Argumente aus der Forschung verleihen HR-Anliegen mehr Gewicht
Sie leben in unterschiedlichen Welten, heisst es manchmal von Wissenschaftern und Praktikern. Stimmt nicht, sagen HR-Experten, die im Berufsalltag mit Universitäten und Fachhochschulen zusammenarbeiten und sich auch an Forschungsprojekten beteiligen.
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Fast 30 000 Mitarbeitende aus 80 Nationen und auf 150 Berufsgruppen aufgeteilt halten an sieben Tagen die Woche einen 24-Stunden-Betrieb aufrecht – die SBB ist auch im Personalmanagement ein Schwergewicht. Eine solche Grösse und Komplexität stellt HR-Leitende vor Herausforderungen, für eine andere Berufsgruppe ist sie ein Eldorado: Wissenschafter sehen in einem Betrieb wie der SBB einen riesigen Fundus an Datenmaterial. Ein Glücksfall, wenn sie die Daten für ihre Forschung nutzen können. Ein Glückfall auch für die SBB, wenn die Wissenschafter das tun. Denn: «Eine solche Zusammenarbeit ist immer eine Win-win-Situation», sagt Markus Jordi, HR-Leiter und Mitglied der Konzernleitung der SBB.
Studenten schauen Profis auf die Finger
Markus Jordi weiss, wovon er spricht. Die SBB arbeitet nicht nur im technischen Bereich mit verschiedensten Lehrstühlen von Unis und Fachhochschulen zusammen, sondern auch im HR-Management. Die Zusammenarbeit der SBB-HR-Abteilung mit dem Institut für Organisation und Personal der Universität Bern ist laut Jordi sogar institutionalisiert. «Als hochkomplexer Betrieb ist ein enger Kontakt zur Wissenschaft und Lehre für uns Pflicht», sagt Jordi. Das betrachtet er als Vorteil. «Wir profitieren nur von diesem Austausch.»
Konkret heisst das, die SBB organisiert zusammen mit Unis Netzwerkveranstaltungen und Praxisgemeinschaften und ermöglicht Studierenden Praktika oder unterstützt sie in ihrer Masterarbeit. «Wenn wir eine klare Fragestellung haben, suchen wir auch aktiv nach Studierenden, die dem Thema ihre Masterarbeit widmen», sagt Jordi. Forschung auf Auftrag sozusagen. «Vor kurzem haben wir beispielsweise in Zusammenarbeit mit der Uni Bern unser HR-Geschäftsmodell überprüfen lassen.» Grosse Überraschungen habe es keine gegeben, aber «Geahntes hat sich bestätigt», sagt Jordi. Jetzt werde konkret an den Schwachstellen gearbeitet.
Parallel dazu läuft das Forschungsprojekt «Gesund und fit im Industriewerk SBB». Die Untersuchung der Fachhochschule Nordwestschweiz überprüft die Arbeit der SBB im Gesundheitsbereich. Wie wichtig solche wissenschaftlichen Arbeiten sind, erklärt Jordi anhand eines Beispiels: «In den letzten Jahren konnten dank systematischer Reintegrationsarbeiten und eines wissenschaftlich basierten betrieblichen Gesundheitsmanagements die Kosten für Krankheit, Unfall und Reintegra-tion substanziell gesenkt werden.»
Erstanwender von neuen Tools: Pioniere, nicht Versuchskaninchen
Neben der SBB gibt es noch andere Betriebe, die von der Forschung lernen. Auch beim HR-Team der Helvetia-Gruppe am Hauptsitz in St. Gallen wird gerade an einem Konzept gearbeitet, um Erkenntnisse aus einem kürzlich zusammen mit der Universität St. Gallen (HSG) abgeschlossenen Forschungsprojekt zum Thema Innovation und Führung umzusetzen. Ideen für dieses Konzept hat die Forschungsgruppe mitgeliefert. «Wir stehen in sehr engem Kontakt mit der HSG», sagt Markus Isenrich, verantwortlich für die internationalen HR-Fachaufgaben bei der Helvetia. «Der Kontakt ist oft informell und beruht auch auf der geringen räumlichen Distanz – wir sind auf dem gleichen Gelände wie die Uni.» Isenrich gibt zu, dass der Kontakt zu weiter entfernten Universitäten und Fachhochschulen zwar besteht, aber schwieriger zu pflegen ist. «Obwohl die Hochschulen sehr bemüht sind und oft auf uns zukommen.»
