Arbeitnehmer von morgen sind flexibler und tragen mehr Verantwortung
Auch wenn die Arbeitsstrukturen – Arbeitszeit, -ort und -organisation – zunehmend aufweichen, dürfte es nicht zu einer radikalen Flexibilisierung mit Lebensqualitätsverlust kommen. Im Gegenteil: Die Mehrheit der Schweizer glaubt, dass sich die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit in Zukunft verbessern werden.
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Im privilegierten Mitteleuropa lebt der heutige Durchschnittsmensch etwa 700 000 Stunden. Höchstens 10 Prozent dieses Lebenszeitbudgets verbringt er mit beruflicher Arbeit. Dieser Anteil entspricht einer Vollzeitanstellung in der Dauer von etwa vierzig Jahren.
Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts widmete der grösste Teil der Bevölkerung mindestens die Hälfte des Lebens dem Beruf. Seither hat sich das Verhältnis zwischen der Berufszeit und der Zeit ausserhalb des Berufs in einem fast unglaublichen Ausmass verschoben. Diese Entwicklung verdanken wir vor allem der kontinuierlichen Verlängerung der statistischen Lebenszeit sowie zum kleineren Teil auch der erheblichen Verkürzung der Arbeitszeit.
Zukünftig wird die Lebensarbeitszeit durch die Erhöhung des Pensionsalters leicht ansteigen. Allerdings erhöht sich auch die Lebenserwartung, sodass der Anteil der Berufszeit die Zehn-Prozent-Marke nicht überschreiten wird.
In diesem Zehntel der Lebenszeit müssen wir die finanzielle Wertschöpfung für die restlichen neun Zehntel des Lebens erarbeiten. Dies ist wohl auch der Hauptgrund dafür, dass wir diesem objektiv kleinen beruflichen Teil des Lebens subjektiv eine so grosse Bedeutung zuschreiben.
Flexicurity: der Wunsch nach Flexibilität, gepaart mit Sicherheit
Mindestens 90 Prozent der Lebenszeit werden ausserhalb des Berufs gestaltet. Dieser riesengrosse Teil unseres Zeitbudgets besteht selbstverständlich nicht nur aus Freizeit. Immerhin schlafen wir ja auch fast ein Drittel unseres Lebens und haben ausserhalb des Berufes noch viele weitere wichtige Dinge zu tun, etwa Partnerschaften pflegen, Kinder erziehen, einkaufen, kochen, waschen, putzen.
Das zeitliche Zentrum unseres ausserberuflichen Lebens sind unsere Wohnräume, in denen wir beachtliche 60 Prozent unserer Lebenszeit verbringen, die Hälfte davon im Bett. In der häuslichen Wachzeit steht für viele das familiäre Beziehungsleben im Mittelpunkt.
Der überwiegende Teil unserer Freizeit ist Konsumzeit. Immer wichtiger wird der Medienkonsum – von der Unterhaltungselektronik bis hin zum E-Commerce. So widmen wir etwa dem Fernsehen im gesamten Lebensverlauf mehr Zeit als der beruflichen Arbeit.
Das positive Image der beruflichen Arbeit ist ein sehr junges Phänomen. Während des Grossteils der menschlichen Geschichte hielt sich bei der Masse die Begeisterung für die Arbeit in überschaubaren Grenzen, wie ein Blick auf die Sprachgeschichte zeigt: Im Mittelhochdeutschen war «arebeit» das Wort für Mühsal. Das lateinische Verb «laborare» bedeutete ursprünglich leiden. In der Bibel ist Arbeit die Strafe Gottes für den Sündenfall. Bis in die Neuzeit hatte Arbeit keine Strahlkraft. Heute leistet die Qualität der beruflichen Arbeit jedoch einen wesentlichen Beitrag für die Qualität des gesamten Lebens.
Geld allein macht nicht glücklich. Aber zu wenig Geld macht unglücklich. Lebensstandard ist die wichtigste Grundlage für Lebensqualität. Kein Wunder, dass bei repräsentativen Befragungen über die Kriterien für ein gutes Arbeitsleben das Einkommen mit grossem Abstand an der Spitze steht. Erst beim oberen Einkommenszehntel sinkt die Bedeutung des Geldes zugunsten immaterieller Werte. Aber auch die restlichen 90 Prozent arbeiten nicht nur für die monatliche Überweisung auf das Gehaltskonto. Der zukunftsfähige Mix von subjektiv befriedigenden und objektiv leistungsfördernden Faktoren für das Arbeitsplatz-Profil von morgen lässt sich folgendermassen zusammenfassen:
- Gutes Einkommen und passende Arbeitszeiten fördern den Fleiss.
- Abwechslung und selbständige Arbeitseinteilung fördern die Zufriedenheit.
- Anerkennung und Wertschätzung fördern Erfolgserlebnisse.
- Karrierechancen und kollegiale Kommunikation fördern die Motivation.
- Mitbestimmung und Weiterbildung fördern die Identifikation mit dem Betrieb.
