielen Kulturen darin, Informationen stets in aller Ausführlichkeit an den nächsten hierarchischen Vorgesetzten oder an den Unternehmensinhaber zu melden. In anderen Kulturen könnte dasselbe Verhalten einen irreparablen Bruch eines Vertrauensverhältnisses zwischen zwei Angestellten herbeiführen. Der völlig transparente Umgang mit Informationen aller Art könnte in anderen Unternehmungen die Grundlage für das Vertrauen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden schaffen. In anderen Organisationen erhält nur derjenige das Vertrauen der Vorgesetzten, der es versteht, Informationen selektiv unter genau definierten Umständen zu vermitteln. In einigen geniesst derjenige Vertrauen, der seine Erfolge, seine Flexibilität und seine Initiative offen zum Ausdruck bringt; in wieder anderen weckt solches Verhalten grosses Misstrauen und die Motive werden ernsthaft in Frage gestellt.

Dies bedeutet, dass in multikulturellen Organisationen, Partnerschaften und Allianzen Vertrauen je nach Kultur so unterschiedlich definiert wird, dass es wenig Sinn macht, diesen Begriff universell zu verwenden. Und es macht noch weniger Sinn, Beziehungen auf der Basis der jeweiligen eigenen Definition aufzubauen. Anwälte, Schiedsrichter und Vermittler werden täglich mit Parteien konfrontiert, die – nicht ganz überraschend – das Vertrauen ineinander verloren haben.

Genau wie im Falle von Vertrauen beruhen Konzepte wie Respekt, Toleranz und Ethik auf unterschiedlichen, von den zugrunde liegenden Deep Cultures abhängigen Definitionen. Interessanterweise müssen die Deep Cultures aus analytischer Sicht nicht zwangsläufig allzu weit auseinander liegen, wenn Misstrauen oder Konflikte bestehen. Je ähnlicher zwei Kulturen sind, desto mehr geht man davon aus, dass die Erwartungen gegenseitig erfüllt werden; die Frustration und Konflikte sind dann umso heftiger, wenn dies nicht der Fall ist.

Nichtkulturell bedingte Merkmale

Im Alltag wird das Phänomen der Deep Culture noch angereichert durch Wechselwirkungen mit den nichtkulturellen Phänomenen. Das Verhalten eines Menschen wird nicht nur durch seine Kultur, sondern auch durch seine Denkpräferenzen und seine Persönlichkeitsstruktur bedingt – nämlich durch die Verhaltensmuster, welche innerhalb derselben Kultur von Person zu Person verschieden sind und welche einen direkten Einfluss auf die Dynamik ihrer zwischenmenschlichen Interaktionen haben. Demzufolge muss bei einer Konfliktanalyse oder bei Assessments festgestellt werden, welche Verhaltensmerkmale kulturell bedingt sind und welche nicht.

Dies ist sowohl bei Konflikten von grundlegender Bedeutung, um die richtigen Ursachen und die richtigen Lösungen zu finden, als auch bei Assessments, um eine Person im richtigen organisatorischen Umfeld zu platzieren. Wie bei den Deep-Culture-Dimensionen gibt es diverse Instrumente, um zwischen den primären Denkpräferenzen und der Persönlichkeitsstruktur zu unterscheiden. Wesentlich ist, die Dynamik, die aus der Interaktion zwischen den drei Phänomenen entsteht, zu verstehen und darzulegen.

Es gibt einen weiteren Grund, die kulturellen von den nichtkulturellen Faktoren zu trennen: Die Denkpräferenzen und die Persönlichkeitsstruktur einer Person sind grösstenteils unveränderbar; ihre Kultur jedoch bleibt formbar und ergänzbar. Die Deep-Culture-Ebene ist der Ort, wo Persönlichkeitsentwicklung und Konfliktlösungen wirklich stattfinden können; es ist die Ebene, wo eine Kompensation für Persönlichkeitsmerkmale, die praktisch unabänderbar sind, möglich ist.
Durch die angewandte Deep Culture kann das kulturelle Coaching und Alignment von Personen, Beziehungen und Organisationen, die willens sind, viel effektiver ausgestaltet werden als bei vielen anderen Ansätzen.

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Stuart Robinson ist Spezialist für interkulturelle Fragen und Konflikte. Der Brite gründete 1991 das 5C Centre für Cross-Cultural Conflict Conciliation AG in Zug.
Kontakt: www.5cc.ch oder 
www.srobinson.ch

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