Durch die Nähe zur HSG werden bei der Helvetia immer wieder Unidozenten für die interne Weiterbildung beigezogen, und Topkader holen sich Wissen von Professoren. «Durch den intensiven Austausch sind wir schon einige Male zu Erstanwendern von neuen Tools oder Lehrsätzen geworden. Damit sind wir andern Unternehmen einen Schritt voraus», sagt Isenrich. Als Versuchskaninchen sieht er sein Unternehmen trotzdem nicht. «Die Werkzeuge, die wir einführen, sind ausgereift und oft schon publiziert, da besteht für uns nur ein sehr kleines Risiko.»
Viel gewagter findet Isenrich, wenn HR-Praktiker sich nur am Rande für die Forschung interessieren. «Die Forschung macht auch auf Themen aufmerksam, die in der Praxis noch nicht relevant sind, in einigen Jahren aber zentral sein werden. Der demographische Wandel ist ein solches Beispiel.» Wer sich nicht frühzeitig mit solchen Themen auseinandersetze, sei im wichtigen Moment nicht vorbereitet. Zudem ist die Forschung für Isenrich wichtig, weil sie den Dialog anregt. «Den gegenwärtigen Wandel, dass Gewinn nicht mehr das oberste Ziel und Mitarbeiter nicht nur reine Ertragsgenerierer sind, haben die Unis erkannt, aufgenommen und propagiert.»
Bis Studienergebnisse in der Praxis angewendet werden, dauert es
Die Wissenschaft als Zukunftsweiser – vielleicht entsteht so der Eindruck, Wissenschaft und Praxis bewegen sich in anderen Welten. Daniel Abatemarco widerspricht der These. «Die HR-Forschung ist praxisnah. Es ist eher eine Ressourcenfrage, ob ein Unternehmen die Kapazität und das Budget hat, am Puls der Forschung zu bleiben und sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen.» Abatemarco leitet die HR-Abteilung von Hexagon, einem Hightechunternehmen in der Messindustrie, und weiss um die Herausforderungen des Berufsalltags, wo aktuelle Forschungsergebnisse oder neue Studien meist nicht gerade die dringendsten Probleme sind. Jedoch hat Abatemarco privat ein grosses Interesse an der Wissenschaft: Er arbeitet zurzeit an seiner zweiten Dissertation im HR-Bereich. «Es geht um Change Management und die Rolle von HR bei Firmenakquisitionen», sagt Abatemarco.
Motiviert zu dieser Arbeit, die er an einer Universität in London einreicht, hat ihn speziell das Change Management bei Post-Merger-Prozessen. Laut Abatemarco könnte das Human Resources Management gerade da wertvolle Beiträge zur erfolgreichen Integration liefern. «Meist werden in dieser Phase Soft Factors zu wenig beachtet, die im Gegensatz zu rechtlichen, steuertechnischen und finanziellen Fragen in der Literatur bisher vernachlässigt wurden.» Diese Lücke will er nun schliessen.
Wie lange es dauert, bis die Ergebnisse von solchen Studien in der Praxis angewendet werden, sei schwierig zu beantworten. «Im HR-Bereich dauert es aber eher lang, weil der Innovationsdruck noch nicht so stark ist.» Andere Fächer seien da fortschrittlicher, auch in der Zusammenarbeit zwischen Forschung und Praxis: «Der Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis ist in der Technologie und im Marketing besser – dort werden schon vermehrt und strategischer Projekte, Plattformen und Netzwerke geschaffen.» HR-Leuten empfiehlt er darum, sich universitären Netzwerken anzuschliessen, den Dialog mit Wissenschaftern zu suchen und sich durch Fachzeitschriften und Bücher über die Forschung zu informieren.
Trendwörter: Nicht immer haben neue Begriffe auch neue Inhalte
Dass die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis in anderen Gebieten fortgeschrittener ist, bestätigt auch Stefan Heer, Organisational Development Specialist bei Sonova, einem Hersteller von hoch entwickelten Hörsystemen. Heer hat einige Jahre als Ingenieur gearbeitet, bevor er den Sprung zum HR machte. Zurzeit absolviert er an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) berufsbegleitend ein Studium in Arbeits- und Organisationspsychologie. «In unserer Produkteentwicklung sind die Grenzen zwischen Forschung und Praxis fliessender, der Austausch ist breiter verankert», sagt er. Heer baut auf die HR-Forschung, die für ihn wichtig ist im Berufsalltag. «Sie liefert mir wichtige Argumente und Glaubwürdigkeit, wenn es darum geht, HR-Anliegen bei den Geschäftsführern durchzusetzen.»