Die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit wird wesentlich von den zukünftigen Ausprägungsformen der so genannten Flexibilisierung der Arbeitswelt beeinflusst. Die Zukunftspessimisten warnen immer wieder vor dem drohenden Verlust der Lebensqualität durch eine radikale Flexibilisierung und Deregulierung des Arbeitslebens. Deutlich wahrscheinlicher ist es, dass auch in Zukunft die Arbeitsorganisation, die Arbeitszeiten und die Arbeitsorte in Form von Kompromissen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen vereinbart werden. Denn die grosse Mehrheit der Menschen möchte Flexicurity, also Flexibilität, gepaart mit Sicherheit.
Arbeitsorganisation: Organisatorisch betrachtet geht es bei der Flexibilisierung um den weiteren Abbau starrer Arbeitsstrukturen. Für eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern treten Zielvereinbarungen und die damit verbundene Eigenverantwortung und Selbstkontrolle an die Stelle der alten hierarchischen Kontrolle durch betriebliches Aufsichtspersonal. Dadurch entsteht eine grössere Autonomie bei der Arbeitsorganisation. Gleichzeitig wird damit aber auch die Verantwortung für das Arbeitsergebnis stärker auf die Arbeitnehmer übertragen. Die so genannte unselbständige Erwerbstätigkeit, die auch zukünftig die dominante Grösse am Arbeitsmarkt bleiben wird, wird also im Innenverhältnis immer selbständiger. Die Anzahl der selbständig Erwerbstätigen im rechtlichen Sinne ist im vergangenen Jahrzehnt nur marginal gewachsen, könnte sich jedoch in mittelfristiger Perspektive vor allem in Form der so genannten Ein-Personen-Unternehmen leicht erhöhen.
Die Auszeiten für Betreuung oder Bildung nehmen zu
Arbeitszeit: Flexibler als heute werden zukünftig vor allem die Tagesarbeitszeit und die Wochenarbeitszeit. Denn Dienstleistungen werden immer häufiger auch ausserhalb der alten Regelarbeitszeit angeboten werden.
Im Bereich der Lebensarbeitszeit werden Sabbaticals und Karenzzeiten für Betreuung oder Bildung immer häufiger die Berufslaufbahnen unterbrechen. Für grössere Veränderungen bei der Jahresarbeitszeit spricht derzeit aber wenig. Eine Verlängerung der Urlaubszeiten ist nicht in Sicht. Für die Durchrechnung der Arbeitszeit über längere Zeiträume gibt es in den meisten europäischen Ländern schon heute viele Möglichkeiten.
Arbeitsort: Internet und Telekommunikation ermöglichen für immer mehr Menschen auch eine räumliche Flexibilisierung, nämlich die Kombination von Wohnen und Beruf in den eigenen vier Wänden; frei nach dem Motto: «My home is my office.» Daheim ist manches möglich, was im Büro oft schwierig ist: konzentriertes und ungestörtes Arbeiten, freiere Zeiteinteilung und sinnvolle Nutzung von Arbeitspausen. Bei diesem Zukunftsmodell wird der mit sozialen Kontakten verbundene Teil des Jobs an einem (mobilen) Arbeitsplatz in der Firma ausgeübt und der individuelle Teil des Berufes online am Schreibtisch zu Hause. Dadurch reduzieren sich auch die Arbeitswege. Diese neue Freiheit wird jedoch schnell zur Falle, wenn die Kompetenzen für die Trennung von Berufs- und Privatleben nicht vorhanden sind. Die berufliche Arbeit kann dann die Betroffenen bis in ihr Schlafzimmer verfolgen und so der Gesundheit schaden.
Schweizer sind optimistischer als Deutsche und Österreicher
Das Thema der Vereinbarkeit ist vor allem auch darauf zurückzuführen, dass Frauen in den vergangenen vier Jahrzehnten in den meisten europäischen Ländern im Bereich der Bildung eine gigantische Aufholjagd hingelegt haben. Anfang der 1970er-Jahre hatten noch etwa drei Fünftel der Frauen nur einen Pflichtschulabschluss, heute sind dies höchstens 20 Prozent. Bei den Abschlüssen an höheren Schulen, Hochschulen und Universitäten haben die jungen Frauen die jungen Männer bereits überholt. Diese Erfolgsstory setzt sich jedoch bisher nur sehr begrenzt in den Karrierechancen und in der Höhe des Gehalts fort. Für die Zukunft glauben jedoch 75 Prozent der Schweizer und 60 Prozent der Deutschen, dass die immer besser qualifizierten Frauen verstärkt Führungspositionen übernehmen werden. Nur die Österreicher (48 Prozent) sind skeptisch.
Für die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit hat sich in unserer Umgangssprache der Begriff Work-Life-Balance eingebürgert. Genau genommen ist dieser Begriff falsch. Denn er suggeriert, dass es um eine Balance zwischen Beruf und Leben geht. In Wahrheit ist der Beruf selbstverständlich ein Teil des Lebens und es geht um möglichst hohe Lebensqualität in allen Bereichen unserer Existenz.
Werden sich die Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit zukünftig verbessern? In Deutschland glauben dies nur 41 Prozent der Menschen und in Österreich gar nur 31 Prozent. Die Schweizer entscheiden sich jedoch mit grosser Mehrheit (64 Prozent) für ein klares Ja. Mit diesem positiven Blick in die Zukunft sind die Eidgenossen vielleicht die Trendsetter für eine ausbalancierte Qualität des Lebens.