Wichtig bei solchen Prozessen seien die Verständlichkeit und die Nachvollziehbarkeit des Themas. Dafür sind nach Heers Meinung die Wissenschaft und die HR-Profis gemeinsam zuständig. «Die Aufgabe der Forschung ist es, Themen aufzugreifen; meine Aufgabe im Betrieb ist es, diese Themen anschlussfähig zu vermitteln.» Viele Forschungsthemen seien komplex und würden eine tiefe Auseinandersetzung erfordern. «Das liegt aber in der Natur der Sache und kann von der Wissenschaft nicht verhindert werden.» Sei die Forschung nämlich zu vereinfacht, rutsche sie ins Populärwissenschaftliche ab. «Das würde das Fach nicht weiterbringen», ist Heer überzeugt.
Im Moment besteht laut Heer in der Forschung die Tendenz nach Modewörtern. «Unter Trendwörtern wie Innovation und Talent Management wird immer wieder ähnlicher Inhalt gut verpackt und verkauft.» Heer fehlen die niederschwelligen Themen in der Forschung, die leisen Töne, individuelle psychologische Mechanismen, die zwar subtil sind, jedoch eine grosse Wirkung haben. Die Forschung sollte nicht beim theoretischen Beschreiben der Trends aufhören, sondern auf die Bedingungen für individuelle Verhaltensänderungen abzielen. «Das Schlimmste ist, wenn alle über Innovation reden, aber niemand sein Verhalten ändert.»
Einen zukunftsweisenden Ansatz, der sowohl die theoretische Fundierung als auch Verhaltensänderungen im Fokus hat, verfolgen laut Heer die angewandten Wissenschaften. Sie positionieren sich an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis und bewirken so gleichzeitig theoretische Erkenntnisse und praktische Veränderungen.
Ebenfalls erstrebenswert würde Heer Inputs finden, wie die bekannten Themen zusammenhängen. Keine einfachen Fragen. Aber: «Es ist klar, dass uns die ganzen psychologischen Komponenten noch kompliziert vorkommen. Mit 150 Jahren handelt es sich bei der Psychologie ja auch um eine junge Wissenschaft. Physik wird schon seit 2000 Jahren erforscht», sagt Heer.
Weiterentwicklung des HR durch wissenschaftlich fundierte Arbeit
Auch Markus Jordi von der SBB und Markus Isenrich von der Helvetia haben Wunschthemen für die Forschung. «Entlöhnungsmodelle werden in der Praxis noch zu kontrovers diskutiert. Die wissenschaftliche Aufarbeitung könnte der HR-Branche dienen», sagt Jordi. Isenrich schlägt eine ähnliche Richtung vor: «Sinn und Unsinn des Leistungslohns, das würde mich sehr interessieren. Aber auch Modelle für den Umgang mit der starken Belastung von Kaderkräften wären nützlich.»
An Themen mangelt es nicht. Viele Institute und Lehrstühle von Unis und Fachhochschulen forschen im HR-Bereich. Das war nicht immer so, wie Markus Jordi sagt. «HR wurde an den Unis zu lange zu stiefmütterlich behandelt. Zu lange wurde in der Praxis nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt.» Mit der Komplexität der heutigen Fragestellungen sei HR keine reine Praktikerdomäne mehr. Nur durch gezielte, seriöse und wissenschaftlich fundierte Arbeit könne sich der Beruf weiterentwickeln, sagt Jordi.
Er ist folglich auch ein Befürworter der laufenden Akademisierung des Berufs. Eine Gefahr sieht er aber: «Ich beobachte, dass sich vereinzelte HR-Praktiker und -Praktikerinnen mit Fachbegriffen und leeren Worthülsen ausdrücken.» Auf keinen Fall dürfe sich HR in einen Elfenbeinturm zurückziehen, denn es gehe schliesslich immer noch um Menschen. «Die grosse Kunst ist es, die Übersetzung zu schaffen; den wissenschaftlichen Hintergrund so zu kommunizieren, dass uns alle unsere Gesprächspartner verstehen – vom Geschäftsführer bis zum Mitarbeitenden.»